Condorcets Irrtum: Warum nur ein starker Staat die Demokratie retten kann
Von Per Molander
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Per Molander
Per Molander ist Mathematiker und ein anerkannter Experte für Verteilungsfragen und lebt in Schweden. In leitender Position war er für die schwedische Regierung an Reformprojekten in den Bereichen der Wohlfahrts- und Haushaltspolitik, sowie des Umweltschutzes beteiligt. Er war Berater unter anderem für die Weltbank, den IWF und die Europäische Kommission. Bis 2015 war er Generaldirektor der von ihm gegründeten Inspektion für Sozialversicherungen. Per Molander hat insgesamt über 100 wissenschaftliche Arbeiten, Ergebnisberichte und Bücher veröffentlicht.
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Buchvorschau
Condorcets Irrtum - Per Molander
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Die Ideale der Aufklärung werden oft in der Parole der französischen Revolution, »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«, zusammengefasst. Dieser Wortlaut kommt uns heute ein wenig unzeitgemäß vor. »Freiheit« ist von der politischen Rechten beschlagnahmt und wird in diesen Kreisen zumeist auf »ökonomische Freiheit« reduziert. »Brüderlichkeit« schließt die weibliche Hälfte der Bevölkerung aus. Eine modernisierte Version der Parole wäre »Rationalität, Gleichheit, Demokratie«. »Rationalität« bezeichnet das Recht, im Prinzip alles in Frage zu stellen – philosophische und religiöse Dogmen, gesellschaftliche Institutionen –, und bewahrt damit die breitere Bedeutung des Freiheitsbegriffes. »Demokratie« umfasst im weiteren Sinne allgemeine und gleiche Wahlen, Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichstellung von Frauen und Männern, Freiheit der Presse und andere Aspekte der liberalen Demokratie. Wenn wir diese Definition als Ausgangspunkt nehmen, wie steht es dann heute um die Ideale der Aufklärung?
Unsere Rationalität ist naturgemäß begrenzt. Moderne und archaische Denkweisen existieren in unseren Gesellschaften Seite an Seite. Aus allen Teilen der Welt bekommen wir täglich Nachrichten über religiös oder politisch begründeten Fanatismus, und es ist unmöglich, eine deutliche Bewegung in Richtung fortschreitender Modernität zu erkennen. In den Vereinigten Staaten wurde gerade ein demokratischer Kandidat als Gewinner der Präsidentschaftswahlen bestätigt, aber nur mit einer schwachen Mehrheit. Bei einem großen Teil der amerikanischen Bevölkerung scheint ein tiefes Misstrauen gegenüber Fakten, wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie langfristiger und nachhaltiger Sozial- und Umweltpolitik zu bestehen.
Um die Demokratie ist es Jahr für Jahr schlimmer bestellt. Die jährlichen Berichte der Organisation »Freedom House« zeigen seit mehreren Jahren eine deutliche Schwächung der demokratischen Institutionen auf allen Kontinenten, auch in Europa. Rein quantitativ ist die Anzahl der Länder, in denen die Demokratie schwächer wird, inzwischen größer als die der Länder mit sich festigenden Demokratien. Autokratische Tendenzen werden immer deutlicher – sowohl in neuen Demokratien, wie Ungarn, Polen, als auch in den alten, wie den USA. Während der letzten vier Jahre sind die leitenden Politiker der Republikanischen Partei mit wenigen Ausnahmen durch einen totalen Mangel an Integrität aufgefallen. Ebenso müssen wir feststellen, dass ökonomisches Wachstum und eine Entwicklung hin zu mehr Demokratie nicht zwangsläufig Hand in Hand gehen, wie die Beispiele China und Singapur zeigen.
Was die Ungleichheit betrifft, ist das allgemeine Bild durchaus gemischt. Wenn man die Weltbevölkerung als Ganzes betrachtet, hat vor allem das Wirtschaftswachstum in China und Indien zu einer Angleichung der Lebensverhältnisse beigetragen. Innerhalb der meisten Länder gibt es allerdings eine gegenläufige Entwicklung, was darauf zurückzuführen ist, dass das Wachstum nicht allen gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen zugutekommt. Aus diesem Grund sind Organisationen wie der IWF und die OECD bestrebt, sowohl starkes als auch inklusives Wachstum zu schaffen.
Die schwedische Ausgabe dieses Buches wurde im Herbst 2017 veröffentlicht. In den vergangenen drei Jahren hat sich die Welt verändert, und doch wieder nicht. Die Pandemie hat viele traditionelle Standpunkte auf den Kopf gestellt. In politischen Kreisen, in denen man sich häufig gegen einen starken Staat ausspricht, befürwortet man jetzt freigiebige Konjunkturpakete, um den Konsum nach dem Vorbild von Keynes wieder anzukurbeln. Die noch bis vor Kurzem beschworene finanzielle Disziplin scheint im aktuellen politischen Umfeld nicht mehr besonders wichtig zu sein. Sollte die Erfahrungen der Pandemie und ihrer Bekämpfung letztlich zu einer Rehabilitierung des Staates beitragen, könnten wir am Ende vielleicht sogar davon profitieren – wenngleich zu sehr hohen Kosten.
