Eltern zwischen Selbstsein und Entfremdung: Philosophische Deutung einer gekränkten Identität
Von Anja Mathes
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Über dieses E-Book
Aber ist das wirklich fair?
Und wie kommt es, dass wir uns dann auch noch schuldig fühlen, wenn wir Erziehungszeit nehmen? Obwohl wir uns fragen, ob es überhaupt noch unser Leben ist, das wir führen? Denn um uns selbst zu verwirklichen, fehlt uns mit Kindern schließlich die Zeit.
- Glauben wir.
Anja Mathes hat untersucht, was dieses Selbst eigentlich ist - und warum es bei Eltern ins Wanken gerät. Sie war junge Mutter, als sie mit dieser Frage ihre Magisterarbeit an der Universität Heidelberg mit 1,0 abgeschlossen hat. Aus der Perspektive der praktischen Philosophie zeigt sie, wie Identitätskrisen mit Anerkennung zusammenhängen und welche historischen Entwicklungen dazu geführt haben, dass Eltern besonders gefährdet sind, unter den Bedingungen moderner westlicher Gesellschaften Identitätskrisen zu erleiden.
Anja Mathes
Anja Mathes hat Philosophie und Neuere Geschichte an der Universität Heidelberg studiert. Kurz vor ihrem Abschluss wurde sie mit ihrem ersten Kind ungeplant schwanger und stellte sich den Herausforderungen einer jungen, alleinerziehenden Mutter. Ihre Magisterarbeit "Eltern zwischen Selbstsein und Entfremdung" soll heute auch andere Eltern ermutigen, an den Wert von dem zu glauben, was sie tun. Heute arbeitet Anja Mathes als freie Lektorin und lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Jena.
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Buchvorschau
Eltern zwischen Selbstsein und Entfremdung - Anja Mathes
1. Einleitung
„Philosophie, wie ich sie verstehe, ist der Versuch,
begriffliches Licht in wichtige Erfahrungen
des menschlichen Lebens zu bringen."¹
Aufgrund ihrer Unwiderruflichkeit und aller Konsequenzen, die sie für uns als Menschen birgt, muss als eine solche wichtige Erfahrung die Elternschaft gelten. Die Entscheidung für ein Kind ist wohl eine der folgenreichsten Entscheidungen, die ein Mensch in seinem Leben treffen kann. Dass sich die zeitgenössische Philosophie dennoch so erstaunlich wenig mit der Erfahrung von Elternschaft auseinandersetzt, war Dieter Thomä ein Anlass, diese riskante Lebensform einer philosophischen Betrachtung zu unterziehen. Angesichts dessen, was die Elternschaft für eine Lebensführung bedeute, solle die Philosophie sich zu dieser Aufgabe wieder berufen fühlen. Ich stimme zu.
In seiner Betrachtung fragt Thomä danach, warum Menschen sich trotz aller erwartbaren persönlichen Entbehrungen überhaupt noch in die Elternschaft begeben – zumal in einer Zeit, in der aufgrund unseres Rentensystems ihre Versorgung im Alter auch ohne Kinder als gewährleistet gelten kann und sich Kinderlose nicht mehr der Stigmatisierung ausgesetzt sehen, zulasten der Gesellschaft zu leben.² Die kulturelle Bewertung der Kinderlosigkeit ist heute nicht mehr negativ: Als Alternative zur Familie als Lebensform verbreiten sich seit einigen Jahrzehnten individualistische Lebensformen, nicht zuletzt, weil Restriktionen durch Kirche, Staat oder traditionelle Normen weggefallen sind – übergeordnete Gesichtspunkte, die Menschen in früheren Zeiten Eltern werden ließen. Darum müsse nun die Art des Lebens in den Blick geraten, für die sich Menschen, die Kinder bekommen, entschieden. Diesen Blick will ich im Folgenden wagen. Es ist dabei nicht Anspruch dieser Arbeit, die Untersuchung Thomäs einer umfassenden kritischen Würdigung zu unterziehen. Doch war es eine von Thomä aufgeworfene Frage, die den Anstoß für diese Arbeit gab – und zwar die Frage, ob eine Entscheidung für Kinder eine Entscheidung gegen uns selbst sei. Geben wir unser eigenes Leben aus der Hand, um es in den Dienst von anderen, namentlich unseren Kindern zu stellen, wenn wir Eltern werden? Lassen wir mit dieser Entscheidung einen großen Teil von uns selbst zurück?
