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Schlafender Drache: Kriminalroman
Schlafender Drache: Kriminalroman
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eBook357 Seiten4 Stunden

Schlafender Drache: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Kaum hat Caspari seine neue Arbeitsstelle im BKA angetreten, wird in Bad Orb der Geschäftsführer eines Weltkonzerns ermordet. Zu allem Überfluss finden sich Fußabdrücke von Casparis Freundin Clara am Tatort. Ein alter ungelöster Fall bringt
Casparis Privatleben schließlich endgültig ins Wanken …
SpracheDeutsch
HerausgeberEmons Verlag
Erscheinungsdatum21. Juli 2016
ISBN9783960410386
Schlafender Drache: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Schlafender Drache - Matthias Fischer

    Matthias Fischer, geboren 1964 in Hanau, wuchs in Bruchköbel auf, studierte evangelische Theologie in Oberursel und Mainz und absolvierte sein Vikariat von 1992 bis 1994 in Wächtersbach. Seit 1994 ist er evangelischer Pfarrer in einer Gemeinde im Kinzigtal sowie in der Notfallseelsorge tätig und schreibt erfolgreich Kriminalromane.

    Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

    © eBook-Ausgabe: Emons Verlag GmbH 2016

    Alle Rechte vorbehalten

    Erstausgabe: »Schlafender Drache«: Verlag M. Naumann, vmn, Hanau 2009

    Umschlagmotiv: photocase.com/Mad Mike

    Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

    eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

    ISBN 978-3-96041-038-6

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    Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de

    IN MEMORIAM

    BERNHARD NAUMANN

    DENN ALLE HOFFÄRTIGEN AUGEN WERDEN ERNIEDRIGT WERDEN, UND, DIE STOLZE MÄNNER SIND, WERDEN SICH BEUGEN MÜSSEN; DER HERR ABER WIRD ALLEIN HOCH SEIN AN JENEM TAGE.

    UND MIT DEN GÖTZEN WIRD’S GANZ AUS SEIN. DA WIRD MAN IN DIE HÖHLEN DER FELSEN GEHEN UND IN DIE KLÜFTE DER ERDE VOR DEM SCHRECKEN DES HERRN UND VOR SEINER HERRLICHEN MAJESTÄT, WENN ER SICH AUFMACHEN WIRD, ZU SCHRECKEN DIE ERDE.

    AN JENEM TAGE WIRD JEDERMANN WEGWERFEN SEINE SILBERNEN UND GOLDENEN GÖTZEN, DIE ER SICH HATTE MACHEN LASSEN, UM SIE ANZUBETEN, ZU DEN MAULWÜRFEN UND FLEDERMÄUSEN, DAMIT ER SICH VERKRIECHEN KANN IN DIE FELSSPALTEN UND STEINKLÜFTE VOR DEM SCHRECKEN DES HERRN UND VOR SEINER HERRLICHEN MAJESTÄT, WENN ER SICH AUFMACHEN WIRD, ZU SCHRECKEN DIE ERDE.

    SO LASST NUN AB VON DEM MENSCHEN, DER NUR EIN HAUCH IST; DENN FÜR WAS IST ER ZU ACHTEN?

    (Jesaja 2,11.18-22)

    PROLOG

    TIEFBLAU SCHIMMERTE DER KÖNIGSSEE, als das Schiff leise die Wasseroberfläche bewegte. Das Spiegelbild des Watzmann-Massivs zerfiel in viele kleine Wellen, die sich in der Weite des Sees verloren, je mehr sie sich vom Schiffsrumpf entfernten. Die roten Lärchenschindeln der Wallfahrtskirche St. Bartholomä leuchteten rot in der Frühlingssonne, während das Schiff auf die Halbinsel zusteuerte. Monika liebte diese atemberaubend schöne Landschaft, durch die sie wie im Traum zu schweben schien. Sie lebte in Bad Reichenhall, nur ein paar Kilometer von dieser gewaltigen Naturkulisse entfernt. Und doch gelang es ihr viel zu selten, sie ausgiebig zu genießen.

    »Wohin geht’s denn?«, fragte der Bootsschaffner mit einem freundlichen Lächeln.