Zusammenfassend kann man – wie immer – das Glas als halb voll oder halb leer beschreiben. Die Hypothese von Condorcet, dem dieses Buch gewidmet ist, war, dass die Ideale der Aufklärung sich mehr oder minder automatisch verwirklichen würden, wenn die Bevölkerung erst einmal das Joch des Ancien Régime abgeschüttelt hätte. Zweihundert Jahre später müssen wir feststellen, dass diese Hypothese allzu optimistisch war. Ein Automatismus ist definitiv nicht eingetreten, und vielerorts lässt sich nicht einmal eine klare Tendenz in Richtung einer aufgeklärteren gesellschaftlichen Grundordnung feststellen.
Jedes Land hat seine eigene Geschichte, aber die grundsätzlichen Werte der Aufklärung sind universell, und jedes Land kann von den geschichtlichen Erfahrungen anderer Länder lernen. Teile der deutschen Geschichte spielen in diesem Buch eine wichtige Rolle, als Beispiel eines Zusammenbruches der Demokratie und der Wertegemeinschaft der Aufklärung. Einigen deutschen Lesern mag es anmaßend vorkommen, dass ein Ausländer solch ausgiebigen Gebrauch von der deutschen Geschichte macht, aber das deutsche Beispiel ist für andere Länder und andere Zeiten doppelt wichtig. Erstens wird in der folgenden Diskussion deutlich, dass der deutsche Weg zum Zusammenbruch kein außergewöhnlicher Sonderweg war; ähnliche Voraussetzungen und Tendenzen waren auch in anderen Ländern sichtbar. Zweitens ist die deutsche Aufarbeitung dieser Vergangenheit vorbildlich, und das gesellschaftliche Klima in vielen anderen Ländern wäre besser geworden, wenn man ähnliche Anstrengungen unternommen hätte. Viele Probleme der heutigen US-amerikanischen Gesellschaft gehen auf eine mangelhafte Aufarbeitung der Geschichte der Sklaverei zurück.
Im Geiste ist Condorcet unser Zeitgenosse. Bei keinem anderen Philosophen der Aufklärung lässt sich ein derart entwickeltes Bild der modernen Gesellschaft finden und seine Forderungen waren seiner Zeit weit voraus: Ein allgemeines und obligatorisches Bildungssystem, Gleichstellung von Frauen und Männern, sozio-ökonomische Kosten-Nutzen-Analyse und sogar der Entwurf einer Sozialversicherung sind in seinem Katalog enthalten. Umso wichtiger ist es, Condorcets Irrtum genau in den Blick zu nehmen, denn er erlaubt einen tieferen Einblick in die Mechanismen unserer gegenwärtigen Gesellschaft. Eine wichtige Schlussfolgerung aus jenem Irrtum ist – so viel können wir hier schon vorwegnehmen –, dass die Ideale der Aufklärung sich nie endgültig realisieren lassen: Jede Generation muss sie aufs Neue verteidigen und weiterentwickeln.
Uppsala, im November 2020
Per Molander
1. Der Traum
Seinen Optimismus bewahrte er sich bis zum Schluss. Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet, war die personifizierte Aufklärung – ein brillanter Mathematiker, ein Demokrat mit unbeirrbarem Glauben an die Befreiung des Menschen von der Herrschaft angemaßter Autoritäten. Doch sein eigenes Leben endete in der Finsternis.
1789 hatte Condorcet sich der Französischen Revolution angeschlossen. Im Frühjahr 1792 trat sein Bruch mit Robespierre und der radikalen Bergpartei, den Montagnards, offen zutage. Noch war in der Gesetzgebenden Nationalversammlung, die im Herbst des Vorjahres gewählt worden war, der Einfluss der gemäßigten Girondisten vorherrschend. Die Bedrohung von außen spitzte sich zu: Österreich-Ungarn, Preußen und Russland fürchteten, dass die Idee der Revolution sich über ganz Europa verbreiten würde, und bereiteten die Besetzung Frankreichs vor, um die Ordnung wiederherzustellen.
Die Debatten in der Versammlung konzentrierten sich zunehmend darauf, was mit dem König geschehen solle. Die Mehrheit hatte mit dem Übergang zu einer konstitutionellen Monarchie gerechnet, aber nach seinem missglückten Fluchtversuch im Frühjahr 1791 verdächtigte man Ludwig XVI. der Konspiration mit den ausländischen Mächten. Die Regierung der Girondisten wurde nun sowohl von der nationalistischen Rechten als auch von der radikalen Linken angegriffen, und Condorcet und seine Gefährten versuchten sich zu verteidigen, indem sie den Mitgliedern der Bergpartei vorwarfen, die bürgerliche Freiheit zu bedrohen und, abwegig genug, im Sold des Königs zu stehen – einer der wenigen Fälle, in denen der Marquis die Situation falsch einschätzte.
