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Einsatz im Alpstein: Roman
Einsatz im Alpstein: Roman
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eBook359 Seiten4 Stunden

Einsatz im Alpstein: Roman

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Über dieses E-Book

Der Alpstein ist der heimliche Hauptdarsteller in diesem spannenden und hochdramatischen Roman über den Einsatz der Alpinen Rettung, über Freundschaft und Feindschaft, über Glück und Unglück sowie über Liebe und Tod. Gianfranco Koller übernimmt die Leitung der Appenzeller Rettungskolonne von seinem Vorgänger Lorenz Grubenmann. Zugleich tritt er eine Stelle als Geografielehrer und naturwissenschaftlicher Archivar an der (fiktiven) Privatschule am Lehn in Appenzell an. Im Laufe des Jahres leitet Gianfranco Koller nicht nur verschiedene Rettungseinsätze im Alpstein, er sieht sich auch mit der Alkoholsucht seiner Frau konfrontiert. Vor allem aber muss er sich mit der Verwalterin der Privatschule auseinandersetzen, die ihm ständig Steine in den Weg legt, und mit der in Appenzell Innerrhoden herrschenden Vetternwirtschaft und menschlichen Gleichgültigkeit. Als ein Vater seinen Sohn tötet und seine Tochter in den Alpstein entführt, starten Gianfranco Koller und Lorenz Grubenmann die aufwändigste Vermisstensuche in der Geschichte der Rettungskolonne.Die eigentliche Hauptrolle in diesem hochspannenden Roman spielt die Bergwelt des Alpsteins mit ihren Gipfeln, Seen, Wanderwegen, Kletterrouten und Berggasthäusern.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum9. Okt. 2014
ISBN9783858827036
Einsatz im Alpstein: Roman

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    Buchvorschau

    Einsatz im Alpstein - Angelika Wessels

    DEZEMBER

    Der Schnee verschluckte jedes Geräusch. Marco schien es, als drückten die Schneemassen über, unter und neben ihm seinen Körper zusammen, als pressten sie die verbleibende Luft in seine Gehörgänge. Dazu kam die völlige, die absolute Finsternis. Kein Lichtschein drang in sein kaltes Verlies. Marco fürchtete sich, obwohl er das nie zugegeben hätte, schliesslich ging er schon in die fünfte Klasse, da gab man seine Angst nicht mehr so einfach zu.

    Doch der Gedanke an den Schnee ringsum, der ihn einschloss, schnürte ihm die Kehle zu. Marco versuchte, sich zu beruhigen. Das Druckgefühl in den Ohren, das war ihm bekannt, das hatte er schon einmal erlebt, als er mit seiner Klasse einen speziellen schalldichten Raum in einem Radiostudio besucht hatte. Marco schluckte, rang nach Luft. Dies hier war aber etwas völlig anderes. Ganz allein, unter dem Schnee begraben. Jede Orientierung war ihm abhandengekommen. Dort, wo seine Skihose unter dem kalten Druck des Schnees nass wurde, war unten. Wie sah es über ihm aus, ausserhalb des Schnees? War es klar? Leuchteten die Sterne? Er hatte zuvor nicht darauf geachtet.

    Nicht enden wollende Minuten verstrichen. Marco begann zu frieren, er bewegte den Kopf, die Arme und die Beine, zum Glück war dazu genügend Platz vorhanden. Noch immer diese eigentümliche Stille, dieser Druck in den Ohren. Dann endlich gedämpfte Geräusche, dumpfes Stimmengewirr, das sich näherte, entfernte, wieder näherte und wieder wegbewegte.

    Gerade als Marco meinte, es nicht mehr länger auszuhalten, drang ein Scharren aus dem Schnee zu seiner Linken, erst leise, dann immer lauter und deutlicher. Bald war auch ein gedämpftes Japsen zu hören, Hecheln, ein lautes Atmen. Es wurde heller, plötzlich öffnete sich ein Loch, durch das das gleissende Licht starker, sich bewegender Lampen drang. Beinahe gleichzeitig roch Marco den unverkennbaren Geruch nach nassem Hund. Etwas Grosses, Braunes zwängte sich durch das helle Loch und verdunkelte alles für einen Augenblick. Marco besann sich auf das Wursträdchen, das er die ganze Zeit über in der rechten Hand gehalten hatte. Er tastete nach dem heftig wedelnden Schwanz; der Hund drehte sich um, freudig winselnd, leckte erst über Marcos Gesicht, verschluckte dann in Blitzesschnelle das Stück Lyoner, worauf ihn Marco überschwänglich lobte: «Brav, Rico, guter Hund!»

