Der Fremde: Eine Liebesgeschichte
Von Verena Keller
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Über dieses E-Book
Verena Keller
Verena Regina Keller, geboren 1945 in Zürich, besuchte die dortige Schauspiel-Akademie, die sie 1967 mit dem Diplom abschloss. Ihr erstes Engagement führte sie nach Westberlin an die Schaubühne zu Hartmut Lange. Nach der Rückkehr in die Schweiz, 1976, spielte sie bei der Claque Baden noch zwei Jahre Theater. Danach wechselte sie in den Kultur-Journalismus und studierte Kunst-, Kirchen- und Literaturgeschichte mit anschließender Tätigkeit als Lehrerin.
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Buchvorschau
Der Fremde - Verena Keller
Der Fremde
Impressum
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN: 978-3-95894-132-8 (Print) // 978-3-95894-133-5 (E-Book)
© Copyright: Omnino Verlag, Berlin / 2019/20
Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.
E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH
Inhaltsverzeichnis
Kennenlernen
Der Kampf mit den Behörden
Die Heirat
Essen ohne Besteck
Der Klang der fremden Sprache
Das zerknitterte Foto
Im Liegestuhl
Das Kainszeichen
Handtasche aus Krokoleder
Das Interview
Nüsse und schwarze Schokolade
Im Hause Mandelstamm
Besuch in der Moschee
So steht es im Koran
Auf nach Dhaka
Die Begrüssung
Auf der Dachterrasse
Der Segen des Imam
Ein Tag Ramadan
Das Zuckerfest
Das Kriegerdenkmal
Luftige Zukunftspläne
Eine zündende Idee
Im Theater
Die Versuchung
Die Segel zerreissen
Die Geschenke
Die Wende
Der Absturz
Kennenlernen
Es war Anfang August. Ella hatte das Bedürfnis nach Gesellschaft und wollte etwas erleben. Darum fuhr sie mit dem Tram in die Stadt und ging in die Disco, in die „Bunte Kuh", wo es nebst Schweizerinnen auch junge Ausländer gab, die ebenfalls nicht allein zu Hause bleiben, sondern in die Stadt fahren wollten, um etwas zu erleben.
Ella schaute sich um und suchte einen Tisch, an dem noch ein freier Platz war. Gleich beim ersten Tisch sassen eine Frau und zwei Männer. Alle drei hatten schwarze Haare und dunkle Augen. Die Frau war bedeutend älter als die Männer, sie hätte deren Mutter sein können. Die beiden Männer hatten eine milchkaffeebraune Haut. Den kleinen Dicken fand sie lustig, den Grossen atemberaubend schön. Die fremde Frau, die etwa so alt war wie sie, lächelte ihr zu und lud sie ein, an ihrem Tisch, wo noch ein Stuhl frei war, Platz zu nehmen. Anscheinend war sie froh mit den jungen Männern nicht allein sein zu müssen.
Sie stellten sich gegenseitig vor:
„Ich heisse Ella."
„Mein Name ist Anna."
Anna hatte einen südamerikanischen Akzent. Beide Männer sprangen auf und reichten Ella die Hand. Der Kleine hiess Baba und hatte einen kräftigen Händedruck, der Grosse hiess Aylan und hatte einen schlaffen Händedruck. Beide sprachen ein korrektes Englisch. Sie wirkten gut erzogen und intelligent. Ella war neugierig auf die Beziehung zwischen Anna und den beiden Männern. Sahen sich heute alle drei zum ersten Mal, oder war Anna mit dem einen der beiden schon länger bekannt? Wenn ja, mit welchem? Hoffentlich nicht mit dem, der ihr gefiel! Baba lachte fröhlich. Aylan hatte dunkle, mandelförmige Augen und schwieg. Als die Musik wieder einsetzte, forderte Baba Anna auf zum Tanz. Aylan, der allein am Tisch blieb, schaute Ella so an, als würde er sie aus einem früheren Leben kennen. In dem Moment wusste sie, dass Anna mit Baba bereits vertraut war, und dass Aylan noch alleine war. Wie von einem unsichtbaren Faden gezogen stand sie auf und folgte ihm auf die Tanzfläche.
Aylan war schüchtern und selbstsicher zugleich. Als Ella fragte, woher er komme, antwortete er: „Aus Bangladesh."
Bei diesem Wort zuckte in ihr eine Flamme auf, die in allen Farben leuchtete. „Bengalische Streichhölzer", war das erste, das ihr zu diesem Land einfiel. Auch an Überschwemmungen konnte sie sich erinnern, bei denen Tausende von Menschen gestorben waren. Das hatte sie in der Zeitung gelesen. Aylan tanzte nicht besonders gut, aber seine schmalen Hüften fühlten sich gut an. Sie tanzten bis früh in den Morgen. Dann tauschten sie die Adressen. Aylan und Baba wohnten in einem Asylheim in der Gemeinde Ebikon, zu fünft in einem Zimmer. Ella wohnte allein in einer Zweizimmerwohnung am Rande der Stadt. Aylan versprach, sie nächste Woche anzurufen.
