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Bergauf sieht man mehr. Bergab auch.
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eBook330 Seiten4 Stunden

Bergauf sieht man mehr. Bergab auch.

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Über dieses E-Book

Seit der Schulzeit sind Paul und Bianca ein Paar und haben sich eingerichtet in ihrem Zusammenleben und in ihrem Beruf, Paul als Gynäkologe und Bianca als Hebamme. Eines Tages steht Paul vor der Situation, eine bedrohliche Diagnose für Bianca stellen zu müssen. Er bringt es kaum übers Herz und damit seine Ehe in Gefahr.In einem Mix aus Verzweiflung und Mut stellt Bianca sich ihrer Krankheit und einer Operation, die ihr Aussehen für immer verändert. Sie ringt mit sich, ihrer Liebe zu Paul und der Akzeptanz des Unabänderlichen, lässt letztendlich ihren Alltag hinter sich und wagt den Schritt ins unbekannte Neue. Einem Impuls folgend nimmt sie einen Sommerjob in den Schweizer Bergen für sich und ihre Hunde an. Sie ahnt nicht, dass die Herausforderung am Ende nicht allein im Bewältigen der ungewohnt harten körperlichen Arbeit bestehen wird, sondern in der Begegnung mit Jenke, einem Studenten aus Hamburg, der todkrank auf der abgelegenen Alp auftaucht und bleibt.Ein beeindruckender Roman, der die Seele des Lesers zutiefst berührt in seiner Auseinandersetzung mit den Themen Tod und Sterben, Hoffnung und Veränderung.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Jan. 2022
ISBN9783960745266
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    Buchvorschau

    Bergauf sieht man mehr. Bergab auch. - Christiane Amendt

    Impressum

    Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

    Besuchen Sie uns im Internet - papierfresserchen.de

    © 2021 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

    Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

    Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchauflage erschienen 2014.

    Zitatnachweis S. 22/23: aus: Ende, Michael: Momo, K. Thienemann Verlag Stuttgart, 1973, 267 Seiten / S. 36f.

    Herstellung: CAT creativ - www.cat-creativ.at

    Titelbild: Katharina Bouillon

    ISBN: 978-3-86196-358-5 - Taschenbuch

    ISBN: 978-3-96074-526-6 - E-Book

    *

    Inhalt

    Impressum

    Bergauf sieht man besser. Bergab auch.

    Die Autorin

    Buchtipp

    *

    Bergauf sieht man besser. Bergab auch.

    Als Paul wie gewohnt den Arm um Biancas Schultern legte, war er nicht vorbereitet auf den Stich, den es ihm versetzte, dass sie spontan ihre Hände um seine schloss. Er liebte sie. Und hatte eine Scheißangst, dass sein Fehler unverzeihlich war. Dass nun der Tag gekommen war, an dem das Ende seinen Anfang nahm.

    „Kalt heute." Ihn fröstelte. Was erwartete er? Es war November. Der an den Ohren beißende Wind und die wabernden Wolkengebilde, die in ihrer Maßlosigkeit den Erdboden anzusteuern schienen, hatten jedes Recht, über die abgeernteten Felder und den Himmel zu fegen. Außer Menschen mit Hunden war kaum jemand unterwegs. Freiwillig sicher nicht. Sie schmiegte sich an ihn und er spürte, wie der Kloß in seinem Hals größer wurde. Er würde es ihr sagen. Gleich würde er es ihr sagen. Er hatte es sich fest vorgenommen.

    „Was hältst du davon, wenn wir heute Abend jemanden zum Essen einladen. Irgendwen. Ganz spontan?" Erwartungsvoll sah sie ihn an.

    Du liebe Güte. Das hatte gerade noch gefehlt. „Heute Abend? Ich weiß nicht." Er ahnte, dass sie sich heute Abend nicht gemütlich zum Essen zusammensetzen würden. Er kannte sie. Das würde sie nicht bringen. So abgebrüht war sie nicht.

    Viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Sie waren bereits auf dem Rückweg. Er gönnte sich einen letzten Aufschub, bis ihre Schritte den Gleichklang wiedergefunden hatten.

