Die Hansen-Melancholie: Ein Erzählzyklus
Von Dirk Schmoll
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Über dieses E-Book
Hansens Melancholie erheitert häufiger als dass sie ansteckt. Ein Erzählzyklus, so scharfsichtig und geistvoll geschrieben, so nah an uns allen, erschreckend nah. Herr Hansen steckt in uns, und zuweilen spüren wir die Sehnsucht, mit ihm auszubrechen.
Dirk Schmoll
Dirk Schmoll, geboren 1959 in Wiesbaden, aufgewachsen in Sankt Augustin. Studium in Bonn, Marburg und München. Doktor der Medizin, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Seit 1994 leitender Oberarzt an einem Allgemeinkrankenhaus in Berlin. Lehrtätigkeit in einem psychotherapeutischen Weiterbildungsverbund sowie langjährig an einem kunsttherapeutischen Institut. Koautor einer Essaysammlung zum Thema Selbstermutigung durch Kunst. Autor zahlreicher Erzählungen, eines Hörspiels und eines Kinderbuchs. Publikation in Anthologien. Preisträger auf dem Kulturfestival art.experience 2014 und 2018 in Baden/Niederösterreich. Dirk Schmoll ist verheiratet und hat vier Kinder.
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Buchvorschau
Die Hansen-Melancholie - Dirk Schmoll
„Wünsche sind schließlich nicht dazu da, um erfüllt zu werden."
„Bist du immer so misstrauisch?", will sie wissen.
„Nein, nur gegenüber Frauen, die mich treffen wollen, erwidert Herr Hansen. „Wer ein offenes Herz hat, kann leicht verbluten.
„Wenn das Abendland so lautlos unterginge wie die Sonne, wäre ich zufrieden, meint Herr Hansen zu seinem Schulfreund Christian. „Ach Dieter
, erwidert dieser, „du hast deine Tabletten wieder nicht genommen!"
INHALT
Prolog
Wie lange blühen die dunklen Rosen?
Ein Hund zieht ein
Angst vor dem Sieg
Ein Flüchtling taucht unter
Betrüger und Betrogene
Auf der Suche nach Kafkas Sohn
Begegnung mit einer Heiligen
Gefangen in einer vergessenen Stadt
Wohin mit Mutters Stühlen?
Mutter Hansen kreuzt im Mittelmeer
Ein kurzer Abschied am Ende eines langen Lebens
Streit um ein Steak
Lässt Herr Hansen sich verführen?
Wie sich Zeit gewinnen lässt
In der Bibliothek der ungedruckten Bücher
Der alte Chef lädt zum Diner in sein neues Haus am See
Musen küssen nicht so schnell
Elchtest im Schnee
Immer schneller dreht sich die Welt
Herr Hansen fürchtet die Fremden
Ist Herr Hansen noch zu retten?
Flug in die Wolken
Totholz am Baum des Lebens
Hansen im Glück
Epilog
PROLOG
Das erste Mal sah ich Herrn Hansen, als er vor einem Blumengeschäft stand. Dieser damals 35-jährige, gut aussehende Mann blickte so sehnsüchtig durch das Schaufenster, dass es mich rührte. Natürlich war mir sofort klar, dass diese Blicke nicht den Rosen, sondern der jungen Verkäuferin galten. Ich bin von Berufs wegen neugierig und als Autor immer an Liebesgeschichten interessiert. Um dieses Brennen in der Brust sollen uns sogar die Engel beneiden!
Herrn Hansen habe ich gleich gemocht. Er ist ein scheuer Charakter, fleißig und von guter Wesensart. Obwohl er zur Melancholie und zu Tagträumen neigt, wird er als Referent im Wirtschaftsministerium sehr geschätzt.
Ich habe ihn über die nächsten dreißig Jahre durchs Leben begleitet. In dieser Zeit ist er mir ans Herz gewachsen. Ich habe seine Eltern, seine Lebensgefährtin und seine Frau, den Adoptivsohn Richard mit dessen Freundin Olga und den alten und neuen Chef kennen gelernt. Er hat einige Schicksalsschläge einstecken müssen, doch er hat sie überstanden, weil es Menschen gab, die ihm halfen.
WIE LANGE BLÜHEN DIE DUNKLEN ROSEN?
„Welch herrliche Rosen!", schwärmt eine Frau im Treppenhaus und wirft Herrn Hansen einen sehnsüchtigen Blick zu.
