Zum Greifen nah: Von den Anfängen des Denkens
Von Tilman Allert
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Über dieses E-Book
Pädagogik. Was als zynische Handlungsanweisung gedacht
war, kann aber auch anders verstanden werden. Denn erst das Fühlen und
Greifen mit den Händen eröffnet Menschen den eigenen Zugang zur Welt.
Bereits in den ersten Lebensmonaten dient die Hand dazu, die unmittelbare
Umgebung zu erkunden. Sie bewegt sich auf das Wahrgenommene zu, um
es zu spüren, festzuhalten oder zu formen. Die sensomotorische Eroberung
setzt den individuellen Erkenntnisprozess in Gang.
Wie erfährt die Hand die Berührung mit dem Anderen, mit den Eisblumen
am Fenster, den Murmeln aus Ton, den Flügeln eines Schmetterlings, der
papiernen Haut der Schlange oder einem brummenden Maikäfer? Wie sucht
sie Halt beim Klettern, was schmeichelt ihr, wovor schreckt sie zurück?
Tilman Allert zeichnet in seinen einfühlsamen Miniaturen frühe Eindrücke
des tastenden Ausgreifens in die Welt nach.
Tilman Allert
Tilman Allert, geboren 1947, studierte Soziologie in Freiburg, Tübingen und Frankfurt am Main. Seit 2000 ist er Professor für Soziologie und Sozialpsychologie an der J. W. Goethe-Universität Frankfurt. Als Gastdozent lehrt er in Berlin, Tiflis und Eriwan. Er schreibt regelmäßig für verschiedene Tageszeitungen (u.a. für die »Frankfurter Allgemeine«, »Neue Zürcher«, »Die Welt«). Zu seinen bekanntesten Buchveröffentlichungen zählen »Der deutsche Gruß. Geschichte einer unheilvollen Geste« (2005) und »Latte Macchiato. Soziologie der kleinen Dinge« (2015).
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Buchvorschau
Zum Greifen nah - Tilman Allert
Tilman Allert, geboren 1947, studierte Soziologie in Freiburg, Tübingen und Frankfurt am Main. Seit 2000 ist er Professor für Soziologie und Sozialpsychologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt. Als Gastdozent lehrt er in Berlin, Tiflis und Eriwan. Er schreibt regelmäßig für verschiedene Tageszeitungen (u. a. für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, »Neue Zürcher Zeitung«, »Die Welt«). Bei zu Klampen ist zuletzt von ihm erschienen: »Der Mund ist aufgegangen. Vom Geschmack der Kindheit« (2016).
TILMAN ALLERT
Zum Greifen nah
Von den Anfängen des Denkens
zu Klampen
»Das Maß des Wunderbaren sind wir.«
Georg Christoph Lichtenberg
Inhalt
Cover
Titel
Hand aufs Herz
Fingerspitzengefühl
Klicker
Unterschrift – bitte hier
Und er sah, dass es gut war
Anders als Diogenes
»Oh wüsst ich doch den Weg zurück!«
Kettenkarussell
Seepferdchen
Là ci darem la mano
Intermezzo
Das Geheimnis der Anderen
Tanzstunde
Muskelreiten
Und raus bist Du
Gespensterjagd
Mutterseelenallein
Zeus zu Besuch
Von der Gelehrigkeit
Hand in Hand
Impressum
Hand aufs Herz
Alles Erkennen hat eine Vorgeschichte. In Mythen und Märchen bewegen wir uns, wenn wir auf die Welt aufmerksam werden. Das liegt nicht an den Dingen, sondern an der Eigenart unseres geistigen Vermögens. In der frühen Kindheit kann von einem Ich nicht die Rede sein, ebensowenig von der Welt als einem Gegenüber. Jahre vergehen, bis wir in der Lage sind, in das Getümmel um uns herum einen roten Faden zu legen, ein Gestern von einem Heute zu unterscheiden, uns selbst von Anderen. Die Welt erschließt sich im Kontinuum ihrer Erscheinungen, die Einbildungskraft findet Gefallen an den Kostümen, in denen die Dinge ihre Aufwartung machen. Sie bevorzugt das Außen vor dem Innen, verliebt sich ins Detail und berauscht sich an den Illuminationen der Oberfläche. Bevor es gelingt, sich einen Reim auf das zu machen, was uns widerfährt, gehorchen wir der Wahrnehmung, angespornt von den »obskuren Wesen, die unsere Organe sind« (Marcel Proust).