    Draussen wurde nun heftig geschaufelt, man hörte Keuchen, das zischende Knirschen der Schaufelblätter, die in den Schnee fuhren. Es wurde noch heller, geblendet schloss Marco die Augen. Eine weibliche Stimme fragte freundlich: «Marco, alles in Ordnung? Geht es dir gut?»

    «Ja, prima, danke!» Erleichtert liess er sich aus dem Schneeloch helfen und blinzelte in die Runde.

    Eine Frau klopfte ihm kameradschaftlich den Schnee vom Ski-Anzug. «Gut gemacht, Marco!»

    Der Junge reichte der Frau, die eine gelb-schwarze Jacke mit reflektierenden Streifen trug, das Funkgerät: «Da, Franziska, ich habe es nicht gebraucht, und die Stirnlampe auch nicht.»

    «Tapfer! Sag’s deinem Vater, er steht da drüben bei der Journalistin.»

    Im Schein der nun eingeschalteten Stirnlampe, seiner eigenen, die er zum letzten Geburtstag erhalten hatte, stapfte Marco hinüber an den Rand des von hellen Scheinwerfern erleuchteten Schneefelds zu dem Grüppchen von Menschen. Dieses hatte sich um einen jüngeren Mann geschart, der ebenfalls eine gelbschwarze Jacke trug und gerade im Begriff war, der Journalistin der örtlichen Zeitung und den übrigen interessierten Zuschauerinnen und Zuschauern die Funktionsweise eines LVS, eines Lawinenverschütteten-Suchgeräts, zu erklären.

    Marcos Mutter, die sich etwas abseits hielt, empfing ihn mit offenen Armen. «Bravo, Marco! Wer hat dich gefunden? Diva?»

    «Nein, Rico, Franziskas grosser Schäferhund mit dem etwas längeren Fell.»

    «Und? Wie war es im Schneeloch?»

    Nun war auch das Interesse der Journalistin geweckt. «Hast du dich als Figurant zur Verfügung gestellt und dich eingraben lassen?»

    «Jawohl!»

    Und Marco durfte der jungen Frau, die sich eifrig Notizen machte, sein Erlebnis und seine Eindrücke schildern. Währenddessen kommentierte sein Vater den weiteren Verlauf der Lawinenübung: Der Hang wurde von zahlreichen, auf hohen Stangen angebrachten Scheinwerfern hell erleuchtet. Im Schatten hinter den Scheinwerfern standen mehrere Feuerwehrmänner und kontrollierten die Stromzufuhr; in ihrer Nähe brummte ein kleiner tragbarer Generator. Auf einem etwas erhöhten Platz, von dem aus man das ganze ausgeleuchtete Feld überblicken konnte, standen zwei weitere Männer in der gelb-schwarzen Bekleidung der Alpinen Rettung. Der eine gab mit ruhiger Stimme Anweisungen per Funk, der andere trug konzentriert alle Vorgänge und Funde auf einem Kroki des Geländes ein, das er an eine metallene Unterlage geklemmt hatte. Der Mann mit dem Funkgerät wandte sich seinem älteren, graubärtigen Kollegen zu, der noch immer im Begriff war, Einträge auf sein Blatt zu machen: «Was meinst du, Lorenz, sollen wir langsam abbrechen?»

    «Ja, ich denke, es passt.»

    Rasch leerte sich das mittlerweile von zahlreichen Fuss-, Pfoten-, Ski- und Schneeschuhspuren durchzogene Feld. Material wurde zusammengetragen, die Hunde wurden zu den abseits auf der Strasse parkierten Autos geführt. Das Schlagen von Heckklappen, laute Stimmen, Hundegebell, Lachen waren zu hören; die Feuerwehrleute bauten routiniert die Beleuchtung ab. Derweil fuhr ein Teil der Zuschauerinnen und Zuschauer mit einem Kleinbus hinauf zum nahegelegenen Berggasthaus Ruhesitz, und Einzelne traten im Schein von Stirn- und Taschenlampen den Abstieg nach Brülisau an.