    „Bianca, ich muss dir etwas sagen." Er spürte selbst, wie das in ihren Ohren klingen musste. War das nicht die klassische Eröffnung der Beichte eines Ehebruchs? Blöder hätte er es nicht anfangen können.

    Bianca schwieg. Ihre Schritte waren kaum merklich langsamer geworden. Sie wartete. Sie ahnte, dass das, was nun folgte, ihr Leben verändern würde und hätte es gerne aufgehalten. Ihre Gedanken überschlugen sich. Was um alles in der Welt konnte er ihr sagen wollen? War er krank? War es das? An einen Seitensprung mochte sie nicht glauben. Oder doch? Es ging ihnen gut miteinander. In den letzten Wochen hatte sie eher mehr Nähe gespürt, eine größere Zugewandtheit, eine wiedererwachte Aufmerksamkeit. Beinah so wie damals, kurz nach dem Abitur, als sie sich gegen alle Vernunft Hals über Kopf in das Abenteuer Ehe gestürzt hatten. Trunken vor Verliebtheit, wahnwitzig in ihrer Überzeugung, in ihrem speziellen Fall sei das Glück unkündbar gebucht.

    „Die sind komplett verrückt oder es ist was passiert, hatten ihre Freunde den Entschluss kommentiert. Nein, ihnen war nichts „passiert und würde auch nie etwas „passieren", wenn man das Berührende, ein Kind zu bekommen, so bezeichnen wollte. Leider. Bianca seufzte unhörbar. Niemals würde sie Frieden schließen mit ihrer Kinderlosigkeit.

    „Ich möchte so gerne mit dir alt werden", hatte Paul vor ein paar Tagen gesagt. Sie hatte das Besondere des Momentes gespürt, aber sie hatte nicht gefragt. Mit leichter Verwirrung hatte sie sich an ihn gelehnt und die Zuneigung, die aus seinen Worten sprach, hingenommen wie ein Geschenk.

    „Deine Mammografie war nicht in Ordnung."

    Für Sekundenbruchteile schien die Welt stillzustehen.

    „Was?" Abrupt löste sie sich aus seiner Umarmung.

    Es ergab keinen Sinn. Sie war seit Monaten nicht beim Arzt gewesen. Sie konnte unmöglich krank sein. Das wüsste sie. Sie suchte, dachte nach, hetzte durch ihr Gedächtnis, zerbrach sich den Kopf: Was ging hier vor? Wie die Stacheln eines Dornenzweiges, an den man sich zu nah herangewagt hatte, pressten hastige Atemzüge das Entsetzen in ihr Herz. Die Mammografie! Sie starrte ihn an. „Aber die Untersuchung war im Juli", stammelte sie.

    Er machte einen Schritt auf sie zu, wollte sie trösten, sie halten, doch sie wich zurück. Entschuldigend hob er die Hände. „Ja. Aber ... es ist ein DCIS, also nichts, das man sofort operieren muss. Man kann sich Zeit lassen. Alles in Ruhe bedenken."

    „Und das hast du vier Monate für dich behalten? Ich fasse es nicht!" Sie war außer sich und blitzte ihn an. Stürzte sich auf die Ungeheuerlichkeit des verschwiegenen Untersuchungsergebnisses, suchte Schutz vor dem Eigentlichen. Ihre Wut hielt die aufkeimende Angst in Schach. Noch.

    Sprachlose Sekunden, in denen er ihre Qual fühlte, verstrichen, bis sie zu fragen wagte: „Was genau ist das, was du gesehen hast auf den Aufnahmen?"

    Sie mochte es kaum zugeben, aber von „DCIS" oder wie er das Ding genannt hatte, hatte sie noch nie gehört. Dabei war sie vertraut mit den Termini der Frauenheilkunde; schließlich waren es Frauen, die sie als Hebamme betreute. Aber sie hatte es meist mit gesunden Frauen im gebärfähigen Alter zu tun. Wenn es dramatisch wurde, dann, weil eine Geburt immer eine gefährliche Situation bedeutet, in der alles von einer Sekunde auf die andere kippen und es dann plötzlich um Leben und Tod gehen kann. Bei einer Ruptur der Gebärmutter zum Beispiel oder beim Ausbleiben der Plazentaablösung, wenn urplötzlich das Blut in einem fingerdicken Strahl aus der Vagina zu fließen beginnen kann. Mit Beklemmung erinnerte sie sich an die Frau, die sie in diesem Jahr verloren hatten, und an ihren Mann, der die Geburt seines dritten Kindes dennoch mit einer Geburtsanzeige in der Zeitung verkündet hatte, neben der Todesanzeige für seine Frau. Es war ihr wie ein Aufschrei und gleichzeitig wie unbändiger Lebensmut vorgekommen.