Im Sommer 1792 war die Forderung, den König zu stürzen, immer lauter geworden. Die Girondisten erkannten, dass sie nichts mehr daran ändern konnten, versuchten jedoch Zeit zu gewinnen. Am 9. August hielt Condorcet vor der Versammlung eine Rede, in der er klarsichtig feststellte, dass die Lösung, für die man sich jetzt entschied, nicht nur das Schicksal der Zeitgenossen, sondern auch das der Nachwelt bestimmen würde. Aber nun wurde nicht einmal mehr der Kompromiss erwogen, den König vorübergehend seines Amtes zu entheben. Am folgenden Tag stürmte eine Volksmenge die Tuilerien, der König wurde verhaftet, und die Revolution trat in eine neue Phase ein. Die neue Richtung war nicht mehr im Sinne Condorcets; er war ein Gelehrter, kein Realpolitiker, noch nicht einmal ein Rhetoriker.
Er wurde in den Nationalkonvent gewählt, der sich im Herbst 1792 formierte, und erhielt einen der sechs Sekretärposten, aber nachträglich wurde sein Einfluss geschwächt. Bis zuletzt hielt er dagegen, mit Forderungen nach einer ausgearbeiteten Verfassung für die Republik, nach einem Gesetzbuch, das sich auf die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz gründete, und nach einer allgemeinen Grundbildung. Er sprach sich auch gegen die Hinrichtung des Königs aus, weil er die Todesstrafe prinzipiell ablehnte, aber im Konvent stand die Entscheidung schon fest, und im Januar 1793 wurde das Urteil vollstreckt. Im Juni wurden die Girondisten entmachtet. Condorcet galt als einer von ihnen, obwohl er inzwischen eine völlig eigenständige Position vertrat, und am 8. Juli erließ man Haftbefehl gegen ihn. Er erhielt eine Warnung und konnte sich in Sicherheit bringen. Von Juli 1793 bis Ende März des folgenden Jahres fand er Unterkunft und Schutz bei Rose Marie Vernet, der Witwe des Bildhauers Louis François Vernet, in der Rue des Fossoyeurs 21 in Paris. Das Haus gibt es bis heute, die Adresse lautet jetzt Rue Servandoni 15. Während jener Monate bei Madame Vernet verfasste er sein intellektuelles Testament, Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (deutsch: Entwurf eines historischen Gemähldes der Fortschritte des menschlichen Geistes). In neun Kapiteln schilderte er die Geschichte der Menschheit von der Jäger- und Sammlerkultur bis zur Ausrufung der Französischen Republik und schloss mit einer moderat optimistischen Zukunftsvision: Der Zuwachs an Wissen und die verbesserte Bildung der Menschen würden die Früchte der Aufklärung mehr oder minder von selbst reifen lassen. Er fasste die Vorschläge, die er der Nationalversammlung unterbreitet hatte, noch einmal zusammen – unter anderem zur Grundbildung für alle, zur Sozialversicherung und zur Gleichstellung der Frau – und beschrieb, wie die Menschheit in einer relativ nahen Zukunft ins Elysium eintreten würde, das Land des Glücks und des ewigen Frühlings.
Am 13. März 1794 verabschiedete der Konvent ein Dekret, demzufolge jeder, dem nachgewiesen wurde, dass er Feinde der Republik schützte, als mitschuldig gelten und entsprechend verurteilt werden sollte. Für Madame Vernet hätte es den Tod durch die Guillotine bedeutet, wäre Condorcet bei ihr entdeckt worden. So bereitete er abermals seine Flucht vor, noch ohne ein bestimmtes Ziel. Einige der sogenannten Republikfeinde hatten Zuflucht in der Schweiz gefunden, aber Condorcets erste Anlaufstation war Fontenay-aux-Roses, wo alte Freunde von ihm wohnten, das Ehepaar Suard. Zwar hatten sie mit ihm gebrochen, nachdem er aus ihrer Sicht zu radikal geworden war, aber er hoffte, dass sie ihm zumindest vorübergehend Unterschlupf gewähren würden. Am 25. März verließ er das Haus in der Rue des Fossoyeurs gemeinsam mit seinem Freund Jean-Baptiste Sarret, der ebenfalls Mathematiker war und bei Madame Vernet zur Miete wohnte. Nach einem halben Jahr erzwungenen Stillsitzens war Condorcet in schlechter Verfassung, und so brauchten die beiden vier Stunden für die zehn Kilometer bis Fontenay, wo sie sich voneinander verabschiedeten. Im Haus der Suards erfuhr Condorcet vom Dienstmädchen, dass die Eheleute sich in Paris befanden. Er verbrachte die Märznacht und weitere 24 Stunden im Freien, bevor das Paar nach Hause kam. Doch Suard wollte das Risiko, einen gesuchten Flüchtling bei sich aufzunehmen, nicht eingehen. Er forderte Condorcet auf, nach Einbruch der Dunkelheit wiederzukommen; inzwischen würde er versuchen, ihm einen Pass zu beschaffen.