    In der hellen, gemütlichen Gaststube verteilten sich alle an die Tische. Feuerwehrleute, Mitglieder der Alpinen Rettung, deren Angehörige und die Besucher, bunt gemischt. Man kannte sich zumeist, und es wurde angeregt diskutiert. Marco verfolgte mit mehreren Kindern und Jugendlichen, wie ein Mitglied der Rettungskolonne der Journalistin die kleinen Recco-Plättchen zeigte. Diese wurden mittlerweile verbreitet in Wintersportbekleidung eingenäht, waren aber auch separat erhältlich. Dank ihnen konnte man vom Helikopter oder vom Boden aus mit Hilfe eines Handgerätes im Falle einer Verschüttung lokalisiert werden.

    Gegen zweiundzwanzig Uhr waren die meisten Gäste gegangen. Die Mitglieder der Alpinen Rettung und der Feuerwehr führten noch eine kurze Übungsbesprechung unter der Leitung des Obmanns der Rettungskolonne, Lorenz Grubenmann, durch. Dann verabschiedeten sich die Letzten, gutgelaunt und zumeist auch etwas müde, denn die öffentliche Übung hatte an einem Donnerstag stattgefunden, die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren also direkt von der Arbeit auf dem Platz erschienen. Dem Engagement und der Freude hatte dies jedoch keinen Abbruch getan. Obwohl oder gerade weil diese Einsätze auf ehrenamtlicher Basis erfolgten, konnte die Rettungskolonne auf überaus motivierte Mitglieder zählen. Mit fünfzig aktiven, jederzeit abrufbaren Rettungsleuten war die Rettungskolonne Alpstein die grösste innerhalb der Alpinen Rettung Ostschweiz, einer Sektion der Alpinen Rettung Schweiz, die wiederum als Stiftung vom Schweizer Alpenclub SAC und der Schweizerischen Rettungsflugwacht Rega getragen wurde. Ausser einem Entgelt für die Einsätze erhielten die Bergretterinnen und Bergretter keinerlei Entschädigung, sie waren für ihr persönliches Material, seien dies Ski, Schneeschuhe, Lawinenverschütteten-Suchgeräte, Seile und weiteres technisches Material, selbst verantwortlich; auch die gesamtschweizerisch einheitliche gelb-schwarze Funktionsbekleidung finanzierten sie mehrheitlich selbst. Nachwuchssorgen kannte die Alpine Rettung Alpstein nicht, zudem konnten alle Mitglieder auf das Verständnis ihrer Arbeitgeber zählen, obschon diese ihre Angestellten jederzeit für einen Einsatz freistellen mussten.

    An einem Tisch unter einem Ölgemälde ihres ehemaligen Kollegen, Bergführers und Bergmalers Werner Steininger sassen Lorenz Grubenmann und Gianfranco Koller, sein Stellvertreter. Beide vor einem dampfenden Glas Schwarztee.

    «Das ist doch gut gelaufen! Und dass es hier im Dezember genügend Schnee hat, ist auch ein Glück», meinte Grubenmann zufrieden, «wenn nur diese öde Bürokratie nicht wäre. Mir graut jetzt schon vor dem Abtippen des Jahresberichts und dem Ausfüllen der Online-Einsatzprotokolle. Für alles braucht man dieses blöde Gerät. Wie ich diese Computerarbeit hasse, diese langweilige, elende Tipperei und Mailerei.»

    Er trank einen Schluck, kratzte sich in seinem sorgfältig gestutzten grauen Bart und lehnte sich zurück, sein Gegenüber dabei erwartungsvoll anblickend.

    Koller, ein Mann mittleren Alters, der durch seine dunklen Haare und die gebräunte Haut selbst in der Helle der Gaststube etwas düster wirkte, lachte laut. «Warte nur, Lorenz, im Frühling gibt es ja den Versuch mit dem GPS und der computerunterstützten Erfassung, das wird dir so richtig gefallen.»

    «Du hast gut lachen, du hast ja Spass daran!»

    «Spass? Wie man’s nimmt. Es ist ein Arbeitsinstrument, bei vielem eine Erleichterung, mehr nicht. Nur weil ich mich auch beruflich damit beschäftige, muss mir das noch lange keinen Spass machen.»

    «Ach, wenn das nur klappt mit der Stelle, auf die du dich beworben hast, damit du meine Nachfolge antreten kannst.»

    «Es ist ohnehin nicht mehr zeitgemäss, die Posten von Obmann und Rettungschef in Personalunion zu übernehmen, gerade bei einer so grossen Station, wie wir es sind. Aber noch habe ich die Stelle nicht! Zudem gebe ich gerne Schule, ich habe den Unterricht in diesem halben Jahr schon richtig vermisst!»