    Mit Brustkrebs hatte sie im Zusammenhang mit ihrer Arbeit noch nicht zu tun gehabt, obwohl sie wusste, dass es nicht ausgeschlossen war. Jugend und Schwangerschaft schützten nicht vor den Unwägbarkeiten des Lebens. In der letzten Ausgabe des Ärzteblatts waren mehrere Fälle beschrieben worden.

    „Wie furchtbar", hatte sie beim Lesen gedacht und es als ein unfassbares Foulspiel des Schicksals empfunden, dass eine Schwangere, deren Herzenszentrum das Ungeborene und die Verheißung gemeinsamen Lebens sein sollte, sich mit einer potenziell todbringenden Krankheit auseinandersetzen musste. Schwangere Frauen sollten tabu sein für Schläge des Schicksals. Sie sollten in sich ruhen, mit ihren Händen den dicken Bauch streicheln und sich in ihrem Inneren auf das Wunderbare vorbereiten dürfen, das ihnen bevorstand: das Begleiten eines Kindes auf seinem Weg vom Säugling zum selbstständigen jungen Menschen. Das Leben war nicht immer fair.

    „Und was genau bedeutet das für mich? Sei ehrlich. Sag mir alles. Bitte." Den Kopf gesenkt, wirkte sie verloren.

    Mühsam widerstand Paul dem Impuls, sie in die Arme zu nehmen. Stattdessen erklärte er es ihr, bemüht um die Sachlichkeit und Professionalität, die ihm in den vergangenen Monaten abhandengekommen war: „DCIS bedeutet Duktales Carcinoma in situ. Es ist eine Vorstufe von Brustkrebs. Zugegeben, es ist eine gefährliche Vorstufe, aber immer noch eine Vorstufe! Er machte eine Pause und sah Bianca forschend an. Drangen seine Worte durch zu ihr? „Wir haben es mit Krebszellen zu tun, die die Trennschicht zum Gewebe noch nicht durchbrochen haben und die deshalb auch nicht in die Umgebung einwachsen. Sie sind nicht invasiv, verstehst du? Er bemühte sich, Bianca begreiflich zu machen, dass man operieren müsse und dass man den betroffenen Bereich mit großem Sicherheitsabstand herausschneiden werde. „Man weiß, dass diese Krebszellen, die sich bei DCIS im Brustgewebe verteilen und keinen Tumor bilden, den man herausschälen könnte, bis zu vier Zentimeter weit springen können. Nicht jede einzelne von ihnen ist sichtbar auf den Mammografieaufnahmen. Deshalb operiert man um den erkennbar betroffenen Bereich mit einem Sicherheitsabstand von fünf Zentimetern und schneidet alles Gewebe weg."

    Sie schnappte nach Luft. Fünf Zentimeter. Was würde von ihrer Brust, für die BHs in B-Körbchen-Größe bereits an Hochstapelei grenzten, dann noch übrig sein?

    „Es geht also lediglich darum, ob man die halbe oder die ganze Brust entfernt?"

    Er zuckte zusammen. Wie sie das sagte.

    Wieder wollte er sie an sich ziehen, aber sie schüttelte ihn ab, ging weiter; den Kopf zwischen die Schultern gezogen, die Hände in den Taschen vergraben.

    „Warum hast du mir nichts gesagt?" Beinah hätte er es überhört, so tonlos sprach sie jetzt.

    Ja, warum nicht? Diese Frage hatte er sich selbst tausendmal gestellt. Es war so blauäugig von ihm gewesen. Ärzte behandeln keine Familienangehörigen. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Und daran hatte er sich gehalten. Niemals hätte er Bianca eigenhändig den Blinddarm entfernt. Aber eine Brustkrebsvorsorge? Warum sollte er die nicht machen? Keiner von ihnen hatte sich ausgemalt, was der Schock, eine ernste Diagnose stellen zu müssen, für sie bedeuten würde. Sie hatten natürlich gewusst, dass so etwas im Bereich des Möglichen lag. Sie waren nur nie davon ausgegangen, dass es sie treffen würde.

