Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Fast nackt - Mein abenteuerlicher Versuch, ethisch korrekt zu leben
Fast nackt - Mein abenteuerlicher Versuch, ethisch korrekt zu leben
Fast nackt - Mein abenteuerlicher Versuch, ethisch korrekt zu leben
eBook348 Seiten4 Stunden

Fast nackt - Mein abenteuerlicher Versuch, ethisch korrekt zu leben

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Ist es möglich, ein ganzes Jahr lang komplett umweltfreundlich, ökologisch und sozial engagiert zu leben? Diese Frage stellt sich der englische Journalist Leo Hickman in diesem herrlich humorvollen Erfahrungsbericht. Er beschließt, sich auf das Experiment einzulassen und holt auch Ehefrau Jane und seine kleine Tochter mit ins Boot. Doch schnell muss die Familie einsehen, dass ein durchweg nachhaltiger Lebensstil nicht so einfach durchzuhalten ist: scheinbare Kleinigkeiten wie Kosmetikprodukte und Putzmittel werden schnell zum Streitthema. Selbstironisch und informativ berichtet Hickman über einen abenteuerlichen Selbstversuch, der zum Nachdenken anregt.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum17. Jan. 2022
ISBN9788728013328
Fast nackt - Mein abenteuerlicher Versuch, ethisch korrekt zu leben

Ähnlich wie Fast nackt - Mein abenteuerlicher Versuch, ethisch korrekt zu leben

Ähnliche E-Books

Persönliche Entwicklung für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Fast nackt - Mein abenteuerlicher Versuch, ethisch korrekt zu leben

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Fast nackt - Mein abenteuerlicher Versuch, ethisch korrekt zu leben - Leo Hickman

    Leo Hickman

    Fast nackt - Mein abenteuerlicher Versuch, ethisch korrekt zu leben

    Übersezt von Theda Krohm-Linke

    Saga

    Fast nackt - Mein abenteuerlicher Versuch, ethisch korrekt zu leben

    Übersezt von Theda Krohm-Linke

    Titel der Originalausgabe: A life stripped bare

    Originalsprache: Englisch

    Coverbild/Illustration: Shutterstock

    Copyright © 2008, 2021 Leo Hickman und SAGA Egmont

    Alle Rechte vorbehalten

    ISBN: 9788728013328

    1. E-Book-Ausgabe

    Format: EPUB 3.0

    Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

    www.sagaegmont.com

    Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

    Vorwort

    Man hat es mir einmal als den Zuckererbsen-Moment beschrieben: das Schuldgefühl, das einem sagt, man tue etwas Schlechtes, wenn man eine kleine Packung Zuckererbsen kauft, die per Luftfracht von einem Feld in Kenia in das Supermarktregal, vor dem man steht, gekommen ist. Aber dieser Moment geht rasch vorbei, wenn man feststellt, oh verdammt, man hat nur noch eine halbe Stunde Zeit, um einzukaufen, nach Hause zu fahren, sich zu duschen und etwas Eindrucksvolles auf den Tisch zu bringen, bevor die Schwiegereltern zum Abendessen kommen. Bedenken über »Lebensmittelkilometer«, Ausbeutung billiger Arbeitskräfte und unnötig aufwändige Plastikverpackungen können bis morgen warten.

    Aber morgen wird es nie. Jedenfalls nicht bei mir zu Hause. Die guten Absichten und die Sorge um die Probleme der Welt sind zwar da, aber wenn ich meine Gewohnheiten verändern soll, um danach zu leben, dann sind sie weitaus weniger wichtig als Wäsche waschen, zur Arbeit fahren, Rechnungen bezahlen, Windeln wechseln, einkaufen gehen, ein Bier trinken und all die anderen Dinge, die meinen Alltag bestimmen. Seit einigen Jahren plagen mich zwar immer heftigere Schuldgefühle, aber aus diesen das entsprechende Handeln zu entwickeln, gelingt mir offenbar nicht.

    Irgendwann in unserem Leben stehen wir alle vor großen Fragen (bei mir war das der Fall, als wir unser erstes Kind bekamen): Wer bin ich? Was mache ich mit meinem Leben? War das schon alles? Bin ich ein guter Mensch? Und was ist es, habe ich mich gefragt, das mich davon abhält, mich aus dem Sessel zu erheben und etwas zu tun – wie unbedeutend auch immer – das etwas Positives in der Welt bewirkt?