Relevanz spreche ich dieser Frage zu, weil es mich, seit ich selbst Mutter wurde, betroffen macht zu beobachten, wie Menschen, die vor ihrer Elternschaft mit ihrem Leben zufrieden waren, immer wieder darum ringen und manchmal daran scheitern, ein positives Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten, seit sie Kinder bekamen – obwohl sie ihrer Elternschaft mit Vorfreude entgegengesehen hatten.
Wenn Menschen an diesem Punkt ihres Lebens das Gefühl für sich selbst verlieren, die Orientierung, was für sie eigentlich von Bedeutung ist, kann man von einer Identitätskrise sprechen.³ Ich will im Rahmen dieser Betrachtung dem Zusammenhang zwischen den Erfahrungen von Elternschaft und Identitätsverlust nachgehen.
An dieser Stelle liegt der Einwand nahe, dass es in der Natur der praktizierten⁴ Elternschaft liegt, ein individuelles Leben und die Person, die es führt, nicht unberührt zu lassen. Das Selbstverständnis einer jeden Person unterliegt im Laufe ihres Lebens zudem zwangsläufig einem dynamischen Veränderungsprozess. Doch die Deutung und Bewertung, die wir einzelnen Elementen unserer Biografie geben, hängt dabei in hohem Maße von der Art unseres Selbstverständnisses ab, weshalb jenem in meiner Untersuchung eine Schlüsselrolle zukommt. Es ist unsere Bewertung auf Grundlage unseres Selbstverständnisses, anhand welcher sich zwischen einer Persönlichkeitsveränderung im Sinne einer Persönlichkeitsentwicklung und der Selbstentfremdung im Sinne einer negativen Veränderung unseres Selbstverhältnisses unterscheidet. Es ist die Letztere, die sich auf unser Selbstwertgefühl auswirkt und um die es hier geht.
Der Erfahrung einer Identitätskrise versuche ich mich im Folgenden über den Begriff der Entfremdung zu nähern, da es das Gefühl der Ohnmacht und der Fremdheit in ihrem eigenen Leben ist, das Eltern oft Unbehagen bereitet. Mir ist es im Rahmen einer philosophischen Arbeit leider nicht möglich, meine Beobachtungen und meine Auffassung, dass diese einen verbreiteten Sachverhalt widerspiegeln, empirisch zu fundieren. Doch das möchte ich auch nicht leisten. Es geht mir nicht darum, einen Beweis für eine gesellschaftliche Tendenz zu erbringen, die ich wahrnehme, sondern, wie ich es im Titel schon benenne, eine Deutung anzubieten für eine Erfahrung, die einige Eltern teilen, viele womöglich nicht. Ich möchte einen Aspekt sichtbar und nachvollziehbar machen, aus welchen Gründen eine Elternschaft das Selbstverhältnis eines Menschen fundamental beeinträchtigen kann.
Meine Argumentation stellt sich dabei insbesondere der naheliegenden These entgegen, dass es die Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit im Sinne einer Ungebundenheit oder Unabhängigkeit ist, unter welcher die betroffenen Eltern leiden. Thomä selbst schließt seiner Frage, ob Selbstbestimmung von Eltern überhaupt denkbar sei, eine Diskussion über Freiheit und Verpflichtungen an. Die persönliche, als bedrückend empfundene Unfreiheit von Eltern wird bei Thomä durch die elterliche Pflicht begründet, Sorge zu leisten. Ich hingegen möchte Thomäs Untersuchung um einen meiner Ansicht nach vernachlässigten Aspekt ergänzen, der Imperative in den Blick nimmt, die nicht durch das Kind erzeugt werden. Da ich mich beschränken muss, sollen im Fokus dieser Arbeit daher diejenigen Eltern stehen, die sich positiv zu ihrer Fürsorgepflicht verhalten und die jene nicht als Belastung erfahren, sondern vielmehr, dass sie in Widerstreit zu anderen Geboten gerät, die uns Menschen in der Moderne beherrschen.