    „Es ist nicht so, dass man sofort etwas tun muss. So schnell verändert sich nichts bei einem solchen Befund. Als Erstes muss jetzt eine Probeentnahme gemacht werden. Ich habe dir für Freitag einen Termin in Düsseldorf besorgt."

    Sie starrte ihn an. „Ich werde bereits als Patientin in Terminkalendern geführt?"

    „Du musst diesen Termin nicht wahrnehmen, beeilte er sich zu versichern. „Du kannst sagen, wenn du woandershin willst. In Hannover kenne ich auch einen fähigen Kollegen. Wäre dir das lieber?

    Es war zwecklos. Ihre Erschütterung konnte er nicht mindern. „Da laufe ich ahnungslos durch die Welt, mache Pläne, wähne mich glücklich und währenddessen triffst du Vorbereitungen, mir die Brust abzuschneiden. In ihren Worten lag so viel Bitterkeit. „Du hast mich völlig entmündigt. Sie brach ab.

    Er wusste, dass sie recht hatte. Es war falsch gewesen. Aber er war dem Bedürfnis nicht entkommen, sie zu schützen, zu bewahren, zu schonen. Er hatte nicht nur sie, er hatte auch sich selbst geschont.

    „Ich weiß, aber ich ..., begann er lahm. Er fühlte sich so hilflos. Wollte sie daran erinnern, dass sie nicht gefragt hatte, „Du hast gesagt, du müsstest möglichst schnell weg; du warst verabredet mit einer Kollegin, auf einen Eisbecher in der Stadt und dass er es dann von einem Tag auf den anderen verschoben hatte. „Ich habe gedacht, nach dem Urlaub ist es auch noch früh genug. Du hast dich doch so auf die Reise gefreut."

    Sie schnaubte verächtlich. Die Reise! Als wenn das noch wichtig wäre, wenn das Wort Krebs im Raum stand.

    Plötzlich sagte sie: „Als Inge und René uns im August besucht haben, da hast du es bereits gewusst. Was hast du gedacht, als wir die Radtour gemacht haben, beim Grillen, wenn wir gequatscht und gelacht haben? Was hast du da gedacht? Ihre Augen weiteten sich. „Und wenn wir miteinander geschlafen haben, hast du dir dann vorgestellt, dass es meine Brust bald nicht mehr geben wird? Dass sich dort bald Narben- anstelle von Brustgewebe befinden würde? Sie merkte, dass sie dabei war, in eine medizinische Begriffswelt abzurutschen, um das Unaussprechliche hinter distanzierter, vertrauter Sprache zu verstecken.

    „Nein, so war das nicht. Ich weiß nicht, ich ..." Ratlos breitete er seine Hände aus und ließ sie wieder sinken. Er wusste es wirklich nicht. Irgendwann hatte er aufgehört, seine Gedanken ständig um die Bedrohung kreisen zu lassen. Manchmal hatte er nachts wach gelegen und ihren Atemzügen gelauscht und die Angst hatte ihm die Brust zugeschnürt. Aber manchmal hatte er es auch vergessen können.

    Er sah sie ihre Schultern straffen und die Schritte beschleunigen. „Ich fahre zu Inge." Ihre beste Freundin. Sie musste reden, sich das Entsetzen, die Bestürzung, die Angst von der Seele reden. Er verstand sie. Aber bis zu Inge waren es mehr als 100 Kilometer ...

    „Soll ich mitkommen?", fragte er leise.

    Bianca antwortete nicht. Mit gesenktem Kopf schaffte sie Abstand zwischen ihnen, pfiff die Hunde zu sich und ließ sie bei Fuß gehen. Sie hatte keine Ahnung, ob sie wollte, dass Paul mit ihr zu Inge fuhr oder ob sie lieber allein sein wollte. Fieberhaft rotierten ihre Gedanken. Brustkrebs. Das Wort an sich war bösartig, bedrohlich, undenkbar. Sie wollte weg, weg von diesem Wissen. Sie wollte keine Termine in Düsseldorf oder Hannover oder sonst wo. Sie wollte ihr Leben zurück. Ihr Leben, das hundert Meter weiter hinten vollkommen in Ordnung gewesen war. Sie hatte sich Gedanken gemacht, was sie am Abend gemeinsam kochen konnten und welcher Tatort-Kommissar heute Dienst tun würde.