„Ja!", erwidert er und hätte ihr beinahe eine geschenkt, so glücklich ist er. Doch vielleicht bringt es Unglück, den Strauß zu zerpflücken, schießt es ihm durch den Kopf, außerdem könnte dies Verwirrung stiften.
„Die sind bestimmt für Eva", sagt die Frau.
Ja, die sind für Eva", antwortet er und stapft an ihr vorbei die Treppe hoch.
Seine Freundin schaut ihn verwundert an: „Das ist das dritte Mal, dass du mir in diesem Monat Rosen bringst, Dieter. Und immer dieselbe Sorte, diese dunklen, die so aussehen, als bluteten sie."
„Gefallen sie dir nicht?"
„Doch, doch! Aber sie verblühen so schnell."
„Du musst sie schräg anschneiden und ihnen täglich frisches Wasser geben. Da sie so große Blüten haben, sind sie besonders durstig." So hat die Blumenverkäuferin es ihm erklärt.
„Das tue ich doch!, verteidigt sie sich. „Aber vielleicht mache ich es nicht richtig.
Sie reicht ihm ein Obstmesser und hält ihm die Stiele entgegen. „Bitte sehr, zeig es mir!"
Mit Hingabe zieht er die Klinge zwei Daumen breit schräg über die festen Stengel. Bei der letzten Blume rutscht er ab und schneidet sich in den Finger. Er steckt die Rosen in die gläserne Vase, die Eva ihm bringt. Dabei tropft Blut ins Wasser. Er schaut zu, wie es nach unten sinkt und sich auflöst. Vielleicht ist das die richtige Nahrung, die die Blumen länger am Leben erhält, denkt er und wundert sich über diesen seltsamen Einfall.
Sie klebt ihm ein Pflaster auf die Wunde und einen Kuss auf die Lippen. „Du kommst immer mit Blumen, als wolltest du mein Herz erobern. Aber das gehört dir schon! Du würdest mich mehr erfreuen, wenn du eine Wohnung für uns findest."
„Ich weiß, sagt er, „aber das ist schwierig. Wir wollen ja nicht irgendeine Wohnung. Sie soll sonnig sein, gut geschnitten, nicht zu laut, möglichst mit Grünanlage in der Nähe, dabei zentral gelegen mit schicken Restaurants, Kino, Theater - und nicht zu teuer. Ich halte die Augen und Ohren offen. Nun, wir haben ja keinen Zeitdruck, oder?
„Na ja. Wir sind beide fünfunddreißig, und ich möchte bald ein Kind."
„Ich weiß, sagt er wieder. Nachdenklich schaut er zu Boden. Was hat die Wohnung mit den Rosen zu tun? „Ich suche eben erst die Blumen aus und dann die Wohnung, die dazu passt
, witzelt er. Welche Frau freut sich nicht über Blumen? Manchmal ist sie so rational. Vielleicht spüren das die Rosen und können deshalb bei ihr nicht blühen. Auf die Verkäuferin lässt er jedenfalls nichts kommen. Die hat gewiss keine Schuld. Sie ist doch keine Betrügerin, die Blumen verkauft, die verblühen, sobald man sie zu Hause in die Vase steckt! Das kann sich keiner leisten, erst recht nicht die Afrikanerin, die das Geschäft mit ihrer Tochter übernommen hat. Zugegeben: In diese Rosen hat er sich verliebt! Ist Eva auf sie etwa eifersüchtig?
Auch Eva fragt sich, was es mit diesen Rosen auf sich hat. Damit kommt er daher wie ein Schauspieler, der die Liebe nur spielt, weil er verliebt sein will. Will er mit ihr überhaupt zusammenziehen? Will er Kinder? Er wird immer so still, wenn sie davon spricht. Was will er ihr durch die Blume sagen?
Ihre Blicke treffen sich.
„Manchmal weiß ich gar nicht, ob du mich ... richtig liebst. Die Blumen, nimm es mir nicht übel, kommen mir wie eine Entschuldigung vor."
„Eine Entschuldigung? Wofür, bitte sehr, sollte ich mich denn entschuldigen?"
„Das weiß ich eben nicht. Vielleicht fehlt dir bei mir etwas, ohne dass du es selber weißt."
„Oh, du denkst wieder so kompliziert, wie eine Psychologin eben. Schalte mal ab von deiner Arbeit. Ich bin nicht dein Patient. Mich brauchst du nicht zu analysieren."
„Das ist nicht Psychologie, sondern weibliche Intuition."