    Natürlich wissen wir, dass unser westlicher Lebensstil auf uns, unsere Nachbarn und die Umwelt negative Auswirkungen hat, aber wir verschließen lieber die Augen davor. Jeden Tag lese ich über Schwermetallablagerungen in Lachs, von Deos mit Krebs erregenden Inhaltsstoffen, von der Zunahme sozialer Ungleichheit oder von übervollen Müllkippen. Fassungslos stehe ich vor den traurigen Fakten unseres verschwenderischen und egoistischen Lebensstils: Weltweit werden jährlich 33 Milliarden US-Dollar für Make-up und Parfüm ausgegeben, wo schon 29 Milliarden US-Dollar pro Jahr ausreichen würden, um den Hunger zu besiegen und sauberes Wasser für alle zu garantieren; oder dass es in den USA mehr Privatautos gibt als Menschen, die einen Führerschein besitzen; oder dass die Hälfte der Weltbevölkerung vom Gegenwert von zwei Dollar am Tag lebt – weniger als ich auf dem Weg ins Büro für einen Kaffee ausgebe.

    Aber ich rufe lieber über Teletext die Fußballergebnisse ab oder gehe mit meiner Tochter im Park spazieren, als zu lange über dieses hässliche, negative Zeug nachzugrübeln. Und außerdem, was kann ich schon tun? Deshalb gehen wir doch wählen.

    Das war der Hintergrund, als beim Guardian, wo ich als Journalist arbeite, folgende Herausforderung auf mich zukam: Konnte ich – jemand, der ein ganz normales, komfortables Leben in einem Londoner Außenbezirk führt – meine täglichen Gewohnheiten als Konsument zurückschrauben und versuchen, ihre tatsächliche Auswirkung zu verstehen? Konnte ich ein paar Monate lang ein »ethischeres« Leben führen, indem ich behutsamer mit den Ressourcen der Erde umging und für mich selber und meine Umwelt eine positivere Kraft wurde? Konnte ich mich der kleinen, jedoch ständig wachsenden Gemeinschaft derer anschließen, die bewusster und weniger verschwenderisch leben wollten? Den Menschen, die laut dem ethischen Verbraucherbericht 2004 den Konsum von Bio-Lebensmitteln über die Milliarden-Pfund-Grenze angehoben hatten, nachdem es 1999 erst 390 Millionen Pfund gewesen waren, und die 2003 24,7 Milliarden Pfund für ethische Einkäufe ausgegeben hatten?

    Hier ging es nicht ums Aussteigen und um ein Leben als Eremit in einer Höhle im schottischen Hochland. Ich bräuchte kein Manifest an meinen Kühlschrank zu hängen, um ständig daran erinnert zu werden. Es steckte einfach nur die Idee dahinter, zu sehen, wohin mich die Reise führen würde. Und ich konnte mich ganz sicher nicht wie ein Weight-Watchers-Champion auf den Tag freuen, an dem ich stolz den Bio-Champagner öffnete und erklärte: »Ich habe es geschafft. Mein Leben ist völlig frei von Schuld.«

    Ein Problem erkannte ich jedoch sofort. Ich würde Hilfe brauchen, jemanden, der mich in meinen schwachen, unethischen Hintern trat, wenn ich wankelmütig wurde und aufgeben wollte. Allerdings wollte ich auch nicht, dass mir irgendein Alt-Hippie, der nur Tofu-Burger aß und ständig mit seinem chi in Kontakt war, sagte, was ich tun sollte. Dazu war ich viel zu zynisch. Wenn ich dieses Experiment wagen sollte, wollte ich Profis zur Seite haben, die mir begründet – und am besten noch wissenschaftlich untermauert – erklären konnten, warum ich gewisse Änderungen an meinem Leben vornehmen sollte.

    Nach eingehender Überlegung kam ich zu dem Schluss, dass ich in drei wichtigen Bereichen Hilfe brauchte: bei meiner Ernährung, bei den Umweltschäden, für die ich verantwortlich bin, und bei dem Wissen über die Macht, die große Konzerne und die Regierung über uns haben.

    Daraufhin meldeten sich drei Leute: Renée Elliott, Aufsichtsratsmitglied der Soil Association und Gründerin der Planet Organic-Bioläden in London; Mike Childs, Marketingleiter bei Friends of the Earth, und Hannah Berry, die für das Verbrauchermagazin Ethical Consumer schreibt und recherchiert. Bei ihnen hoffte ich die Hilfe zu finden, die ich brauchte.