    Tatörtchen gucken, das war es gewesen, worauf sie sich gefreut hatte, wenn Paul keine Gäste zum Abendessen hätte einladen wollen. Und nun? Der Sonntagskrimi war ihr so was von egal und essen würde sie heute bestimmt nichts mehr. Nie mehr, jedenfalls überstieg es ihre Vorstellungskraft, so hohl, wie sich ihr Inneres anfühlte.

    Zu Hause fütterte sie die Hunde, füllte den Trinknapf mit frischem Wasser und wunderte sich, dass sie angesichts des Chaos in ihrem Innersten die Übersicht behielt. Wortlos schnappte sie sich den Autoschlüssel und rang sich durch zu einem gemurmelten „Wenn du willst, dann lass uns gemeinsam fahren." Sie wusste, dass sie in diesem Moment Weichen stellte. Und sie wusste, dass sie Paul brauchen würde. Auch wenn sie jetzt, in dieser Sekunde, das Alleinsein ebenso intensiv herbeisehnte wie seine Nähe. Wenn sie sich nicht entscheiden konnte, dann konnte er ebenso gut mitkommen und sie konnte sich die Baustelle einer Beziehungskrise zumindest fürs Erste ersparen.

    Pauls Erleichterung war beinah greifbar. Die ganze Zeit über hatte er stumm im Flur gestanden, hatte seinen Mantel nicht ausgezogen und jeden ihrer Schritte mit den Augen verfolgt. Sie hatte es gemerkt, aber nichts gesagt.

    Auf dem Weg zur Garage bot er an zu fahren und Bianca reichte ihm wortlos die Autoschlüssel. Schweigend stiegen sie ein und schweigend ließen sie Kilometer um Kilometer hinter sich.

    Bianca tippte eine SMS an Inge ins Handy, in der sie ihr Kommen ankündigte. Ihr wurde bewusst, dass es ihr beinah gleichgültig war, ob sie Inge antreffen würde. Sie hatte keine Pläne mehr. Sie wusste nicht, was sie wollte. Reden oder sich verkriechen. Sie klappte das Handy zu und sah aus dem Fenster.

    „Kannst du mich mal anschauen?" Paul wagte einen unbeholfenen Gesprächsbeginn, der sie aus der Starre dieses Schweigens erlösen sollte.

    Bianca schüttelte den Kopf.

    Aber zehn Kilometer später fragte sie plötzlich: „Was heißt DCIS? Wofür steht das? Erklär es mir noch einmal, bitte."

    Paul verbarg seine Erleichterung darüber, dass er sich für den Moment auf sicherem Terrain würde bewegen dürfen. Wie oft schon hatte er Patientinnen ihre Befunde erläutert. Allerdings hatte ihn niemand je darauf vorbereitet, dies bei seiner eigenen Frau zu tun. Sofort war das Unbehagen wieder da und breitete sich in seinem Inneren aus wie klumpender Brei. Er wiederholte, was er ihr auf dem Spaziergang bereits erklärt hatte. Womöglich war sie im ersten Schock nicht in der Lage gewesen, ihm zuzuhören.

    „Duktales Carcinoma in situ", sagte er.

    Bianca hörte nur Carcinoma und spürte, wie ihr Herz sich noch ein Stück weiter verknäulte und ins Innerste zurückzog. Wo war Schutz vor diesem Grauen?

    „Du musst mir glauben, Bianca, es ist kein richtiger Krebs. Es ist eine Vorstufe. Zugegeben, die Sache ist ernst, denn die Krebszellen, die sich in deiner Brust gebildet haben und im Moment an Ort und Stelle bleiben, ohne einen Tumor oder gar Metastasen zu bilden, sind schwer einschätzbare, unberechenbare kleine Biester. Sie halten sich nicht unbedingt an eine Politik der kleinen Schritte. Es ist möglich, dass sie niemals den nächsten Schritt tun und der Befund dein ganzes Leben lang unverändert bleibt."