Auf Wegen und Umwegen durchstreifen wir ein Wunderland von Eindrücken. Im Anfang geschieht vieles gleichzeitig. Neugier zieht uns von diesem zum Nächsten wie Schmetterlinge von Blüte zu Blüte. Die Kindheit ist die goldene Zeit der Synthesis, der hohen affektiven Intensität. Paul Cézanne spricht von »sensations colorantes«. Die Ohren hören den Klang der Farben, und den Augen ist zum Singen zumute. Unsere Sinne tauschen sich aus, drängeln sich vor dem Unbekannten oder kommen sich am Ort des Geschehens ins Gehege. Sie lieben die Übertreibung, bekräftigen, übertönen sich bis zur Sabotage, ja zum schmerzhaften Einspruch. Auf ihrem langen Weg zu den Dingen werden sie von diesen umspielt oder versinken in Konturen, von Farbmischungen trunken. Von der Atmosphäre, die Duft und Geräusche mit eigenen Zutaten bereichert, lassen sie sich anlocken. Gern folgen sie Spuren, auf die die Ohren aufmerksam wurden, und sie genießen, dem Augenschein nachzugehen – wenn jemand zu Hilfe kommt.
Allen voran die Hand. Sie nimmt sich vor, was zum Greifen nah ist. Sie beglaubigt Vorläufiges. Menschheitsgeschichtlich bedeutet die Freisetzung der Hand eine folgenreiche Sensation – ein Schritt, der der theoretischen Neugier Richtung und Schwung gibt und in dessen Folge die Ingenieurleistungen des Menschen stehen, aber auch die Wege zum Sprechen gelegt werden. Im individuellen Leben spielt sich Vergleichbares ab. Ehe der aufrechte Gang es ermöglicht, in weite Horizonte aufzubrechen, ist die Hand schon unterwegs und gräbt nach Schätzen. Aktiv ist sie von Beginn an, greifend meldet sie sich aus der Wiege. Sie ruft stumm, sie dirigiert, tastend macht sie die Honneurs, wenn sich Augen und Welt zum Rendezvous verabreden. Dem Mund, dem sie unermüdlich ergeben ist, schickt sie die Dinge zur Prüfung, sie schwebt und tanzt vor den Augen. Zart und weich nimmt sie Maß, wenn sie über Gesicht und Lippen fährt, kühn lungert sie im Gaumen herum und lädt die Zunge zum Schmecken ein. Die eifrige Zofe der Königin Neugier genießt Ansehen und Ehre. Vor verbotenen Früchten schreckt sie, wie es heißt, nicht zurück. Sie hält inne, wenn sich die Dinge dagegen sträuben, sich vereinnahmen zu lassen, zu umschließen, festzuhalten oder wegzustoßen.
Im Wort »Begreifen« schwingt Bewunderung mit für das, was wir der Hand verdanken. Dabei ist die Hand weitaus mehr als ein Werkzeug. Sie ist die Außenstation des Leibes, sie ist der Anker, den wir werfen, wenn der Boden wankt. Sie ist die Botin des Gemüts, das Herz, das spricht. Vors Gesicht halten wir sie, wenn die Welt über uns hereinbricht. Neben den vielen Wundern, von denen wir umgeben sind, macht sie erste Bekanntschaften mit dem Wunder, das wir selbst sind. Die Hand findet den Weg zur geliebten Person, winkt sie herbei und nimmt die Wärme des Gegenübers in sich auf. Unschätzbar sind ihre Dienste als Übersetzerin. Lautlos plaudernd überbrückt sie die Stille, wenn sie im Tanz der Finger denen zu Hilfe kommt, die nicht hören oder nicht sprechen können.
In der gesteigerten Aufmerksamkeit auf die Dinge um uns herum durchwandern wir die Landschaften des beginnenden Lebens, versunken und situationsvernarrt, gutgläubig, jederzeit auf dem