Condorcet kam nicht mehr zurück. Er wanderte weiter bis Clamart, wo er in einem Gasthaus einkehrte, um etwas zu essen. Aber seine Erscheinung weckte Verdacht beim Wirt, der zufällig der Anführer der örtlichen Landwehr war, und bei zwei Gästen. Als man Condorcet verhörte, gab er sich als Pierre Simon aus und antwortete ausweichend auf alle Fragen. Er wurde festgenommen und ins wenige Kilometer entfernte Bourg-la-Reine gebracht. Zu diesem Zeitpunkt war er schon so geschwächt, dass er nicht mehr gehen konnte, sondern in einem Karren transportiert werden musste. Zwei Tage später, am 29. März, fand ihn der Gefängniswärter tot auf dem Fußboden der Zelle – vornübergefallen, die Arme seitlich an den Körper gelegt. Er wurde anonym in einem Massengrab auf dem kommunalen Friedhof bestattet.
Was wurde aus Condorcets Traum vom Elysium? Eine allgemeine, obligatorische und kostenfreie Grundbildung ist inzwischen praktisch überall auf der Welt die Norm, und zumindest in einem Teil der reicheren Länder ist auch die Sozialversicherung verwirklicht. Die Sklavenhaltung wurde im Prinzip abgeschafft, aber in vielen Gegenden der Welt arbeiten Menschen weiterhin unter Bedingungen, die der Sklaverei ähneln. Die tatsächliche Gleichstellung der Frau liegt noch in weiter Ferne. Vorurteile und Aberglauben prägen vielerorts noch immer das Denken. Vor allem aber herrscht eine große Unsicherheit über die Zukunft der Aufklärung und die Zukunft der Demokratie. Woran lag es, dass Condorcet nicht recht behielt? Worin bestand sein Irrtum?
2. Wahrheit und Freiheit
Die Wahrheit wird euch frei machen, steht über dem Haupteingang der Bildungsanstalt, in welcher der Autor dieses Buches acht Jahre seines Lebens verbrachte: das Gymnasium in der schwedischen Stadt Kalmar, »Kalmar Högre Allmänna Läroverk« – 1933 erbaut und 1966 umbenannt in »Stagneliusskolan«. Schwer zu sagen, was denen, die sich einst für diese Inschrift entschieden, im Kopf herumging. Das Zitat stammt aus dem achten Kapitel des Johannesevangeliums, und dort wird das Wort Wahrheit in einer anderen Bedeutung verwendet, als es heute allgemein der Fall ist. Aber es gibt keine Devise, in der sich die Idee der Aufklärung besser zusammenfassen ließe.¹
Die Aufklärung in Raum und Zeit
»Aufklärung: eine intellektuelle Strömung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die ihr Zentrum in Frankreich hatte«, heißt es in der Schwedischen Nationalenzyklopädie.² Diese Darstellung ist fragwürdig. Man überlege einmal, wer den folgenden Satz geschrieben haben könnte: »Wenn es etwas gibt, das ein Individuum im Naturzustand sich nicht aneignen und zu seinem Eigentum machen kann, ist es der Grund und Boden mit allem, was dazugehört.« Naturzustand, Kritik am Grundbesitz – das muss Rousseau sein, werden die meisten denken, und wer ein gutes Gedächtnis hat, tippt vielleicht auf die Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen aus dem Jahr 1755 oder die 1762 veröffentlichte Schrift Vom Gesellschaftsvertrag. Tatsächlich aber stammt das Zitat aus dem Tractatus Politicus von Baruch de Spinoza, entstanden in den Siebzigerjahren des 17. Jahrhunderts und posthum veröffentlicht.
Nicht nur in Schweden neigt man traditionsgemäß dazu, den Schwerpunkt der Aufklärung in Frankreich anzusiedeln. Eine andere Sichtweise, die den Anteil englischer Philosophen hervorhebt, findet man, kaum überraschend, in der angelsächsischen Literatur. Eine dritte Version besagt, dass die Aufklärung in Wirklichkeit aus mehreren disparaten »Aufklärungen« bestand, die sich in verschiedenen Ländern ereigneten und zwischen denen nur in begrenztem Maße ein intellektueller Austausch stattfand. Der britische Historiker Jonathan Israel behauptet in seiner fundierten Analyse der Aufklärung als eines sozialen und ideengeschichtlichen Phänomens, dass keine dieser Versionen richtig sei.³ Er sieht die Aufklärung als eine zusammenhängende Bewegung, die sich vorwiegend im nordwestlichen Europa vollzog, und zwar mit intensivem Austausch über die Ländergrenzen hinweg. Wollte man ein einzelnes Land als Zentrum dieser geistigen Strömung bezeichnen, so wäre es laut Jonathan Israel weder Frankreich noch England, es wären vielmehr die Niederlande.