    Eine weitere – und wahrscheinlich schwierigere – Hürde stellte meine Familie dar. Wenn ich nicht schon nach dem ersten Wochenende wieder aufgeben wollte, mussten meine Frau Jane und unsere kleine Tochter Esme auch mitmachen. Ich muss leider sagen, dass es bei Jane einige Zeit dauerte, bis ich sie überzeugt hatte, vor allem nachdem ich ihr erklärt hatte, dass das Experiment mit dem Besuch der drei »ethischen Berater« beginnen sollte, die uns zahlreiche Fragen über unseren persönlichen Lebensstil stellen würden. Sie meinte, allein der Gedanke daran, dass jemand ihre Küchenschränke durchwühlen oder fragen würde, welches Klopapier wir benutzten, sei ihr zuwider. Ich stimmte ihr zu, köderte sie jedoch mit dem Versprechen, dass das Experiment meine Aufmerksamkeit dafür wecken würde, wie das Haus sauber zu halten sei.

    Als Nächstes mussten wir definieren, was wir mit einem ethischeren Lebensstil meinten. Wir hatten nicht vor, irgendwelche diätähnlichen Regeln aufzustellen (»Wenn du jetzt zu McDonald’s gehst, enttäuschst du nicht nur mich, sondern auch dich selber.«), sondern es ging eher darum, Prioritäten zu setzen und schwierige Entscheidungen zu treffen: Ist Fair-Trade-Kaffee besser als Bio-Kaffee? Soll man nachts lieber Wegwerfwindeln verwenden? Sollte ich in jede Sammelbüchse eine Münze stecken? Was belastet die Umwelt weniger: Mit dem Bus oder mit dem Zug zur Arbeit zu fahren? Soll ich mein Kind Werbung im Fernsehen anschauen lassen?

    Ich wusste von Anfang an, dass ich die Meinung und die Erfahrungen anderer Leute hören wollte, die ein ähnliches Lebensexperiment gestartet hatten, deshalb stellte ich auf die Website des Guardian eine Bitte um Hilfe und machte mich daran, ein Web-Tagebuch zu schreiben, das später in eine Kolumne für die Zeitung umgewandelt werden sollte. Aber bald schon baten die

    Leute um weitere Informationen über meine persönlichen Umstände, weil sie mir detailliertere und maßgeschneiderte Ratschläge geben wollten. Deshalb versuchte ich auf einer eigenen Website so viele Fragen wie nur möglich zu beantworten:

    Einige von Ihnen haben mich um mehr Details über mein Leben gebeten, damit Sie mir Tipps und Empfehlungen geben können. Deshalb hier jetzt eine Liste, die so aufrichtig wie möglich, in der Reihenfolge jedoch zufällig ist:

    Ich esse Fleisch.

    Ich rauche nicht.

    Ich besitze kein Auto.

    Ich wohne mit meiner Partnerin Jane und unserer kleinen Tochter Esme in einem viktorianischen Reihenhaus mit drei Schlafzimmern.

    Ich heize mit Gas.

    Ich fahre mit dem Zug zur Arbeit (eine zwanzigminütige Fahrt).

    Ich treibe nicht regelmäßig Sport.

    Bei der Stromversorgung habe ich den grünen Tarif gewählt.

    Ich arbeite in einem Großraumbüro und sitze den ganzen Tag am Computer.

    Ich dusche einmal täglich.

    Ich sehe fern – relativ viel.

    Ich bevorzuge die Kombination Flugzeug/Mietwagen für Urlaube.

    Ich spende jeden Monat eine kleine Summe für wohltätige Zwecke über meine Gehaltsabrechnung, um das Finanzamt zu umgehen.

    Ich gehe wählen, wenn man mich dazu auffordert.

    Ich kaufe einmal alle zwei Wochen bei Sainsbury’s ein und fahre anschließend mit dem Taxi nach Hause.

    Alle paar Tage kaufe ich die Dinge des täglichen Bedarfs im Lebensmittelladen in meinem Stadtbezirk ein.

    Ich trinke ungefähr drei Flaschen Alkohol pro Woche.

    Ich bin politisch nicht aktiv.