Nachts hatte Ella einen Traum:
Als sie im Gütschwald spazieren ging, fand sie unter einem Baum, in eine Decke gewickelt, ein nacktes Baby. Eine höhere Macht befahl ihr, es aufzuheben und in die Arme zu schliessen. Sie war für dieses Kind verantwortlich, doch sie fühlte sich der Aufgabe nicht gewachsen. Sie soll dieses Baby allein aufziehen und für sein Leben sorgen? Sie zitterte vor Angst und Unsicherheit. Da trat hinter dem Baum ein grosser Mann hervor, eine Erscheinung wie ein Guru mit strahlend blauen Augen. Sie ging auf ihn zu und streckte ihm das Baby entgegen. Er sagte: „Ich helfe dir, gemeinsam schaffen wir es!"
Am Wochenende kam kein Anruf von Aylan. Ella war verunsichert und dachte, er habe sie vergessen oder wolle doch keinen Kontakt. Aber am Dienstag rief er an. Mit tiefer, selbstsicherer Stimme fragte er nach ihrem Befinden und schlug vor, dass sie sich treffen, zusammen mit seinen Freunden. Anna organisierte in ihrer Wohnung eine Party, zu der auch ihre erwachsenen Söhne und einige kubanische Migranten eingeladen waren. Sie selbst war in Kuba geboren, lebte aber schon seit 15 Jahren in der Schweiz und war von ihrem kubanischen Mann geschieden.
Es wurde ein fröhlicher Abend. Aylan erzählte, dass er in Dhaka Politologie studiert, aber das Studium nicht abgeschlossen habe, denn er sei schon als Student politisch aktiv gewesen und habe sich für eine linke Partei eingesetzt, welche gegen die nationalistische Regierungspartei gekämpft habe. Dies beeindruckte Ella. Er war kein Flüchtling, der in Europa ein besseres Leben suchte, sondern ein Revolutionär, der für eine gerechtere Welt kämpfte. Er sagte, er habe bei vielen Demonstrationen mitgemacht, aber keine Waffen getragen und nie Gewalt ausgeübt. Trotzdem habe ihn die Regierung verfolgt und „Terrorist" in seinen Pass geschrieben, sodass er zu fliehen gezwungen gewesen sei. Wie Aylan ihr das erzählte, wurde er für sie zum Helden. Ella bewunderte ihn für seinen Mut.
Auf einem Spaziergang durch den Gütschwald mit den ordentlichen Joggingwegen sprach er von seinem Vater, zu dem er eine enge, emotionale Beziehung hatte:
„Er ist ein gläubiger Moslem und Besitzer einer kleinen Textilfabrik. Da ich der älteste Sohn bin, hat er mir Geld geliehen, damit ich nach Europa auswandern kann. Er hat die Vision, dass ich hier in der Textilbranche Arbeit finde und mit ihm zusammen ein Import-/Export-Geschäft aufbaue. Meine Eltern hoffen, dass ich in der Schweiz reich werde und eines Tages die ganze Familie unterstützen kann. Diese Erwartung meiner Eltern, meiner jüngeren Geschwister und der ganzen Verwandtschaft liegt schwer auf meinen Schultern."
Die Vision seines Vaters gefiel Ella. Sie war vom romantischen Gefühl überwältigt, Aylan bei der Verwirklichung seiner Träume zu helfen. Sie sah eine Möglichkeit vor sich, ihrem kinderlosen Dasein ohne Familie einen Sinn zu geben. Gespannt hörte sie seiner Geschichte zu:
„Das Geld meines Vaters hat nicht lange gereicht. Schon in Hongkong musste ich meine Videokamera verkaufen, um eine Unterkunft bezahlen zu können. Unterwegs traf ich andere Bengalen, die auch auf der Flucht waren. Wir reisten manchmal zu zweit oder zu dritt und teilten das Geld, das wir noch hatten. So kamen wir über Russland nach Griechenland und dann mit dem Schiff nach Brindisi. Dort setzte ich mich allein in einen Zug und fuhr bis Chiasso. Mit dem letzten Geld rief ich in einer Telefonkabine - damals gab es noch keine Handys - die Nummer der Caritas Schweiz an, die mir in Bangladesh jemand auf einen Zettel geschrieben hatte. Ich hoffte, in der Schweiz Asyl zu finden. In Chiasso hatte ich nur noch 50 Dollar und ein Päckchen Zigaretten. Ich setzte mich in einen Schnellzug und fuhr die ganze Nacht. Kurz bevor der Schaffner kam, legte ich ein weisses Taschentuch über mein Gesicht und stellte mich schlafend. So kam ich bis Thun. Dort stieg ich aus und rief wieder die Caritas an. Die sagten mir, ich müsse nach Kreuzlingen fahren, dort gäbe es ein Empfangszentrum für Asylsuchende. Die Frau am Telefon war freundlich und sagte, sie werde am Bahnhof auf mich warten. Ich verpasste sie und fand das Empfangszentrum nicht. Da ich kein Geld mehr hatte, musste ich draussen im Freien übernachten. Zum Glück war es Sommer. Der Verpackungskarton eines Fernsehapparats, den ich am Strassenrand fand, diente mir als Decke. Das war für mich die grösste Demütigung meines Lebens, auf der Strasse schlafen zu müssen. Am andern Morgen rief ich wieder die Frau von der Caritas an. Sie kam mit dem Auto vorbei und nahm mich mit nach Hause zu ihrer Familie. Dort durfte ich drei Wochen bleiben. Ich konnte endlich wieder einmal duschen und bekam warmes Essen. Als ich mich von den Strapazen erholt hatte, fuhr sie mich zum Empfangszentrum. Dort erhielt ich, zusammen mit zwei anderen Bengalen, Notgeld und die Anweisung, nach Ebikon bei Luzern zu fahren, wo wir vorläufig aufgenommen wurden."