„Was soll ich als Mann dagegen sagen?"
„Nichts. Sag einfach die Wahrheit!"
„Das ist ja ein richtiges Verhör!, schimpft er. „Und das nur, weil ich dir Rosen geschenkt habe. Am besten nehme ich sie gleich wieder mit. Sie scheinen uns kein Glück zu bringen.
Je länger sie reden, desto trüber wird die Stimmung. Obwohl sich beide bemühen, finden sie keinen Ausweg. Bevor noch mehr Unheil entsteht, will er die Nacht lieber alleine zu Hause verbringen. Die Rosen gibt sie ihm mit.
Am nächsten Morgen sind alle Knospen auf einmal aufgeblüht. Ob sich schnell blühende Rosen züchten lassen? Das müsste er die Tochter der Verkäuferin fragen. Er fasst einen Plan. Durch das Schaufenster sieht er sie im Gespräch mit einem Kunden, auf den er sofort eifersüchtig ist. Der Mann lässt sich von ihr die verschiedenen Sorten zeigen, die gelben, die orangenen, die hellroten und zuletzt die blutroten, die (ist es ein Zufall?) dieselbe Farbe haben wie ihre Lippen. Sie freut sich, als der Kunde auf die dunkelroten deutet. Um nicht gesehen zu werden, tritt Herr Hansen ein paar Schritte zur Seite. Er kritzelt etwas in sein Notizbuch, reißt die Seite heraus und faltet sie zusammen. Dann tritt er ein. Als erstes begrüßt er die Mutter, die an der Kasse steht und die Tochter beobachtet. Auch die Mutter muss früher sehr hübsch gewesen sein, denkt er. Wie verlebt sie jetzt aussieht! Er bedauert, dass sie noch arbeiten muss. „Ich möchte zu den Rosen", erklärt er ihr. Sie nickt ihm freundlich zu. Wie eine Biene auf der Suche nach dem süßesten Nektar nähert er sich im Zickzack dem Bottich mit den fleischigen Blüten. Tausendfach leuchtet ihr Lippenrot. Ungeduldig wartet er, bis der Käufer mit seinen Rosen zur Kasse geht. In diesem Moment drückt er ihr den Zettel in die Hand und bittet sie, ihm eine Rose auszusuchen. Wortlos reicht sie ihm eine mit besonders vielen Knospen. Er bedankt sich, zahlt und verlässt das Geschäft.
Aufgeregt wartet er in einem nahe gelegenen Weinlokal auf sie. Die Rose liegt schräg vor ihm auf dem Tisch. Er schaut auf die Uhr. In einer halben Stunde, um achtzehn Uhr, schließt das Geschäft. Dann könnte sie zehn Minuten später hier sein. Was soll werden, wenn sie seiner Einladung folgt? Er ist doch kein Verführer, und von Eva trennen will er sich auf keinen Fall. Sie sind jetzt schon sieben Jahre zusammen. Eva ist rein wie ein Bergkristall. Sie ist hübsch, klug und treu. Mit ihr kann er getrost eine Zukunft aufbauen und später einmal eine Familie gründen. Worum ging es überhaupt bei dem Streit? Wenn einer von ihnen daran Schuld trägt, dann er. Das gesteht er sich ein. Wieso waren ihm die Rosen plötzlich wichtiger als die gemeinsame Wohnung? Will er denn nie erwachsen werden, immer das Hänschen bleiben?
Andere Gedanken drängen sich dazwischen. Ob die junge Rosenfrau einen Freund hat? Hoffentlich, denkt er und wünscht zugleich das Gegenteil. Ihr Deutsch ist akzentfrei, so dass sie wohl hier geboren ist. Unter welchen Umständen mag die Mutter herübergekommen sein, und wo ist der Vater? Wann haben sie den Blumenladen eigentlich eröffnet? An solchen Geschäften geht er normalerweise achtlos vorbei. Für sich selbst würde er niemals Blumen kaufen. Es war reiner Zufall, dass sein Blick durch die Scheibe fiel. Als er diese Frau sah, wäre ihm fast das Herz stehen geblieben. Im Laden konnte er nur stammelnd um einen Strauß Rosen bitten.