    Ich esse keine Fertiggerichte, sondern versuche, alle Mahlzeiten frisch zuzubereiten.

    Ich kenne meine unmittelbaren Nachbarn, sonst aber niemanden in meiner Straße.

    Ich leiste keine ehrenamtliche Arbeit.

    Ich habe mein Konto bei einer großen Bank.

    Ich war mir absolut nicht sicher, was die Leute aus dieser Liste schließen würden – vermutlich, dass ich ein Angestellter mit einem vorhersagbaren und sicheren Leben in einem Londoner Außenbezirk war.

    Was auch immer die Leute dachten, viele erkannten ihr eigenes Leben in meiner Checkliste wieder. Ich erhielt jedenfalls über sechshundert Briefe und E-Mails aus der ganzen Welt von Menschen, die mir erzählten, dass sie sich ebenfalls träge und schuldig fühlten, weil sie nicht in der Lage waren, ein ethischeres Leben zu führen. Manche hatten das Gefühl, erfolgreich eine Wende vollzogen zu haben, wohingegen andere glaubten, gescheitert zu sein oder versagt zu haben. Mir waren alle Zuschriften wichtig, und ob sie nun zustimmend, ablehnend oder auch beleidigend waren, letztendlich beschleunigten sie meinen Wandel. In diesem Buch erzähle ich nun, wie aus meinem Zuckererbsen-Moment ein Zuckererbsen-Drehmoment wurde.

    1

    Jeder weiß, dass sich in den USA die zum Tode Verurteilten vor der Hinrichtung ihre Henkersmahlzeit aussuchen dürfen. Nun könnte man glauben, dass ihnen angesichts des bevorstehenden Ereignisses jeder Bissen im Hals stecken bleibt, aber tatsächlich nutzen viele die Gelegenheit richtig aus. Warum auch nicht? Wenn man sich über Cholesterin und Fettröllchen keine Gedanken mehr zu machen braucht, schadet es ja niemandem, so viel Salz, Fett, Zucker, rotes Fleisch und Kohlehydrate in sich hinein zu stopfen, wie man hinunter bringt.

    Am Abend bevor die ethischen Berater eintreffen, frage ich Jane, ob auch wir unser »letztes Abendmahl« zu uns nehmen sollen, bevor unser Leben auf den Kopf gestellt wird. Ich schlage vor, den Anlass mit einem Festessen aus Dingen zu begehen, von denen wir annehmen, dass man sie uns wegnimmt. Um uns Anregungen zu holen, schauen wir uns an, was die Delinquenten in der letzten Zeit als Henkersmahlzeit bestellt haben. Das ist vermutlich ein bisschen geschmacklos, aber wir fühlen uns schutzlos ausgeliefert. Nachdem wir ein wenig herumgesucht haben, steht fest: vor der Hinrichtung wird vor allem von einem geträumt – von Fast Food, und zwar in großen Mengen. Nehmen Sie zum Beispiel John Hooker, der am 25. März 2003 in Oklahoma hingerichtet wurde. Er wusste offenbar genau, was er wollte – schließlich hatte er viele Jahre Zeit gehabt, darüber nachzudenken.

    Drei Hühnerbrüste und drei Chicken Wings von Kentucky Fried Chicken

    Broccoli-Röschen mit Käsesauce

    Eine Ofenkartoffel mit saurer Sahne und Schnittlauch

    Zwei Bacon Cheeseburger

    Zwei Stücke Kirsch-Käsekuchen

    Zwei 7-Ups

    Von den fünfundsechzig Personen, die 2003 in den USA hingerichtet wurden, bestellten dreizehn Burger, zwölf Brathähnchen und neunzehn Pommes frites. Aus diesen letzten Mahlzeiten kann man vor allem lernen, dass sich Menschen in Zeiten höchster Angst Trostessen zuwenden. Und je größer die Angst, desto mehr isst man.

    Sie können unseren Stresslevel interpretieren, wie Sie wollen, aber wir haben vor der bevorstehenden ethischen Beratung so viel Angst, dass wir, statt uns wie üblich selber etwas zu kochen, die gesamte Speisekarte des indischen Takeaways rauf und runter bestellen und dann alles genüsslich aufessen, bis auf den Kopfsalat mit Zwiebeln, der gratis mitgeliefert wird und den wir nie anrühren.