Beim Zuhören wurde Ella ein bisschen eifersüchtig auf die sympathische Frau bei der Caritas, die Aylan für drei Wochen bei sich aufgenommen hatte. Das würde sie auch tun, wenn es denn nötig wäre. Dass es für ihn eine Demütigung war, auf der Strasse zu schlafen, gefiel ihr. Das war der Beweis, dass er kein Landstreicher, sondern ein vornehmer Mensch war, der sich nach einem geordneten Leben sehnte. Sie wäre bereit, ihm ein gesichertes Leben zu geben.
Während er Ella das alles erzählte, rannten die Jogger in ihren bunten Outdoorkleidern an ihnen vorbei. Ältere, alleinstehende Frauen führten ihre Hunde spazieren. Kinder hüpften an der Hand der Mütter von Wurzel zu Wurzel. Nach der Waldlichtung kam ein Acker. Die reifen Ähren des Kornfelds bogen sich im Wind. Unter den Apfelbäumen weideten Kühe. Auf der einzigen, noch leer stehenden Bank am Waldrand, wo es etwas schattig war, setzten sie sich hin. Aylan sass dicht neben Ella, sodass sie den Duft seiner glänzenden, blauschwarzen Locken, die ihm über die Stirn fielen, einatmen konnte. Seine Haare rochen süsslich-herb. Es war ein Duft, der sie irritierte. Er erinnerte sie an getrocknetes Gras. Seine Zähne blitzten schneeweiss. Die bläulichen Lippen waren geschwungen und voll. Die schmale Nase war leicht gebogen. Im Profil sah er aus wie ein indischer Prinz. In diesem Moment legte er seine Hand, die auffallend klein war, auf ihre Schulter, zog ihren Kopf an seine schmächtige Brust und küsste sie.
Sie hielt ihre Augen geschlossen und spürte, wie die heisse, bengalische Flamme in ihr aufstieg und in allen Farben zu leuchten begann. Am Abend begleitete er sie nach Hause und betrat wie selbstverständlich ihre Zweizimmerwohnung. Er ging in die Küche, fragte, wo der Reis sei und fing an zu kochen.
Er brauchte Gewürze. Sie stellte ihm ein Gläschen von der Migros hin, mit gelblichem Pulver, angeschrieben mit Curry-Mischung. Da lachte er sie aus.
„My god, no, that’s nothing, I need real spices, Chili, Kardamon and Ginger!"
Sie rannte in das nächste Lebensmittelgeschäft und kaufte noch am selben Abend alles ein, was er brauchte. Um Mitternacht dampfte ein Nachtessen auf dem Tisch, mit Basmati-Reis, Rindfleisch und brennend scharfer, öliger Sauce. Von da an kehrte Aylan nie mehr ins Asylheim nach Ebikon zurück. Nun wohnte er bei ihr und kochte jeden Tag. Auch sein Freund Baba kehrte nicht mehr nach Ebikon zurück, sondern wohnte bei Anna und kochte für sie jeden Tag.
Als sie eine Woche später zur Postfinance ging, um Geld zu abzuheben, traf sie ihren Nachbarn, den Anthroposophen Kaspar. Er war 30 Jahre älter als sie und hatte am gleichen Tag Geburtstag. Am 7. Mai schenkten sie sich jeweils gegenseitig einen Strauss Rosen. „Ich muss dir ein Kompliment machen, du hast einen guten Geschmack! Ich habe dich neulich im Gütschwald gesehen, in Begleitung eines schönen, jungen Mannes. Ihr sasst auf einer Bank am Waldrand und er hat dich geküsst. Pass bloss auf! Als Liebhaber mag so ein junger Inder gut sein, aber heiraten solltest du ihn nicht. Meine Nichte in Lausanne hat einen bildhübschen, jungen Singalesen geheiratet. Der schlief jeden Morgen bis 12 Uhr und wollte nicht arbeiten. Am Ende musste sie ihn mit Hilfe der Polizei rausschmeissen; allein wäre er nie gegangen."