    «Aber dein Urlaub und die Arbeit am Nationalfondsprojekt sind doch genau das Richtige?»

    «Natürlich, so weiterzuarbeiten, würde mir schon gefallen, aber ich wusste ja von Anfang an, dass das Gletscherforschungsund Archivprojekt zeitlich beschränkt ist. Nun, im Sommer geht’s wieder los, mit der Schule oder eben mit der neuen Stelle im Archiv der Privatschule am Lehn …»

    Grubenmann seufzte erneut: «Jetzt bin ich sechsundsechzig, ich mache das seit über zwanzig Jahren. Höchste Zeit, in die zweite Reihe zurückzutreten.»

    «Aber Lorenz, wir haben so viele Junge in der Kolonne …»

    «Aber niemand will, und ich verstehe das auch. Viele haben Familie und möchten beruflich noch weiterkommen. Da kannst du dir ein solch intensives Engagement einfach nicht mehr leisten. Und dazu diese zeitaufwändigen administrativen Aufgaben und die ganze Verantwortung als Obmann, die Organisation der Übungen – das gibt wohl den Ausschlag.»

    «Nichts zu ändern! Noch einen Tee?»

    «Nein danke, mir reicht’s! Nimmst du mich mit?»

    «Selbstverständlich, was sonst.»

    «Danke, Gianfranco!»

    Seit Grubenmanns Frau vor drei Jahren bei einem Autounfall auf dem Rückweg von einer Tour – Lorenz Grubenmann war Bergführer und sie hatte ihn während der Hochtourenwoche im Wallis begleitet – ums Leben gekommen war, hatte er keinen Wagen mehr gesteuert. Koller wusste, dass er sich vorwarf, nicht schnell genug reagiert zu haben, als der Unfallverursacher ihm in einer Kurve entgegenschleuderte. Er war in die Beifahrerseite gekracht.

    Grubenmann besass ein Haus im Dorf mit einer Antikschreinerei, einen Einmannbetrieb; denn vom Führen alleine hätte er nie leben können. Koller, der etwas ausserhalb von Appenzell wohnte, konnte ihn auf dem Heimweg an der Weissbadstrasse absetzen.

    Die beiden Männer zahlten, erhoben sich, verabschiedeten sich per Handschlag von Hans und Evelyne Manser, dem jungen, freundlichen Bergwirte-Paar, und traten hinaus in die kalte Dezembernacht.

    Es war weit nach zweiundzwanzig Uhr, als Koller zu Hause anlangte. Schon von der Hauptstrasse her hatte er gesehen, dass in der Stube noch Licht brannte, seine Frau also noch auf war. Er rollte langsam die schmale Zufahrtsstrasse hinauf, die als Sackgasse vor einem grossen Bauernhaus endete. Vor dem Stall parkierte er hinter einem alten Fiat Panda, schloss den Volvo Kombi ab und ging im schummrigen Licht einiger Solarlampen, die der Stallwand entlang aus dem Schnee ragten, zum Eingang des alten Gebäudes, das sie von den Eltern seiner Frau geerbt und kurz nach der Hochzeit grösstenteils in Eigenarbeit renoviert hatten.

    Ein traditionelles Kreuzfirsthaus, inmitten von Wiesen am Hang gelegen, beschützt von einer hohen Weide auf der Nordseite. Und umgeben von einem etwas verwilderten Garten mit Holunderbüschen, Johannisbeer- und Himbeersträuchern und einem durch eine Haselnuss- und Forsythienhecke abgegrenzten Sitzplatz. Vom Haus aus genoss man eine prächtige Sicht auf das Dorf Appenzell und die Alpsteinkette. Jetzt lag die Landschaft im Dunkel der Winternacht, und auch im Dorf unten brannten nur noch wenige Lichter. Am gegenüberliegenden Hang fuhr mit hellerleuchteten Fenstern eine Zugskomposition der Appenzeller Bahnen vorbei. Das Rattern der Räder drang herüber.

    Wie üblich hatte der Wind etwas Schnee vor der Türe mit den metallenen Initialen angehäuft. Sorgsam klopfte Koller seine Bergschuhe an der steinernen Türschwelle ab, bevor er eintrat. Leise klassische Musik war zu hören. Er hängte seine Jacke an den Garderobenständer, tauschte die Bergschuhe gegen ein Paar Crocs, legte den Schlüsselbund auf eine hölzerne Anrichte und betrat dann durch eine schön gearbeitete Holztüre – die ehemalige Haustüre, die Lorenz Grubenmann restauriert und angepasst hatte – die grosse, lange Wohnküche.