Seit langem wird ein Individualismus, der aufgrund seines eigennützigen Beiklangs immer wieder in Verruf gebracht wird, für die sich verbreitende Kinderlosigkeit in Europa verantwortlich gemacht. Schon Georg Simmel hatte Menschen beschrieben, die durch gestiegene Mobilität und beschleunigten Berufswechsel nur noch zu geringer Bindungsfähigkeit in der Lage seien und gegenüber ihren Mitmenschen verstärkt eine egozentrische Einstellung entwickelten.⁵ Im Hinblick auf Partnerschaft, Karriere oder Wohnort hat der Mensch im Zuge der Individualisierung tatsächlich große biografische Freiheiten gewonnen, die er durch eine Entscheidung für ein Kind einschränken würde. Insbesondere das Streben von Frauen nach beruflicher Selbstverwirklichung und damit die zunehmende Frauenerwerbstätigkeit wird mit einem geringeren Kinderwunsch verbunden, da die Familiengründung in der Regel bedeutet, gewonnene finanzielle und biografische Selbständigkeit aufgeben zu müssen. Folglich sei es hauptsächlich die Ausrichtung an Selbstverwirklichungszielen zusammen mit der zunehmenden Toleranz nicht-traditioneller familialer Lebensformen, die man dafür verantwortlich zeichnen müsse, dass sich die Geburtenzahl reduziere. Der Grundgedanke dieser Theorie ist also, dass eine Entscheidung für Kinder Optionen der Selbstverwirklichung mindert. Kinderlosigkeit wird als Ausdruck der Unvereinbarkeit von Familie mit dem gewachsenen Anspruch auf Selbstverwirklichung angesehen.
In der Tat kommt dem Wunsch nach Selbstverwirklichung heutzutage in modernen westlichen Gesellschaften ein zentraler Wert zu. Meine These ist jedoch, dass die Rückläufigkeit der Geburten nicht mit einem Rückgang von Kinderwunsch einhergeht. Eher verhindert die wachsende berufliche und ökonomische Unsicherheit zunehmend, dass Kinderwünsche, die vorhanden sind, handlungswirksam werden. Weiter bin ich der Auffassung, dass Eltern, die ihren Kinderwunsch verwirklicht haben, sich aufgrund eines inneren Anspruchs entfremdet fühlen, der gar nicht ihnen selbst entspringt. Die Individualisierungsprozesse, die vormals eine Steigerung persönlicher Freiheit versprachen, drängen uns heute vielmehr zu unreflektierten Handlungsmustern.
Dieses Paradoxon greift auch Charles Taylor auf:
„Was wir erklären müssen, ist das, was unsere Zeit vor anderen auszeichnet. Daß die Menschen ihre Liebesbeziehungen und die Fürsorge für ihre Kinder opfern, um ihre Karriere zu verfolgen, ist nicht das wirklich Eigentümliche. So etwas hat es vielleicht immer schon gegeben. Das Ausschlaggebende ist, daß sich heute viele Menschen dazu aufgefordert [Hervorhebung im Original] fühlen, daß sie meinen, sie müßten so handeln, und daß sie spüren, ihr Leben wäre irgendwie vergeudet oder unerfüllt, wenn sie nicht so verfahren würden."⁶
Ich möchte im Folgenden für die These argumentieren, dass Eltern gefährdet sind, in ihrem Selbstverhältnis beeinträchtigt zu werden, weil sie den nicht immer authentischen Imperativ verspüren, sich selbst zu verwirklichen. Und das nicht irgendwie, sondern innerhalb einer Leistungsgesellschaft, in der es aufgrund der Verteilung sozialer Anerkennung nach dem Wettbewerbsprinzip zur zentralen Aufgabe für uns Menschen geworden ist, unser Leben nicht nur selbstbestimmt zu führen, sondern auch so zu gestalten, dass wir unsere Konkurrenzfähigkeit sicherstellen können. Menschen, die Eltern geworden sind, die sich folglich unwiderruflich auf die Einschränkung ihrer Mobilität, Flexibilität und Leistungskraft festgelegt haben, können diesen Ansprüchen der Moderne nicht mehr ohne Abstriche genügen. Die zunehmende Beschleunigung innerhalb des wirtschaftlichen und sozialen Konkurrenzkampfes trägt für Eltern ein Entfremdungspotential in sich, da sie entweder aufgrund ihrer Elternschaft ins Hintertreffen innerhalb des sozialen Wettbewerbs geraten oder ihre Kinder in wesentlich geringerem Umfang persönlich durchs Leben begleiten können, als sie es selbst wünschen und für richtig halten. Ursächlich für Letzteres ist, dass die alltägliche Leistung von Eltern gegenüber anderen Tätigkeitsformen gering geschätzt wird. Kinder gelten heute als reines Privatvergnügen. Unsere Erde ist überbevölkert. Die Klimakrise bedroht die Existenz aller, besonders der Jüngsten. In modernen, hochindustrialisierten Ländern ist es weder eine ökonomischen Notwendigkeit, Kinder zu bekommen, noch eine unvermeidbare Folge sexueller Beziehungen. Aus dieser Perspektive stellen Kinder