Der Ober bringt die bestellte Karaffe mit zwei Gläsern und füllt das eine. Herr Hansen nippt abwechselnd am Wein und schaut auf die Uhr. Pünktlich um zehn nach sechs sieht er sie kommen. Die Schlagzahl seines Herzens verdoppelt sich. Es erleichtert ihn, wie ungezwungen und unschuldig sie ihn begrüßt. Schnell sind sie beim ,Du' und stoßen darauf an. Sie heißt Anna und lebt noch bei ihrer Mutter. Als er nach ihrem Alter fragt, lacht sie kokett und lässt ihn raten. Obwohl er sie eher auf dreißig schätzt, sagt er „fünfundzwanzig. Sie schüttelt heftig den Kopf, so dass ihre schwarzen Locken umherfliegen. Er zählt, als wäre es ein Spiel, in Zweier-Schritten abwärts, bis sie ihm zuflüstert: „Siebzehn!
Er schaut sie ungläubig an.
„Weißt du, ich bin wie eine der dunklen Rosen, die du so magst. Sie blühen schnell auf ..." Sie bricht ab und schluckt. Ob Eva doch Recht damit hat, dass sie so schnell verblühen? Da sie schweigt, fragt er nach, wobei er sich möglichst unbefangen gibt:
„Wie lange blühen sie denn?"
„Wie lange blühen sie denn bei dir?" Sie schaut ihn erwartungsvoll an.
„Ach, ich weiß nicht, lange genug jedenfalls."
„Das freut mich. Aber was ist lange genug? Ist es nicht immer zu kurz?"
„Nun ja, aber das ist doch nicht deine Schuld!" Wie seine Wangen brennen.
„Das zwar nicht, aber ... ach, ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll."
„Versuch es!"
„Also, ich glaube, diese Rosen haben etwas mit mir gemeinsam. Es mag seltsam für dich klingen: Ich denke, wir sind aus demselben Stoff gemacht. Erklären kann ich dir das nicht. Ich glaube ja nicht mehr an die Geister, von denen meine Großeltern und auch meine Mutter noch erzählten, aber ... irgendeinen Stoff oder eine Energie muss es doch geben, aus dem alles wächst und entsteht, was uns verbindet. Es muss etwas mit meinem Blut zu tun haben. Das Blut könnte mit ihrem Saft in Verbindung stehen. Glaubst du, dass Pflanzen eine Seele haben?"
Er zuckt die Schultern. Unter anderen Umständen hätte er die Frage sofort verneint, hätte sie gleich als esoterisch abgetan. Doch jetzt zögert er. Er weiß gerade nicht mehr, was er denken soll. Er hätte in diesem Moment wohl auch nicht widersprochen, wenn sie sich selbst als Pflanze bezeichnet hätte. Ihm fällt ein, was er vor kurzem gelesen hat: Man hat einer Blume das Geräusch des Flügelschlags einer Biene vorgespielt. Als Reaktion darauf hat man bei ihr einen süßeren Nektar gemessen. Wenn Blumen hören können, warum dann nicht auch fühlen wie ein beseeltes Wesen?
„Ich glaube an die Seele meiner Rosen, bekennt sie. „Ich spüre, dass sie mit mir verwandt sind.
Die Poesie ihres Denkens gefällt ihm. Wie beruhigend muss es sein, die Welt als ein Geflecht zu betrachten, in dem kein Ding für sich alleine existiert, kein Wesen einsam ist. Dann gäbe es keinen Zufall, nicht diese grausame Gleichgültigkeit des Schicksals. Nach diesem Weltbild musste er sie hier treffen und hat sich nichts vorzuwerfen.
Um das zu glauben, ist er gerne bereit, sich naiver zu stellen als er ist. Nun stockt das Gespräch. Wie geht es jetzt weiter, was steht im Drehbuch? Hilfe, wo ist der Regisseur? Vor seinem inneren Auge fliegt eine Biene, landet auf einer Blüte und steckt ihren Rüssel hinein. Alles würde er dafür geben, sie jetzt zu umarmen, wenigstens einen Atemzug lang ihre dunkle Haut zu riechen und über ihr fein gekräuseltes Haar zu streichen. Dieser Gedanke erregt ihn. Doch bloß nichts überstürzen! mahnt eine innere Stimme. Wer den Kopf in den Wolken trägt, sollte nicht gleich das Blaue vom Himmel versprechen. Nicht nur die Blumen brauchen Zeit zum Blühen, auch die Liebe. Aber das stimmt ja gar nicht, denkt er. Die Liebe ist plötzlich da wie ein Überfall. Sie ist ein wildes Tier, das in seiner Brust tobt und heraus will aus dem knöchernen Verlies.