    «Hallo Gian!», rief seine Frau aus der Stube. «Herr Wild von der Privatschule am Lehn hat angerufen, du sollst zurückrufen, es geht um den Termin für ein Bewerbungsgespräch.»

    «Salü Rena! Na, dann rufe ich ihn morgen früh zurück!»

    Koller ging zum Kühlschrank, nahm eine Flasche Mineralwasser, entnahm dann der Vitrine, die beim Fenster am anderen Ende der Küche stand, ein Glas, goss sich Wasser ein und gesellte sich zu seiner Frau, die mittlerweile die Musik ausgeschaltet hatte.

    «Was liest du da, Rena?»

    «Die neue Biografie von Giovanni Segantini. Ich habe sie heute im Bücherladen gekauft.»

    «Ach, du warst noch im Dorf?»

    «Ja, und frischer Käse liegt im Kühlschrank. Hast du noch Hunger?»

    «Nein, ich habe in der Risi eine Gerstensuppe gegessen, und du weisst ja, wie gut und reichhaltig die ist. Nur Durst. Und müde.»

    Er trank von dem kalten Mineralwasser – so direkt aus dem Kühlschrank war es ihm fast zu kalt – und betrachtete seine lesende Frau. Sie lag halb auf dem Sofa, das lange, blonde Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und trank ab und zu aus einem schweren Kristallglas, das vor ihr auf dem grossen Sofatisch stand. Von Zeit zu Zeit schenkte sie sich nach, offenbar automatisch, aus einer Flasche, die sie in Reichweite platziert hatte. Sie trank den Whisky pur, ohne Eis, er war von heller Farbe, Glen Grant, ihr Favorit, wie Koller vermutete.

    Selber verspürte er kein Verlangen nach Alkohol. Er war nur müde und sehnte sich danach, sich auszustrecken. Nachdem er das Wasser ausgetrunken hatte, ging er mit dem leeren Glas zurück in die Küche und stellte es in die Spüle. Danach warf er noch einen kurzen Blick in die Stube, wo seine Frau, noch immer in ihr Buch vertieft, auf dem Sofa sass. Koller wünschte ihr eine gute Nacht, tappte ins Bad, duschte kurz und stieg dann hinauf in sein Schlafzimmer. Seit dem Einzug ins Haus schliefen sie in getrennten Zimmern. Denn sowohl er als auch seine Frau arbeiteten oft am Abend: er in seinem Büro mit Blick auf den Alpstein, wo er vorbereitete, korrigierte, an seinen beiden Bildschirmen sass; sie in ihrem Atelier im ausgebauten Stall, unter den grossen Dachfenstern, deren Bewilligung sie ein Höchstmass an Geduld und Ärger gekostet hatte.

    Am folgenden Samstag, das Wetter war herrlich, ein klarer, kalter Wintertag, unternahmen Koller und Grubenmann eine Skitour auf die Alp Sigel, um Kollers Einladung zum Bewerbungsgespräch und Grubenmanns nun in den Bereich des Möglichen rückende Entlastung gebührend zu feiern. Dabei hatte Koller wiederum zu bedenken gegeben, dass er ja noch gar nicht sicher sei, ob er die Stelle auch erhalte.

    «Also wenn dich Konrad Wild schon persönlich dazu auffordert, dich zu bewerben, dann stehen deine Chancen wohl bestens. Ich glaube, sie nehmen doch lieber einen Einheimischen statt einen Auswärtigen», meinte Grubenmann.

    Koller, der neben seinem Freund das tiefverschneite Brüeltobel hinaufspurte, sagte nur lachend: «So, so, glaubst du?» Er erinnerte sich, dass der Posten als naturwissenschaftlicher Archivar bereits an einen bayerischen Archivar vergeben gewesen war, dessen Vertrag aber schon vor Stellenantritt aufgelöst wurde, weil der Mann an seinem vorherigen Arbeitsplatz unschätzbar wertvolle alte Schriften hatte mitlaufen lassen. Das war einige Tage lang Dorfgespräch gewesen.