    Während wir auf die Ankunft der Berater warten, überlegen wir krampfhaft, was wir ihnen zum Mittagessen anbieten sollen. Was isst denn eigentlich ein ethischer Berater? Sind sie Vegetarier, Veganer oder essen sie vielleicht nur Fallobst? Muss alles biologisch sein? Oder Fair Trade? Und was sie wohl trinken wollen?

    Jedesmal wenn Gäste kommen, entsteht Hektik. Man geht herum und schüttelt Kissen auf, überprüft, ob im Badezimmer alles sauber ist, gräbt Gästehandtücher und »Gästeseife« aus, schnüffelt, ob etwas Raumspray angebracht ist, räumt die Wäsche vom Wäschereck und lauter so paranoide Dinge. Normalerweise ist Jane anfälliger dafür als ich. Aber jetzt bin auch ich nervös.

    »Glaubst du, wir sollten die Fernbedienungen wegräumen?«, frage ich. »Wir wollen doch schließlich nicht, dass sie glauben, wir säßen den ganzen Tag vorm Fernseher. Es stimmt ja auch nicht.«

    »Nein, lass sie einfach liegen. Sie müssen ja ganz genau mitbekommen, wie wir leben.«

    »Was ist mit den Windelpaketen in Esmes Zimmer?«

    »Lass sie da stehen.«

    Ich sehe Jane an, dass sie ebenfalls nervös ist, aber entschlossen, sich so zu verhalten, als ob wir uns wegen nichts schämen müssten. Gerade wollen wir wieder anfangen zu debattieren, was wir ihnen denn nun zum Mittagessen anbieten sollen, da klingelt es.

    Hannah Berry kommt als Erste. Sie arbeitet für Ethical Consumer, ein Verbrauchermagazin, das alle zwei Monate erscheint und seine Leser über die »sozialen und umweltrelevanten Wirkungen von Produkten und die ethischen Voraussetzungen der Unternehmen, die sie produzieren« informiert. Auch Hannah kommt mir ein bisschen nervös vor, als sie sich in unserem Wohnzimmer hinsetzt. Angesichts ihres Kapuzenshirts, der kurzen Haare und der Jeans muss ich an Wohngemeinschaften, Katzen und Linsensuppe denken.

    Ich frage sie, ob sie Tee oder Kaffee möchte, wobei ich feststelle, dass ich damit beginne, die Details unseres Lebens der kritischen Analyse preiszugeben.

    »Kaffee, bitte«, erwidert Hannah.

    »Wenn Sie möchten, kann ich statt löslichem auch richtigen Kaffee kochen.« Aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, dass es uns Punkte bei Hannah einträgt, wenn wir frischen Kaffee anbieten. Jane runzelt die Stirn.

    Während ich in die Küche gehe, um den Wasserkessel aufzusetzen, spekuliere ich darüber, mit welchen Etiketten Hannah uns bereits versehen hat, einfach nur, weil sie unseren Namen, unsere Adresse, unsere Jobs und so weiter kennt: Mittelschicht, berufstätige Stadtmenschen, die wahrscheinlich bei Sainsbury’s einkaufen, einen Kombi fahren, mehrmals im Jahr Kurzurlaube machen, Pinot Grigio trinken und Cashew-Nüsse essen, während sie sich im Fernsehen Dokumentarfilme anschauen.

    Das Wasser kocht gerade, als Mike Childs eintrifft. Er ist der englische Marketingleiter von Friends of the Earth, einem internationalen Netzwerk von Umweltgruppen, und ist von seinem Wohnort in Yorkshire mit dem Zug nach London gekommen. Er trägt Jeans, T-Shirt und ein offenes grünes Hemd und hat das entspannte, sorglose Aussehen eines Umweltaktivisten. Ich stelle ihn Hannah vor und biete ihm etwas zu trinken an, und dann ziehe ich mich mit Jane in die Küche zurück, um zu überlegen, was wir ihnen denn nun zum Mittagessen anbieten wollen. Wir durchwühlen unsere Küchenschränke und den Kühlschrank auf der Suche nach etwas Tollem und Besonderem, das uns ethische Fleißpunkte einträgt, finden jedoch nur Dosen mit Baked Beans, Pastaschachteln und Gläser mit Mango Chutney (wobei ich schuldbewusst an das indische Curry von gestern Abend denke). Jane schimpft mit mir, weil ich das Essen nicht schon früher geplant habe. Ich stecke den Kopf durch die Wohnzimmertür und frage, ob sie irgendwelche Wünsche für das Mittagessen hätten, aber sie antworten nur freundlich und höflich (und nicht im Geringsten hilfreich), wir sollten einfach das zubereiten, was wir normalerweise auch essen würden. Also einigen wir uns auf einen Salade Niçoise: Kopfsalat, ein paar Eier, grüne Bohnen, eine Dose Thunfisch und Oliven. Zumindest ist er gesund, denken wir.