Diese gemeine Stimme hat ihn ganz aus dem Konzept gebracht. Er bringt kein Wort mehr heraus. Mit letzter Kraft zwingt er sich zur Selbstbeherrschung und hält ihr mit einer Geste, wie von Charlie Chaplin abgeschaut, stumm die Rose hin. Dann bittet er stockend um ein Wiedersehen. „Ich freue mich, wenn du die Rosen nur bei mir kaufst", erwidert sie und lacht.
Sie stehen draußen vor dem Lokal. Jetzt wäre die Gelegenheit zu einem Abschiedskuss. Doch er zaudert. Da öffnet sie mit einer winzigen Drehung ihres Körpers, so zart, wie es nur eine Frau kann, das Feld. Sie wendet sich ihm ganz zu und deutet, sichtbar nur für den, der dafür empfänglich ist, ein Ausbreiten der Arme an. Ein Zucken nur, eine Hingabe en miniature. Da strecken sich seine Arme, ohne auf seine Erlaubnis zu warten, und seine Hände, die auf einmal Flügel haben, drücken die schöne Gestalt vorsichtig wie ein zerbrechliches Vögelchen gerade so dicht zu sich heran, dass er ihre Brüste spüren kann. So verharrt er mit geschlossenen Augen, die Lippen an ihrem Haar. Ein Hauch von Rosenwasser umweht ihn. Nach einem Moment, einer seligen Ewigkeit, spürt er einen sanften Gegendruck. Sofort gibt er sie frei. War er zu aufdringlich, zu unbeherrscht? Sie schenkt ihm noch ein Lächeln, dann gehen sie in entgegengesetzten Richtungen davon. Nach ein paar Metern dreht er sich nach ihr um. Ihre Hüften, die nicht so ausladend sind wie bei Eva, nicken ihm bei jedem Schritt zu.
Zu Hause stellt er verblüfft fest, dass seine Uhr um 18 Uhr 10 stehengeblieben ist, genau in dem Moment also, als sie ins Lokal trat. Er fasst sich an den Kopf. Die Uhr hat doch kein Bewusstsein. Sie kann doch nicht auf seinen Wunsch reagiert haben, die Zeit anzuhalten. Oder ist hier eine höhere Macht im Spiel?
In den nächsten Tagen fühlt er sich wie betrunken. Anna ist so rätselhaft, fremd und exotisch. In Gedanken erzählt er ihr aus seinem Leben und zeigt ihr alles, was er sieht. Es erregt ihn, wenn er sich vorstellt, wie sich ihre Lippen berühren. Wie Carmen, die Opernfigur, könnte sie, wenn sie nur wollte, die Männer reihenweise um den Finger wickeln. Doch etwas scheint sie daran zu hindern. Ihr junges Alter sicherlich und die Mutter, die über sie wacht, aber er spürt bei ihr noch etwas anderes, eine untergründige, samtige Traurigkeit. In ihrem Herzen muss es eine Kammer geben, in der dunkles Blut fließt, so dunkel wie seine Lieblingsrosen. Dieses Schwermütige zieht ihn besonders an. Sein Leben würde er für sie geben, dieses Leben, das er auch Eva versprochen hat. Aber kann er es doppelt vergeben? Annas und Evas Kosmos schließen sich aus. Eva ist die Intellektuelle, die Menschenkennerin von Berufs wegen, die einen Menschen schnell durchschaut. Er will sie nicht verlieren, er liebt sie genauso, ihre kleinen Brüste, die er mit den Händen zudecken kann, ebenso wie die großen von Anna. Annas Körper ist so üppig und verschwenderisch wie eine Orchidee im tropischen Regenwald mit ihren vollen Wangen, den fleischigen Lippen und den grünlich verfärbten, mit einigen Schrunden versehenen Blumenhänden. Eva hingegen ähnelt eher einem Alpenveilchen, das am Boden vor sich hin blüht und darauf wartet, entdeckt zu werden. Sie kann sich weit in sich zurückziehen. Dann friert ihre Miene ein und hinter den riesigen, schwarz eingefassten Brillengläsern wird sie zu einer Maske, einem Ameisengesicht. Doch ein Wort, ein Zeichen genügt, um das Eis zu brechen, um sie zurückzuholen und ihre Augen zum Leuchten zu bringen. Sie hat nicht das Offene wie Anna, lacht nicht wie sie mit dem ganzen Gesicht. Bei ihr lachen nur die Augen, aber wie schelmisch sehen sie dabei aus! Annas Leidenschaft und Evas