    Ihre Tourenski-Bindungen klackten in der Stille. Bald passierten sie das geschlossene, verlassen im Schatten liegende Berggasthaus Plattenbödeli, arbeiteten sich durch die sonnenbeschienene Waldlichtung des Chrutzugs hinauf, als Erste an diesem Tag. Nur Tierspuren kreuzten ab und zu die Lichtung. Oben, als sie das kleine Waldstück durchquert hatten, hielten sie sich rechts, den lawinengefährlichen Hang, durch den der Sommerweg führte, umgehend. Links von ihnen standen die ersten Hütten, beinahe schwarz gegen den wolkenlosen Himmel und den gleissenden Schnee. Die beiden Männer erreichten sie rasch, lehnten die Ski mit den Fellen gegen die Sonne und setzten sich auf die Holzbank an die erwärmte Hauswand.

    Grubenmann förderte aus seinem Rucksack eine kleine, lindgrüne Isolierflasche zutage, aus der er einen Dôle Blanche in durchsichtige Plastikbecher goss, während Koller Brot, Käse und Trockenfleisch auf die Tische vor ihnen legte, die aus dem untersten Teil umgedrehter und gerade abgesägter Baumstämme bestanden.

    Vor ihnen tat sich das Innere des Alpsteins in seiner ganzen winterlichen Pracht auf. Die nahen, unberührten Schneeflächen leuchteten, die Alphütten standen geduckt in der weissen Fläche, und über ihnen erhoben sich die näheren und ferneren Gipfel: Vor dem Zackenkranz der weiter entfernten Berge im Osten über dem Rheintal standen der Kamor, der Hohe Kasten mit dem Drehrestaurant und der markanten Antenne. Daran schlossen sich der jetzt verschneite, abweisend wirkende Grat zur Stauberen an, die Felsbastionen von Stauberenkanzel, Hüsern, Hochhus über blauschattigen Flanken. Über der Saxerlücke ragten steil die Zacken der Kreuzberge empor, gefolgt vom schöngeschwungenen Grat des Roslenfirsts mit dem weithin sichtbaren Steinmann, den einladend herüberglitzernden Hängen des Chreialpfirsts, den schroffen Wänden der Widderalpstöck, einem Zipfelchen der Felswände der Dreifaltigkeit, der markanten Gestalt der Marwees. Darüber war noch ein Teil des Altmanns zu sehen.

    Schweigend betrachteten die beiden Männer das Panorama, genossen die Wärme an der Hüttenwand, den Wein und das Essen, voller Vorfreude auf den letzten Teil des Aufstiegs über weite Hänge und die Genuss versprechende Abfahrt über den Chüeboden. Jeder der Gipfel, die sie sahen, hatte für sie eine Bedeutung, jeder Weg barg unzählige Erinnerungen: Erinnerungen an gemeinsame Klettertouren, Wanderungen, Übungen, Einsätze; Erinnerungen an Momente grössten Glücks, aber auch an die Tragödien, die sich in diesen Bergen abgespielt hatten. Obwohl weitgereist, Grubenmann als Bergführer, Koller als Geograf, zog es beide immer wieder in den Alpstein, ohne dass sie dabei jemals das Gefühl des Überdrusses verspürt hätten.

    Sie packten schnell zusammen, und bald zogen sie ihre Spur in Richtung des Grates, dorthin, wo der Berg mit senkrechten Felswänden ins Tal nach Wasserauen abfiel und wo sich eine noch weitere Aussicht nach Westen und Norden hin eröffnete: hinunter zum gefrorenen Seealpsee, um den sich Marwees, Rossmad, Säntis, Hängeten, Schäfler und Ebenalp gruppierten und weit hinaus, von den Hügeln des Appenzellerlandes bis hinüber zum Bodensee und noch weiter. Das ganze Land glänzte in seinem weissen Mantel, als würde es von innen heraus beleuchtet.

    Jauchzend wedelten sie durch den stiebenden Schnee, ein einziges Schweben und Gleiten.

    «Du solltest den dunklen Anzug anziehen. Und eine Krawatte», sagte Rena, als Koller sich an einem hellen Spätnachmittag für das Bewerbungsgespräch bereitmachte.

    «Was?»

    «Du weisst doch, dass die da oben eine Kleiderordnung haben.»

    «Die da oben … wie das tönt! Vielleicht sollte ich es mir doch noch einmal überlegen mit diesem Angebot, wenn ich mir das nun dauernd anhören muss.»

    «Zieh trotzdem den Anzug an.»

    «Ja hast du denn gedacht, ich erscheine dort im Berghäs

    «Bei dir weiss man nie!»

    «Hör mal!»