    Nun sah sie ihn doch an. Die Augen voller Misstrauen, die Stirn gerunzelt. Sie glaubte ihm nicht.

    Paul nickte. „Ja, ich weiß, das hört sich eigenartig an, aber genau so ist es. Vielleicht würdest du nie Brustkrebs bekommen, auch wenn wir alles so lassen würden, wie es ist. Vielleicht hättest du aber auch in einem halben Jahr oder wann auch immer plötzlich einen Tumor, der dein Leben bedroht. Noch gibt es keine diagnostischen Möglichkeiten, um herauszufinden, wie diese Zellen in deinem Körper sich verhalten werden, und das macht die Einschätzung so schwierig. Deshalb operiert man so radikal. Um auf Nummer sicher zu gehen, verstehst du? Und das ist doch das, was du willst: Sicherheit, oder? Er holte Luft, nahm sich die Zeit, langsam und hörbar auszuatmen, bevor er fortfuhr: „Es ist nicht leicht, was du vor dir hast, ich weiß aber, es wird alles gut. Das verspreche ich dir.

    Wenn er etwas von dem Hohn und der Abneigung geahnt hätte, die Bianca bei dem Wort versprechen empfand, hätte er sich erschrocken. So aber konzentrierte er sich auf den Verkehr, entschied sich für den Tempomat, ließ den Wagen mit gleichbleibender Geschwindigkeit dahingleiten und hoffte, dass seine Worte sie erreicht hatten. Bianca hatte den Kopf weggedreht und sah aus dem Fenster. Er wusste nie, woran er war, wenn sie so drauf war wie jetzt.

    Inge war nicht zu Hause. Am Ende waren sie mehr als 200 Kilometer gefahren, die meiste Zeit schweigend. Ohne Worte ging Bianca nach ihrer Rückkehr sofort die Treppe hinauf ins Schlafzimmer. Sie tat, was sie niemals sonst tun würde: Sie verzichtete auf alles, sogar aufs Zähneputzen. Im Bett zog sie die Decke über den Kopf, rollte sich auf die Seite, zog Beine und Arme in engen Winkeln an den Körper und wunderte sich, dass die Tränen, die ihren Hals verkrampften und sich dort verknotet hatten, nicht fließen wollten.

    Später vermochte sie sich kaum an die auf diesen Novembersonntag folgenden Tage zu erinnern. Sie bombardierte Paul Abend für Abend mit Fragen, nutzte aus, dass er ein schlechtes Gewissen hatte, und bemühte sich erst gar nicht um Freundlichkeit. Sie war anstrengend. Das war ihr bewusst, aber sie wollte es nicht ändern.

    Die Entnahme einer Gewebeprobe ließ sie über sich ergehen, nahm den Termin wahr, den Paul ohne ihr Wissen vereinbart hatte. Sie hatte aufgegeben, sich gegen die Bevormundung zu wehren, weil sie ihre Kraft für das Überstehen jedes einzelnen Tages brauchte. Nichts blieb übrig für Auseinandersetzung. Nicht jetzt.

    Auf ihrer Suche nach Information war sie im Internet auf eine Doktorarbeit gestoßen, die das Beängstigende in emotionsloser Fachsprache darlegte. Einerseits abgestoßen und verschreckt und gleichzeitig unwiderstehlich angezogen von allem, was es zum Thema Gewebeprobe bei DCIS gab, hatte sie sich gezwungen zu lesen und sich nichts von der Beschreibung des Vorgehens erspart. Kalt vor Entsetzen hatte sie in ihr Bewusstsein eindringen lassen, was ihr bevorstand.

    Paul begleitete sie in die Klinik, wartete mit ihr auf dem Flur vor dem Untersuchungszimmer, wo gelbes, nüchternes Licht den lang gestreckten Gang erhellte. Mehrere Tische mit je zwei Stühlen drängten sich an der Wand, ihren Benutzern einen Platz zum Sitzen und die Lektüre verschiedener Fachzeitschriften zum Thema Brustkrebs anbietend. Ihr war schlecht.