Das hat einen konkreten politischen Hintergrund. Die Republik der Vereinigten Niederlande, hervorgegangen aus dem Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien nach der Rebellion der nördlichen Provinzen im Jahr 1581, bildete als Staatswesen einen auffallenden Kontrast zu den absolutistischen Monarchien, die damals Europas Landkarte prägten. Es handelte sich nicht um eine Demokratie im modernen Sinne, aber die Macht war gleichmäßiger verteilt als in den meisten anderen Ländern, und die bürgerliche Klasse, die für den ökonomischen Aufschwung sorgte, hatte maßgeblichen Einfluss. Zwar dominierte die protestantische Religion, aber die Katholiken waren akzeptiert. Das Prinzip der Toleranz, längst durch die Verfassung geschützt, gilt bis heute und führte zu einer Dreiteilung des niederländischen Bildungssystems, vom Kindergarten bis zur Universität, in eine protestantische, eine katholische und eine konfessionslose Sektion. Das Land wurde zum Zufluchtsort für Intellektuelle aus allen Gegenden Europas, die in ihren Heimatstaaten Schwierigkeiten bekommen hatten oder die ganz einfach flüchten mussten, um ihr Leben zu retten. Frankreichs Protestanten waren in dieser Zuwanderungswelle stark vertreten, aber auch Katholiken oder Skeptiker wie René Descartes, Pierre Bayle und Antoine Arnauld entschieden sich für die Niederlande. Und neben Spinoza gab es eine Reihe weniger bekannter niederländischer Denker, die zur Aufklärung in ihrer frühen, radikalen Ausprägung wichtige Beiträge lieferten: Frans van den Enden, die Brüder Koerbagh, Lodewijk Meyer und andere.
Die Niederlande boten jedoch nicht nur eine intellektuelle Freistatt. Das Land diente außerdem als Modell in der Verfassungsdebatte, die im 17. Jahrhundert, vor dem Hintergrund extremer kriegerischer Gewalt, zum Teil im Verborgenen geführt wurde. Für das Verfassungsthema war der Dreißigjährige Krieg von eher untergeordneter Bedeutung. Umso wichtiger war die englische Revolution, die in der Geschichtsschreibung Englands wie auch anderer Nationen bemerkenswert unterbelichtet bleibt: In England wurde im Jahr 1649 ein König hingerichtet, fast eineinhalb Jahrhunderte, bevor das Gleiche in Frankreich geschah. Zwischen 1648 und 1653 wüteten in weiten Teilen Frankreichs die Bürgerkriege der Fronde, in der Beamte und Hochadel sich gegen die absolutistische Herrschaft des Königs verbündet hatten. Die Niederlande galten dabei als positives, wenn auch nach Meinung vieler reichlich radikales Vorbild. 1672 erklärten England und Frankreich der Republik den Krieg. Es war dann wiederum kein Zufall, dass die sogenannte Glorreiche Revolution des Jahres 1689 in England (die weder eine Revolution noch sonderlich glorreich war) ihren Ursprung in den Niederlanden hatte.
Auch wenn der Schwerpunkt der Aufklärung demnach in den Niederlanden verortet werden kann, verbreitete sich die Bewegung über ganz Europa. Zusammengehalten wurde sie von der intellektuellen Infrastruktur, die inzwischen entstanden war: Die Techniken der Verbreitung des gedruckten Wortes hatten sich weiterentwickelt, wissenschaftliche Zeitschriften erblickten das Licht der Welt, die Bibliotheken wuchsen und waren immer besser organisiert. Zwischen den letzten Jahrzehnten des 17. und der Mitte des 18. Jahrhunderts verfolgte man das Konzept einer Universalbibliothek, doch dann wurde die Bücherflut so übermächtig, dass das Projekt nicht einmal mehr an Fürstenhöfen oder Universitäten, die über entsprechende Ressourcen verfügten, realisierbar erschien.
Die zweite wichtige Perspektivverschiebung, die sich aus Jonathan Israels Geschichtsverständnis ergibt, betrifft die zeitliche Einordnung der Aufklärung. Wie der oben zitierte Satz von Spinoza belegt, hatten sich schon lange vor der Mitte des 18. Jahrhunderts entscheidende Dinge ereignet; die interessante Phase beginnt also fast ein Jahrhundert früher. Galileis Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme wurde 1632 veröffentlicht, Descartes’ Abhandlung über die Methode, richtig zu denken und Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen erschien 1637 und Hobbes’ Leviathan 1651. Auch Spinoza und Bayle publizierten im 17. Jahrhundert. Als Rousseau, Voltaire und die Enzyklopädisten im 18. Jahrhundert die Szene betraten, war ein großes Stück Arbeit bereits getan. Dass schon in den Jahrzehnten um 1600 eine Revolution der Naturwissenschaften eingeleitet wurde, ist nichts Neues – Nikolaus Kopernikus, Giordano Bruno und Galileo Galilei sind berühmte Namen. Aber das berührte eben nur das naturwissenschaftliche Weltbild. Es sollte noch einige Zeit dauern, bis die alte Weltordnung auf breiterer Ebene infrage gestellt wurde. Als das geschah, wurden die philosophischen, religiösen und politischen Fundamente der Gesellschaft erschüttert.