    Vor unserem Haus hält ein schwarzes Taxi. Ethische Berater fahren doch nicht mit dem Taxi vor, oder? Sollten sie nicht besser zu Fuß gehen, mit dem Fahrrad oder mit öffentlichen Verkehrsmittein fahren? Ich spähe aus dem Fenster und sehe, wie eine schick gekleidete Frau mit schulterlangen blonden Haaren aus dem Taxi steigt. Ich finde, für eine ethische Beraterin sieht sie ein bisschen zu glamourös aus, aber sie kommt auf unser Haus zu.

    »Hallo, Sie sind bestimmt Leo«, sagt Renée Elliott, Aufsichtsratsmitglied der Soil Association und Gründerin der Planet Organic-Bioläden in London. Ihr gelassenes Selbstbewusstsein, ihre Kleidung und ihr Benehmen vermitteln den Eindruck der erfolgreichen Geschäftsfrau, was durch ihren amerikanischen Ostküsten-Akzent noch verstärkt wird. Sie ist das genaue Gegenteil der etwas schüchternen und misstrauischen Hannah, die nebenan auf dem Sofa sitzt, und wenn jemand sich mit brutaler Offenheit darüber äußern wird, wie Jane und ich leben, dann bestimmt Renée.

    Da jetzt alle da sind, erkläre ich das Experiment für offiziell eröffnet.

    »Danke, dass Sie zu uns gekommen sind. Ich möchte zunächst sagen, dass Jane und ich ein bisschen nervös sind bei der Aussicht, was für entsetzliche Dinge Sie aufdecken werden, also seien Sie bitte milde mit uns. Ich bin mir nicht sicher, wie wir vorgehen sollten, aber es erscheint mir sinnvoll, mit Ihnen durch jedes Zimmer zu gehen, sodass Sie sich Notizen machen und uns fragen können, was wir einkaufen, wie wir leben und so. Danach können wir zusammen zu Mittag essen. Wo sollen wir anfangen?«

    »Auf jeden Fall in der Küche«, sagt Renée sofort. »Daran kann man so viel erkennen.«

    Die anderen beiden nicken zustimmend, und wir begeben uns in die Küche.

    Über unsere Küche gibt es nicht viel zu sagen. Sie ist etwa zehn Quadratmeter groß und ein bisschen düster, da wir sie, seit wir vor einem halben Jahr eingezogen sind, noch nicht gestrichen haben. Der Vormieter hat eine Ikea-Küche aus Holz hineingestellt, und der Fußboden ist gefliest. Sie enthält die üblichen Geräte – einen großen Kühlschrank mit Gefrierfach, Gasherd mit elektrischem Backofen, eine Waschmaschine mit integriertem Trockner und eine Geschirrspülmaschine. Für einen Esstisch ist der Raum nicht groß genug, deshalb essen wir an den meisten Abenden mit den Tellern auf dem Schoß vor dem Fernseher. Wenn wir, was selten vorkommt, Gäste zum Essen da haben, stellen wir einen kleinen antiken, ausklappbaren Tisch ins Wohnzimmer. Wir haben vor, die Wand zwischen der Küche und dem Badezimmer im Parterre durchzubrechen, das Badezimmer nach oben zu verlegen und dadurch die Küche zu vergrößern und familienfreundlicher zu gestalten, mit Verandatüren zu unserem kleinen Garten, damit Esme in ihrem Hochstühlchen etwas zu gucken hat.

    Wir schildern den Beratern unsere Umbaupläne, als sie mit Klemmbrett und Stift bewaffnet unsere Küche betreten. Esme ist gerade von ihrem Morgenschläfchen aufgewacht und nimmt auf Janes Arm an der Besichtigung teil.

    »Haben Sie etwas dagegen, wenn wir in Ihren Kühlschrank schauen?«, fragt Renée.

    »Äh, nein, bitte«, murmele ich.