    Etwas genervt suchte Koller eine passende Krawatte zu dem gutgeschnittenen Anzug und dem weissen Hemd. Das Jackett spannte etwas über dem Bauch. Überhaupt trug er den Anzug nur bei seltenen Gelegenheiten, der Maturafeier, dem Weihnachtsgottesdienst, früher bei Sitzungen des Bezirksrates.

    Nun würde er einen neuen Anzug brauchen, womöglich sogar mehrere. Nach und nach wurde ihm bewusst, welche Aufgaben auf ihn zukamen. Falls er die Stelle erhielt, musste er am Gymnasium kündigen, wo er seit fünfzehn Jahren Geografie unterrichtete. Er fühlte sich seinem langjährigen Arbeitgeber durchaus verpflichtet, wie es überhaupt seine Art war, sich auf eine beinahe altmodische Weise verpflichtet zu fühlen. Vielleicht konnte er das Ganze auch auf eine für alle zufriedenstellende Art lösen, das hing von seinem jungen Fachkollegen Urs ab, der sich schon seit Jahren mehr Stunden wünschte.

    Als Koller, noch immer etwas abwesend und nachdenklich, die Küche betrat, sah ihn Rena amüsiert an.

    «Freu dich doch, Gian. Wenn’s nichts wird, hast du immerhin deinen Wert auf dem Arbeitsmarkt überprüft. Gut siehst du aus. Steht dir, solltest du öfter tragen. Meinst du nicht, es wäre wieder einmal an der Zeit, zum Frisör zu gehen?»

    Nun wurde Koller doch wütend. «Selbst wenn ich die Stelle kriege: Verbiegen lasse ich mich nicht!»

    «Was haben denn deine Haare damit zu tun, dass du dich nicht verbiegen lässt?»

    «Gerade du musst so was sagen!»

    Rena Koller hatte sich, schon lange, bevor sie sich kennen lernten, ihr von Natur aus dunkles, gelocktes Haar glätten und blond färben lassen, aus Protest gegen all das typisch Appenzellische, ja beinahe südländisch Dunkle, wie sie sagte. Das hatte er nie ganz begriffen, haderte er doch keineswegs mit seiner Herkunft oder Zugehörigkeit, ganz im Gegensatz zu seiner Frau, die nicht müde wurde zu kritisieren, zu hinterfragen, zu leiden, zu Unzufriedenheit oder gar Melancholie zu neigen, was im Übrigen ebenfalls als landestypisch galt. Ihre Haare färbte sie regelmässig nach, und Koller hatte auf ihrem Scheitel nie auch nur die Spur eines dunklen Ansatzes gesehen.

    Offenbar war sie just nicht in Stimmung für eine längere Diskussion, sondern wandte sich nur lachend ab. Unwillig trat Koller nochmals vor den Spiegel und fuhr sich pro forma mit dem Kamm durch seine widerspenstigen Haare, überprüfte den Sitz der Krawatte. Als er das Badezimmer verlassen wollte, stand seine Frau im Türrahmen und betrachtete ihn, ernst geworden.

    «Gian, ich wünsche dir von Herzen, dass es klappt, das wäre doch das Richtige. Und du möchtest Lorenz doch auch gerne entlasten und noch mehr Verantwortung übernehmen.»

    «Ich strebe sicher nicht nach mehr Verantwortung, aber einer muss es ja machen. Lorenz hat es lange genug und sehr gut gemacht.»

    «Auch du wirst es sehr gut machen, Gian.»

    Sie begleitete ihn vor die Türe, sah zu, wie er sorgfältig die dreckigen Stellen auf dem Weg zum betonierten Parkplatz umging und in den Wagen stieg. Er winkte kurz, bevor er wendete und davonfuhr. Sie verfolgte, wie der grosse, braune Wagen langsam die noch teilweise mit Schnee bedeckte Strasse hinabglitt, sah, wie ihr Mann den Blinker stellte, wartete, bis er unten in die Hauptstrasse eingebogen und aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Dann ging sie zurück ins Haus.

    Obwohl Koller das Gebäude schon seit Jahrzehnten kannte, beeindruckten ihn einmal mehr dessen Lage und Dimension. Gebaut als Herrenhaus unter der ehemaligen, im 15. Jahrhundert zerstörten Burg Clanx, erhob sich der trotz seiner Grösse nicht wuchtig wirkende Bau hoch am Hang über Appenzell. Er hatte, im Gegensatz zur weiter oben liegenden Burg, die Befreiungskriege unbeschadet überstanden und diente, nach einer wechselvollen Vergangenheit und wechselnden Besitzern, nun als Privatschule; dies in friedlicher Koexistenz mit dem christlich geprägten, mittlerweile staatlichen Gymnasium, an dem erst vor wenigen Jahren der letzte Kapuziner-Lehrer abgezogen worden war; nun unterrichteten am Gymnasium weltliche Lehrkräfte.