Geistige Freiheit
Das Grundstürzende an der Aufklärung waren vermutlich weniger die konkreten Entdeckungen der Epoche als der neue Denkansatz. Er war universell, das heißt, er ging davon aus, dass übereinstimmende Annahmen zu übereinstimmenden Schlussfolgerungen führen, unabhängig von Zeit und Raum. Er nahm nichts als selbstverständlich hin: Jede Annahme musste offen bleiben für ihre Widerlegung. Und, vielleicht das Wichtigste: Dieser analytisch forschende Denkansatz wandte sich nicht nur der Natur zu, sondern auch den Hervorbringungen des Menschen – den Institutionen der Gesellschaft, der Religion, der Geschichtsschreibung. Damit lag die Beweislast plötzlich nicht mehr bei denen, die Veränderungen befürworteten, sondern bei denen, die den Status quo erhalten wollten.
Bei der Aufklärung ging es also in erster Linie um eine geistige Befreiung – ein freies Streben nach Wissen und Erkenntnis, ausschließlich mit den Mitteln der Vernunft. Diese Forderung wurde nicht zum ersten Mal in der Geschichte erhoben; schon die Griechen hatten Fragen nach der Beschaffenheit der Welt gestellt, ohne sich dabei auf religiöse Konzepte zu stützen. Euripides schrieb in einem Dramenfragment aus dem 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung:⁴
»Wohl dem, der lernt, die Dinge zu erforschen, ohne die Absicht, seinen Mitmenschen zu schaden oder bösartige Handlungen zu begehen, und der allein danach strebt, die ewige und unsterbliche Ordnung der Natur zu begreifen – und wie sie aufgebaut ist.«
Den Römern fiel die Verwaltung dieses Erbes zu, aber sie interessierten sich mehr für Administration und Rechtsprechung als für Philosophie und Wissenschaft. Mit der Hegemonie des Christentums verwandelte sich die höfliche Pflege des griechischen Erbes in eine unmittelbar feindselige Haltung. Vierhundert Jahre nach dem Beginn unserer Zeitrechnung schrieb der Kirchenvater Augustinus in seinen Bekenntnissen:⁵
»Es gibt eine andere, noch gefährlichere Versuchung: Das ist die Krankheit der Neugier […] Sie ist es, die uns dazu antreibt, die Geheimnisse der Natur aufzudecken, die Geheimnisse, die jenseits unserer Vernunft liegen, die nirgendwo hinführen können und nach denen der Mensch nicht suchen soll.«
Die griechischen Philosophen wurden also aus einem mehr als tausendjährigen Halbschlaf erweckt, als die Männer und Frauen der frühen Aufklärung begannen, sich für den systematischen Zweifel als Denkmethode zu interessieren. Und für jene Philosophen, die Fragen gestellt hatten – Xenophanes, Pyrrhos, Straton, Epikur. Die Galionsfigur der neuen Zeit war Descartes, der Mann, der es sich zur Aufgabe machte, an allem zu zweifeln, sogar an seiner eigenen Existenz, und der doch festen Boden unter seinen Füßen zu finden glaubte, weil er sich beim Denken beobachtete – ein denkendes Wesen muss ja existieren. Sein Beitrag bestand vor allem darin, die Forderung nach Stringenz in der philosophischen Beweisführung zu etablieren. Aber der radikale Zweifel, für den er berühmt wurde, war nicht echt: Es war in erster Linie ein intellektuelles Spiel, das er inszenierte, um zu zeigen, dass das von der Religion bestimmte Weltbild mit der Naturphilosophie keineswegs unvereinbar war. Um nicht als ketzerischer Zweifler an einer göttlichen Macht verdächtigt zu werden, beeilte er sich außerdem, einen Gottesbeweis in seine Abhandlung einzubauen, der jedoch nur teilweise überzeugen konnte.
Am Anfang standen das systematische Zweifeln und Fragen, aber auch an die Antworten wurden nun neue Ansprüche gestellt. Zwei Forderungen unterschieden die Aufklärung vom alten Denkregime: Die erste war die nach Logik und innerer Konsistenz. Die Geometrie wurde als ideales Vorbild für eine Theorie betrachtet; Spinoza wählte für eine seiner Abhandlungen den Titel Die Ethik, nach geometrischer Methode dargestellt. Der Maßstab der inneren Folgerichtigkeit und Widerspruchsfreiheit ermöglichte es außerdem, andere philosophische und religiöse Konzepte kritisch zu überprüfen, worin ebenso viel Sprengkraft lag wie in der Forderung nach neuen Theorien.
Der zweite Maßstab – den vor allem Galilei durchsetzte – war der Wirklichkeitsbezug: Beobachtungen im Alltagsleben oder im kontrollierten Experiment sollten über die Stichhaltigkeit einer Beschreibung oder einer Theorie entscheiden, nicht ihre Übereinstimmung mit einem von der religiösen Obrigkeit autorisierten Dogma.