    Während sie prüfend den Inhalt mustert, komme ich mir vor, als läse sie in meinem Tagebuch. Essen wir Fertiggerichte? Wie lange steht die mit Frischhaltefolie abgedeckte Thunfischdose schon hinten im Kühlschrank? Wussten Sie nicht, dass man gekochtes und rohes Fleisch getrennt aufbewahren muss?

    Die Berater nehmen Päckchen mit Zuckererbsen in die Hand und erklären uns missbilligend, wo sie angebaut werden. Sie stellen fest, dass wir zwar Bio-Milch trinken, unsere Eier zwar aus Freilandhaltung, jedoch keine Bio-Produkte seien.

    Mit jedem Teil, das sie aus dem Kühlschrank holen, scheinen sich mehr Probleme aufzutürmen: Pestizid-Rückstände, Zusatzstoffe ... Ein wichtiges Thema ist, ob Jane und ich uns nicht besser vegetarisch ernähren sollten. Hannah, die seit ihrem neunten Lebensjahr Vegetarierin ist, legt uns mit erschreckender Detailliertheit dar, was auf unseren Bauernhöfen und Schlachthöfen vor sich geht. Renée jedoch – die ebenfalls Vegetarierin ist – legt Wert auf die Tatsache, dass man diese Entscheidung von sich aus treffen sollte. Ich wende mich an Mike und frage ihn, ob er Fleisch isst. »Nur von einem Tier, das auf den Hügeln und Weiden in meiner Umgebung aufgewachsen ist«, erwidert er. Ich blicke aus dem Fenster und sehe, wie eine in London aufgewachsene Taube in unserem Garten landet.

    Ich werde immer nervöser, wenn ich an das Mittagessen denke. Was werden sie mit dem Thunfisch und den Eiern anstellen? Sollten wir lieber etwas anderes zubereiten? Aber was? Kopfsalat und grüne Bohnen? Das ist wohl kaum eine richtige Mahlzeit. Und wie wäre es mit Pasta? Ich bin noch dabei, mir zu überlegen, was für eine Sauce wir dazu essen könnten, als Renée einen unserer Kücheschränke öffnet.

    Sie quietscht vor Entzücken. »Ich liebe es, in den Vorratsschränken anderer Leute herumzuschnüffeln.« Sie scheint es ein bisschen zu sehr zu genießen.

    Mike und Hannah bleiben ruhiger, als sie zuschauen, wie Renée anfängt, unsere Küchenschränke auf die Arbeitsfläche auszuräumen. Vielleicht dämpfen ja die abgelaufenen Ingwerkekse oder das angebrochene Paket Weizenmehl ihren Enthusiasmus?

    Ein paar Minuten lang räumt sie rigoros aus, wobei sie ab und zu unterdrückt aufkeucht und wissend in die Runde blickt, und schließlich türmt sich ein Berg aus Dosen mit Baked Beans und Tomaten, Nudelpaketen (wir zählen sieben verschiedene Sorten, obwohl ich schwören könnte, dass wir immer nur Spaghetti, Fusilli oder Penne essen), Gewürzgläschen und Saftkartons. Auch Brot, Reis, Wein- und Bierflaschen, Nüsse und Trockenobst sowie Tee und Kaffee liegen da, und ich stelle fest, dass vieles unbenutzt hinten im Schrank gelegen hat.

    Ein Muster bildet sich heraus: Die Berater durchforsten jeden Winkel und zeigen uns dann auf, wie das, was sie finden, uns, anderen oder der Umwelt schadet. Alles wird unter die Lupe genommen: Wein, Thunfischdosen, Eier, Tiefkühlteig, frisches Obst, Reispackungen, Kekse, sogar die Salz- und Pfeffermühlen.

    Ich weiß nicht, wie es Jane geht, aber ich sehne mich bereits nach einem starken Drink, und dabei sind wir noch nicht einmal mit der Küche fertig. Sehnsüchtig blicke ich zu dem Koch-Brandy, der mit den anderen Sachen auf der Arbeitsplatte steht und sich, genau wie wir, sicher ein wenig bloßgestellt und missbraucht vorkommt, Aber da es noch nicht einmal Mittag ist, setze ich Wasser auf, um noch einen Kaffee zu kochen. Das stellt sich jedoch als Fehler heraus.