    Beide Schulen genossen einen ausgezeichneten Ruf. Gar manche Appenzeller Familie schickte ihre Kinder zur Ausbildung in die Privatschule am Lehn, sei es, weil sie mit der christlichen Ausrichtung des Gymnasiums nicht einverstanden war, was überaus selten und zumeist bei Zugezogenen der Fall war, oder sei es, in der Mehrzahl der Fälle, dass das internationale Renommee der Privatschule noch bessere Zukunftsperspektiven eröffnete. Beide Schulen boten die kantonale Matura an, ebenso neuerdings auch Programme zur Begabtenförderung.

    Die Strasse, die sich aus dem Lehn-Quartier den Hang hinaufzog, war schwarz geräumt, ebenso die etwas schmalere und steilere Zufahrt zur Schule. Koller schaltete in den zweiten Gang und bog langsam auf den halbleeren, grosszügig dimensionierten Parkplatz ein. Sein recht wuchtiger Volvo wirkte beinahe klein gegen die übrigen Karossen, die an diesem späten Freitagnachmittag noch dastanden. Die Verwalterin fuhr einen auffälligen Porsche Cayenne – als Zugeständnis an die hügelige Lage ihres Arbeitsortes –, ihr Gatte bevorzugte den rustikaleren Charme eines grossen goldenen Land Cruisers.

    Koller rief sich in Erinnerung, was er über die Schulleitung wusste: Beide, sowohl Konrad Wild, ein Einheimischer, dessen Eltern die Schule schon mit Erfolg geleitet hatten, als auch seine Frau, Ewa Lendenmann Wild, waren bekannte Grössen in der Appenzeller Gesellschaft. Er jovial, kunstbeflissen und weltgewandt, mit besten Beziehungen zu europäischen Grossunternehmen, weitgereister Sammler moderner Malerei – auch Rena hatte ihm eines ihrer Werke verkauft – und Doyen des örtlichen Kunstmuseums.

    Sie, einer begüterten Aargauer Industriellenfamilie entstammend, von ihren Eltern früh in ein Internat am Genfersee abgeschoben, eine kühle Technokratin von unverbindlicher Freundlichkeit mit besonderem Flair für Finanzielles, pingelig und kontrollsüchtig. So schien es auch nichts weiter als logisch, dass sie den Verwaltungsteil der Schule leitete, während ihr Mann für das Pädagogische verantwortlich war. Die beiden erwachsenen Söhne studierten im Ausland, die Ehe bot zu keinerlei Gerüchten Anlass. Gegensätze zogen sich offenbar an.

    Dass sich dies auch äusserlich bewahrheitete, konnte Koller feststellen, als die Sekretärin ihn zu Wilds Büro führte. Das Ehepaar empfing ihn unter der Türe. Konrad Wild reichte ihm lächelnd die Hand. Er trug einen hellgrauen Massanzug, in dem ein anderer Mann wohl dandyhaft gewirkt hätte, und der seine Leibesfülle nur ungenügend zu kaschieren vermochte. Das Gesicht des Schulleiters war rund, mit einer fleischigen Nase und vollen Lippen. Die ganze Gestalt verströmte etwas Behäbiges, Bäurisches, Authentisch-Sympathisches. Auch die Verwalterin trug Hellgrau, ein Business-Kostüm von raffinierter Schlichtheit, dazu Pumps mit schwindelerregend hohen Absätzen. Koller stellte sich vor, wie sie mit diesen Absätzen die Pedale des geländegängigen Porsche bediente, verkniff sich den Gedanken aber umgehend. Im Gegensatz zu ihrem Mann war sie schlank, fast hager, und von gepflegter Blässe. Falls sie geschminkt war, dann so diskret, dass es Koller nicht auffiel.

    Beide lächelten ihm freundlich entgegen. Man schüttelte einander die Hand, und Wild erklärte unternehmungslustig: «Schauen wir uns doch erst einmal um! Waren Sie schon einmal hier, Herr Koller?»

    «Ja, vor Jahren, aber nur

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