Die Fortschritte der Optik – Teleskop und Mikroskop – steigerten die Reichweite des menschlichen Auges enorm, wodurch sich auch das Risiko der Konfrontation zwischen einer erfahrungsbasierten Erkenntnissuche und dem etablierten Weltbild erhöhte. In einem Brief an Kepler klagte Galilei über die Vertreter der Kirche, die sich weigerten, durch das Teleskop zu schauen, weil sie fürchteten, den Beweis für die Unhaltbarkeit ihrer Vorstellungen zu sehen – und er fragte sich, ob man darüber lachen oder weinen solle.
Religiöse Freiheit
Ein weiterer Baustein der Aufklärung war die religiöse Befreiung. Glaubenskriege sind ein uraltes Phänomen; sie sind in jede institutionalisierte Religion mehr oder minder eingebaut. Die katholische Kirche hatte eine sehr lange Liste von Abweichlern, die um der ekklesiastischen Einheit willen nicht toleriert werden konnten – Marcioniten, Gnostiker, Monophysiten, Bogomilen, um nur einige zu nennen. Auch im Islam entwickelte sich im Laufe der Zeit ein breites Spektrum unterschiedlicher Richtungen, die einander ebenso erbittert bekämpften, wie sie die Ungläubigen außerhalb der muslimischen Gemeinschaft (Umma al-islamiya) befehdeten. In Europa verhärteten sich die Konflikte bis zum Hochmittelalter, und Papst Innozenz III. leitete ein neues Kapitel in der Geschichte der christlichen Kirche ein, als er im Jahr 1209 den ersten Kreuzzug von Katholiken gegen andere Christen initiierte – gegen die Katharer, auch Albigenser genannt, im südfranzösischen Languedoc.
Gemeinsam war den meisten dieser christlichen Abweichlergruppen, dass sie sich auf die Bibel als bedeutendste religiöse Urkunde des Christentums beriefen. Sie kritisierten die katholische Kirche dafür, dass sie sich in ihrem Regelwerk und in ihrer Praxis von den eigenen Grundprinzipien entfernt hatte. Lange wurde nur der Kirche selbst die Autorität zugebilligt, darüber zu entscheiden, wann das der Fall war. Martin Luther behauptete sowohl in seinen 95 Thesen, die er der Legende nach an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg genagelt haben soll, als auch in seinem Brief an Papst Leo X., dass die Kirche gegen ihre eigenen Verfahrensregeln verstoßen und für gefasste Beschlüsse fehlerhafte Begründungen vorgelegt habe. Er ging noch einen großen Schritt weiter, als er wenige Jahre später, in der Leipziger Disputation und in seiner Schrift Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche, sich direkt auf die Bibel berief. Das bedeutete, dass er der Kirche das Monopol der Bibelauslegung absprach.
Die Heilige Schrift selbst zog Luther nicht in Zweifel. Den eigentlich radikalen Schritt vollzog erst Spinoza, als er sich in seinem 1670 veröffentlichten Tractatus Theologico-Politicus daran wagte, die Bibel zu analysieren.⁶ Natürlich lassen sich die Aussagen der Bibel empirisch kaum überprüfen; man kann aber sehr wohl die innere Konsistenz des Textes untersuchen. Spinoza begründete die moderne Tradition der Bibeltextkritik, und er bediente sich dazu keiner anderen Werkzeuge als der Bibel selbst und der einfachen Logik. So wies er nach, dass das, was die christliche Tradition »die fünf Bücher Mose« nennt, nicht von Moses geschrieben worden sein kann. Er fand Belege dafür, dass alle historischen Bücher der Bibel von einer einzigen Person geschrieben worden sein müssen und dass dieser Autor vermutlich Esra ist. Er wies außerdem auf Widersprüche und offenkundige Fehler hin.
In den vergangenen Jahrhunderten ist die textkritische Tradition stark angewachsen. Heute gibt es eine Liste von 20 000 bis 30 000 Textstellen, an denen verschiedene Bibelversionen mehr oder weniger signifikant voneinander abweichen. Teilweise gehen die Differenzen auf Irrtümer zurück, die durch falsche Abschriften oder Übersetzungen unabsichtlich zustande kamen. In anderen Fällen sind Fehler vorsätzlich eingefügt worden, um die Position einer bestimmten Glaubensrichtung auf Kosten einer anderen zu stärken.⁷
Spinozas epochale Leistung bestand darin zu zeigen, dass die Bibel, wie alle religiösen Texte, deutliche Kennzeichen trägt, die sie als Menschenwerk ausweisen, geprägt durch menschliche Unvollkommenheit. Und dass diese Texte, von Menschen für Menschen geschrieben, nicht selten dem Zweck dienten, Menschen zu lenken oder zu manipulieren. Doch Spinoza begnügte sich nicht mit einer textkritischen Untersuchung der Bibel: Er attackierte auch das Konzept des Wunders als Beweis für die Existenz einer höheren Macht. Hier fand er Unterstützung bei einem anderen Philosophen der frühen Aufklärung, Pierre Bayle, dessen Historisches und kritisches Wörterbuch kurz vor der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert erschien. Der Gott, den Spinoza anerkannte, wirkt durch die Naturgesetze, und jedes in der Bibel geschilderte Ereignis, das im Widerspruch zu diesen Gesetzen steht, betrachtete der Philosoph als eine von unredlichen Menschen in den Text eingeschleuste Erfindung.