    »Das ist ein guter Zeitpunkt, um mit Ihnen über den Gebrauch Ihrer Küchengeräte zu sprechen«, sagt Renée, die mir zusieht, wie ich das Gas entzünde, um unseren Pfeifenkessel auf die Platte zu stellen. Daran kann sie doch nichts auszusetzen haben – es ist ja schließlich kein elektrischer Wasserkocher. Aber Mike und Renée diskutieren bereits darüber, ob es energiebewusster ist, Wasser auf dem Gasherd oder im Wasserkocher zu erhitzen.

    Im Verlauf der Debatte darüber, wie hoch man die Flamme unter dem Kessel einstellen sollte, wirft Hannah ein: »Gas ist im Hinblick auf Kohlenstoffemissionen der konventionellen Stromerzeugung vorzuziehen, es sei denn, Ihr Erzeuger greift vollständig auf erneuerbare Energiequellen zurück. In diesem Fall würde ich einen in England hergestellten Stahlkessel, wie sie Russell Hobbs produziert, empfehlen. Stahl hält länger, gibt keine chemischen Stoffe ins Wasser ab und man kann so wenig Wasser kochen, wie man will.«

    Mir dämmert langsam, wie das alles funktioniert – die Berater wägen ab, wie viel Energie und Ressourcen erforderlich sind, um etwas zu produzieren, wie man es im Hinblick auf Energieeffizienz am besten einsetzt, und dann schätzen sie die weitere Umweltbelastung ab. Mit anderen Worten, sie unterziehen alles in unserem Haus einer sogenannten »Lebenszyklus-Analyse«.

    Als nächstes sind unsere Waschmaschine und der Geschirrspüler an der Reihe, dann Töpfe, Pfannen und Küchengeräte. Rasch fördern sie einen Anzünder für Crème brûlée, einen Sandwichtoaster und einen Entsafter zutage, die wir überhaupt noch nie gebraucht haben. Ich ertappe Hannah dabei, wie sie die Augen verdreht, als sie in einer Schublade ein Gewirr von Essstäbchen, Korkenziehern, Fleischspießen, Schnitzmessern und was wir uns sonst noch so angeschafft haben findet, wenn wir, inspiriert von Jamie Oliver in den nächsten Küchenladen gefahren sind.

    »Sie brauchen nur einen Satz Töpfe und Pfannen«, sagt Hannah. »Wenn Sie also neue brauchen, wählen Sie etwas, was lange hält, wie gusseiserne Töpfe mit ebenem Boden und gut schließenden Deckeln. Und am besten kaufen sie entweder Secondhand-Geschirr oder Keramik aus der Gegend. Denken Sie daran, dass alles, was aus Knochenporzellan – echtem Knochen – hergestellt ist, vegetarischen Gästen möglicherweise zuwider sein könnte.«

    Ich komme mir langsam wie ein Kind vor und greife nach jedem Strohhalm, der mir das Gefühl gibt, dass nicht alles in unserem Leben zu Klimawandel, globaler Armut, der Zerstörung des Öko-Systems der Welt oder einer Kombination von allen dreien führt. »Wir besitzen keine Mikrowelle«, erkläre ich. »Das ist doch bestimmt gut, oder?«

    Ja, das sei gut, erwidern sie – in gewisser Hinsicht. Man sei sich noch nicht einig darüber, wie sicher sie eigentlich seien, und ihre Herstellung verbrauche auch viel Energie und Ressourcen, aber man könnte damit auch Energie sparen, wenn man sie statt des konventionellen Backofens zum Erhitzen und Erwärmen von Speisen verwendete.

    »Ich würde Ihnen allerdings nicht raten, sich deshalb eine Mikrowelle anzuschaffen«, fügt Hannah hinzu.

    Ich biete frischen Kaffee an, aber das scheint das Gespräch nur darauf zurückzulenken, wie viel Energie wir verbrauchen. Wir reden über den Stromverbrauch unserer Kühl-Gefrierschrank-Kombination, über unseren Gas-Kombi-Heizkessel, über Waschmaschinenprogramme, ja sogar darüber, dass die kleine Uhr am Herd ständig eingeschaltet ist.

    Renée wendet sich bald schon wieder unseren Schränken zu. Sie stößt einen kleinen Schrei aus. O Gott, ist sie auf eine der Mäuse gestoßen, die sich seit kurzem hinter der Spüle eingenistet haben? Aber nein, sie hält eine Flasche mit Bleichmittel hoch,

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1