    Dann fand sie sich auf dem speziellen Untersuchungstisch wieder und alles war wie beschrieben: Sie lag auf dem Bauch, die mit einem Lokalanästhetikum betäubte Brust hing durch eine Öffnung im Tisch nach unten, aufgespießt von der Hohlnadel, die, begleitet von irritierenden Geräuschen, in ihrer Brust rotierte und die Gewebeproben sammelte. Manchmal tat es so weh, dass sie ein Stöhnen nicht unterdrücken konnte. Sie fühlte sich ausgeliefert und mit einem Gefühl von Alleinsein erfüllt, das sie nicht kannte. War das so, wenn man Patient war? Nahmen ihre eigenen Patientinnen das ähnlich wahr?

    Bisher hatte Bianca sich darüber wenig Gedanken gemacht. Es überstieg ihre Vorstellungskraft. Nie war sie krank gewesen, jedenfalls nicht ernsthaft. Ein Riss der Achillessehne und wochenlang Gips hatte zu der einzigen krankheitsbedingten Abwesenheit in ihrer Berufslaufbahn geführt, abgesehen von grippalen Infekten, die sie mit penetranter Regelmäßigkeit im Winter heimsuchten. Aber vermutlich lagen Welten zwischen dem, was ihre Frauen im Kreißsaal durchlebten und ihrer eigenen Erschütterung. Ein Kind zur Welt zu bringen war trotz allen Schmerzes, der Bedrohung unvorhergesehener Komplikationen und der manchmal operationsähnlichen Atmosphäre im Kreißsaal mit ziemlicher Sicherheit nicht mit dem hier zu vergleichen. Dankbar registrierte sie die anteilnehmende Freundlichkeit des Personals, und als Dr. Gras im Lauf der Untersuchung seine Hand mitfühlend auf ihren Arm legte, war sie den Tränen nahe.

    Das Ergebnis bestätigte die Diagnose und Biancas Empfinden. Tag für Tag war ihre Gewissheit gewachsen, dass Pauls Einschätzung stimmte und sie hätte keinem entwarnenden Befund geglaubt. Jetzt nicht mehr.

    Sie hatte nichts geahnt und nichts gespürt. Wie auch? Es gab keinen tastbaren Befund. Die Krebszellen hatten still und leise ihren Platz eingenommen, ohne Schmerzimpulse auszusenden. So waren sie. Hinterhältig und gemein. Manchmal wusste Bianca nicht, ob ihr Zorn sich gegen die Krankheit oder gegen Paul richtete, der sie monatelang getäuscht hatte. Sie quälte sich mit der Frage, wie es möglich sein konnte, dass man neben- und miteinander lebte, ohne von den Sorgen des anderen etwas mitzubekommen. Denn Sorgen hatte Paul sich gemacht. Hinter seinem Schweigen steckte keine Gleichgültigkeit. Eher ein falsch verstandener Beschützerinstinkt.

    Als sie Inge endlich gesprochen und ihr von dem Ungeheuerlichen erzählt hatte, hatte sie mit Verwunderung deren Reaktion vernommen. „Wie sehr muss er dich lieben, dass er das für sich behalten hat!"

    Gerade von Inge, die viel Wert auf Eigenständigkeit und Gleichberechtigung in ihrer Beziehung zu ihrem zweiten Mann René legte, hatte Bianca anderes erwartet. Empörung vielleicht, Ärger, Ablehnung. Nie im Leben Verständnis, beinahe Bewunderung für Pauls Verhalten.

    In einem Winkel ihres Herzens konnte sie Pauls Leid und seine Qual wahrnehmen, die damit einhergingen, dass er diesen Kreislauf aus Angst, Schmerz und Traurigkeit in Gang gesetzt hatte, der unweigerlich über sie hereingebrochen war.

    Meist aber überwog das Gefühl des Verrates. Bianca schämte sich ihrer Naivität der Unwissenden und hatte gleichzeitig keine Kraft, sich diesem Gefühl zu stellen. Es hätte bedeutet, dass sie den Blick in die Vergangenheit richtete, wo doch Gegenwart und Zukunftsangst alles von ihr forderten. Sie ließ die Fragen zum Wert ihres Miteinanders ruhen, nahm alles Umsorgen, alle mitfühlende Behutsamkeit, alle Zartheit von Paul entgegen und vertraute darauf, dass sie mit der Zeit klarer sehen würde.