Der dritte wichtige Beitrag Spinozas im religiösen Kontext betrifft die Grundlagen der Moral. Die Idee eines Gottes, der die Menschen überwacht, böse Taten bestraft und gute belohnt, erschien ihm geradezu lachhaft. Nach seiner Auffassung musste sich die Moral auf die Vernunft gründen, und das galt auch für die einfachen moralischen Grundprinzipien, die sich in der Bibel wiederfinden. Folgerichtig ergab sich daraus seine Argumentation für die Trennung von Kirche und Staat. Das war vielleicht der radikalste Schritt. Oder, wie es Jonathan Israel formuliert:
»Ob demokratischer Republikaner oder nicht – jemand, der eine göttliche Vorsehung, eine im Göttlichen begründete Moral und den Glauben an die Erschaffung der Welt durch Gott ablehnte, war zugleich auch ein weitblickender Revolutionär.«
Natürlich traf Spinozas Philosophie auf erbitterten Widerstand. Die Reaktionen waren so heftig wie nachhaltig, bei gleichzeitigem Unvermögen oder Desinteresse, diesen analytischen Denkansatz mit Argumenten zu widerlegen. Die Kirche sollte schon bald ihre Haltung zu den Naturwissenschaften ändern: Newton wurde ein ganz anderer Empfang zuteil als Kopernikus und Galilei, obwohl seine Mechanik eine Weiterentwicklung des kopernikanischen Modells darstellte. Aber auf den Gebieten, auf denen sich Spinozas Denken bewegte, blieb man unversöhnlich, denn sie betrafen das weltliche Machtpotenzial der Kirche. Wunder, Reliquienschreine und heilige Stätten waren wichtige Instrumente, um einfache Menschen von der Gegenwart des Göttlichen zu überzeugen – und dabei handelte es sich in Wahrheit um Relikte einer Epoche, in der das menschliche Leben viel eher von Magie als von Religion bestimmt worden war. Dass Spinozas Idee einer auf Vernunft gegründeten Moral Anstoß erregte, lässt sich leicht nachvollziehen: Für das Selbstverständnis jeder institutionalisierten Religion ist es von zentraler Bedeutung, das Monopol auf die Grundlagen der Ethik zu besitzen, mit deren Hilfe sich der Alltag der Menschen reglementieren lässt.
Politische Freiheit
Politische Befreiung war die dritte wichtige Komponente im Gebäude der Aufklärung. Auch sie wurde natürlich nicht zum ersten Mal eingefordert. Machtmissbrauch hat es in allen Gesellschaften gegeben, und Machtmissbrauch schürt das Verlangen nach Veränderung. Im Hochmittelalter folgten die Bauernaufstände immer dichter aufeinander. Zu den bedeutenderen gehörten die Grande Jacquerie in Frankreich 1358 und die Peasants’ Revolt in England 1381. Das Neue an der politischen Befreiung, die von der Aufklärung ausging, bestand darin, dass für die Alternative zum Status quo, den das alte Regime repräsentierte, ein intellektuell fundiertes Lehrsystem geschaffen wurde. Theorien zu Gesellschaftsverträgen, die sich auf wechselseitige Verpflichtungen zwischen Machthabern und Regierten gründeten, hatte es in rudimentärer Form schon in der Antike gegeben; im Mittelalter waren sie unter anderem von Marsilius von Padua und Nicolaus Cusanus weiterentwickelt worden. Aber das waren noch sehr vorsichtige Konstruktionen, gedacht als Antwort auf die Frage, ob und gegebenenfalls wann man einen Herrscher absetzen darf, der sich als Tyrann aufführt. Denn Paulus hatte ja im Römerbrief festgestellt, dass alle Obrigkeit von Gott gegeben sei.⁸
Thomas Hobbes gilt in den Augen der Nachwelt als Verteidiger der absoluten Monarchie und einer von oben verordneten religiösen Einheit. Doch dieses Bild ist nicht stimmig. Nach der Restauration des Königtums im Jahr 1660 sah sich Hobbes einem Hagel von Anschuldigungen wegen Ketzerei, Atheismus und Verrat ausgesetzt. Die Personen in royalistischen und klerikalen Kreisen, die sehr wohl in der Lage waren, seine Texte richtig zu verstehen, schreckten vor seinem Denkansatz dennoch zurück. Denn in Hobbes’ Lehre wird mit dem Status quo aufgeräumt: Alle Individuen werden als gleich betrachtet, und alle stehen vor demselben Problem – eine Gesellschaft zu erschaffen, die jedem Einzelnen eine Grundsicherheit als Voraussetzung für ein menschenwürdiges Leben bietet.
Dieser Ansatz ist universell und egalitär. Zwar führte Hobbes im Weiteren aus, dass