    Die Operation, für deren Planung und detaillierte Vorbereitung man die zwölf Gewebeproben aus ihrer Brust entnommen hatte, fand Ende November statt, in der Woche vor dem ersten Advent. Lichterketten baumelten an der stattlichen Fichte vor der Klinik und warteten im Dauerregen auf ihren Einsatz. Vereinzelt entdeckte Bianca auf den Fluren Tannengestecke, aus denen knallrote Holznikoläuse und Kerzen ragten, die niemals angezündet wurden. Die Tür zur Strahlenabteilung war übersät mit Goldpapiersternen. Es berührte sie seltsam, an diesem Ort Symbole der Vorfreude auf Weihnachten zu finden. Nichts war hier weniger vertreten als Freude. Sie hatte noch keine Mitpatientin lächeln sehen, selbst die Freundlichkeit der Angestellten wirkte deplatziert. Bianca gab sich Mühe, wenigstens ein Minimum an Entgegenkommen zu zeigen. Es fiel ihr schwer. Sie hob ihre Augen nur selten, atmete, wartete, nahm wenig wahr. Das junge Mädchen mit seiner Mutter, das im Wartezimmer neben ihr Platz nahm, erregte für einen Moment ihre Aufmerksamkeit und sie fragte sich, was für eine Erkrankung diesen Teenager getroffen haben mochte. Dann versank sie wieder in ihrer Erstarrung, in Grau und Kälte.

    Dr. Gras war nett. Sie nahm ihm seine Anteilnahme ab. Er vermittelte den Eindruck, dass seine Patientinnen ihm nicht egal waren. Sie lagen ihm am Herzen. Wie Paul. Vielleicht hatte er ihn deshalb empfohlen. Weil sie auf einer Wellenlänge lagen.

    Dr. Gras nahm sich Zeit, ihr die verschiedenen Möglichkeiten des operativen Vorgehens zu erläutern. Man könne brusterhaltend operieren, was aber in ihrem Fall ein kosmetisch wenig erstrebenswertes Ergebnis bringen würde „Ihre Brust ist klein, da bleibt nicht viel übrig." Den Brustrest würde man bestrahlen. Ob sie sich mit der Möglichkeit einer Mastektomie, einer Amputation der Brust, auseinandergesetzt habe?

    Damit war das Wort gesagt und hatte Einzug in ihrem Leben gehalten. Wie ein Gesteinsbrocken, zu massiv, als dass man ihn hätte fortbewegen können, baute es sich mitten unter ihnen auf. Bianca nickte und gestand, dass sie Stunde um Stunde im Internet recherchiert und sich allem gestellt hatte, was sie fand. Sie hatte sich die Zahlen angesehen, die Überlebenszeit. Vermutlich war diese Spalte für alle Betroffenen der entscheidende Wert, der alles entscheidende Wert. Sie hatte von der Notwendigkeit einer anschließenden Bestrahlung bei einem brusterhaltenden Operationsverfahren gelesen und immer wieder wie magisch angezogen auf die Spalte geschielt, in der von einer Mastektomie die Rede war. Nach der kompletten Entfernung der Brust wurde auf eine Bestrahlung verzichtet. Die Rezidivrate war niedrig.

    Dr. Gras sprach von Heilung. Was für ein Wort in diesem Strudel aus Angst und Verunsicherung! Auch die Möglichkeit eines Brustaufbaus erwähnte er, aber „frühestens in einem halben Jahr". Bianca war es recht. Sie war nicht in der Lage, über die Operation hinauszudenken. Sie hatte Angst und quälte sich nachts in schlaflosen Stunden mit der Vorstellung der Eingriffsdetails. Manchmal packte sie das Grauen und sie wäre sonst wohin geflüchtet, hätte es einen Ausweg gegeben. Sie würde sich durchringen zu dem, was angeblich notwendig war, um ihr Leben zu retten. Mit allem anderen sollte man sie in Ruhe lassen.

    Am Morgen der Operation weinte sie. Sie hatte nicht gewusst, dass man bitterlich weinen konnte, ohne eine einzige Träne

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