    »Erst einmal auf die Wasseralm«, antwortete Monika. »Dann schau’n mer mal weiter.«

    »Ja, auf die Wasseralm wirst’s schon schaffen. Heuer ist der Schnee schon früh weggangen. Aber rüber zum Jenner liegt noch viel. Und oben bei den Teufelshörnern liegt auch noch einiges. Da musst wegen Lawinen schon schau’n! Vorletzte Woche bin ich mit den Tourenski drüben gewesen. Da ging es grad noch so.«

    Monika lächelte. Es war wohltuend, sich mit Menschen zu unterhalten, die vom Berg und vom Steigen etwas verstanden. Viele verwechselten die Touren, die sie ging, mit den breiten Wanderpfaden, die alljährlich unzählige Touristen in den Sommermonaten zu den Berghütten führten. Der Bootsschaffner gehörte zur Gemeinschaft derer, die mit den Bergen eng verbunden waren. Wer dazu gehörte, erkannte andere an der Art, wie sie über ihre Touren sprachen, oder vielmehr daran, was sie nicht darüber sagten. Die Wanderer erkannten sich an der Art zu gehen, den Rucksack zu tragen und daran, schweigen zu können, wenn der majestätische Anblick der Berge alles Fühlen und Denken an sich zog.

    »Ich lass’ mich überraschen«, antwortete sie ruhig.

    »Im Berg muss man halt auch immer ein bisserl Glück haben«, schloss ihr Gegenüber.

    Dann kamen sie an der Anlegestelle bei der Saletalm an. Sie hob die Hand zum Abschied, als sie von Bord ging. An einer Bank in der Nähe schnürte sie sich ihre Stiefel und zog die Riemen des Rucksacks fest. Dann ging sie mit federnden Schritten los. Von der Alm drang Lärm zu ihr herüber. Schnell ließ sie das dem Stimmgewirr zufolge überfüllte Lokal hinter sich und lief zum Obersee.

    ›Wenn die Touristen alle Mittag essen‹, dachte sie, ›bevölkern sie nicht den Weg zur Röth.‹ Kaum jemand begegnete ihr auf dem waldigen Pfad um den Obersee, dessen blanke Oberfläche sie schon als Kind fasziniert hatte. Aus der Ferne sah sie einige Wanderer, die sich an der Fischunken-Alm ausruhten. Ruhig schritt sie den ansteigenden Pfad voran. Schusterblumen und Buntschuh waren willkommene Farbtupfer im satten Grün der Bergwiese.

    ›Wie schnell doch die Natur nach dem Schnee zum Leben erwacht‹, sinnierte Monika, als sie schon das Rauschen des Röthfalls hörte. Und dann war er da. Die junge Frau stand auf einer runden Lichtung, die an einer fast gerade aufragenden Bergwand endete. Der Röthsteig war von dieser Stelle wie immer kaum auszumachen. Dass er dennoch dort war, musste sie sich jedes Mal aufs Neue in Erinnerung rufen, wenn sie hier stand. Auf der rechten Seite stürzte der Röthfall in die Tiefe und ergoss sich in einen großen Teich. Auf der linken Seite sah sie einen viel kleineren, aber doch sehr aktiven Wasserfall, dessen Wasser in einem flachen Bett ebenfalls in den Teich floss.

    Gierig trank Monika das kühle, frische Wasser und füllte ihre Flasche auf. Dann ging sie los, durch ein schmales Waldstück, das den Fuß der Röth säumte. Schnell fand sie den Pfad zur Wasseralm und folgte ihm. Feuchtes Laub lag auf dem schmalen Steig, der sich in Serpentinen die Wand hinaufschlängelte. Hier und da hatten Schneebretter Bäume mitgerissen, über die sie klettern musste. Nach einem guten Drittel des Weges teilte sich der Steig. Auf die linke Seite des Berges führte der Landsteig, der landschaftlich malerisch, aber dafür umso länger war als der Röthsteig, der nach rechts führte. Sie sah auf die Uhr. Sie hatte viel Zeit verloren und musste sich ranhalten, um nicht zu spät an der Alm anzukommen. Noch war dort die Saison nicht eröffnet. Der Hüttenwart würde erst in zwei Wochen dort oben das Regiment führen.

    Heute würde sie allein dort sein. Sie musste selbst Holz und Wasser holen, Feuer im Herd machen und sich rundum selbst versorgen. Deshalb musste sie vor Einbruch der Dämmerung dort angekommen sein. Nicht, dass sie etwas dagegen gehabt hätte. Sie wollte es so haben, wollte in Ruhe über ihre zerbrochene Liebe nachdenken, endlich Frieden schließen. Sie war müde. Ihre Seele sehnte sich nach einer Auszeit, ihr Körper dagegen nach mehr Bewegung. Entschlossen lief sie den Röthsteig hinauf. Immer steiler wurde er, immer beschwerlicher, immer schöner. Ein blauer Enzian schimmerte im Gras. Schmetterlinge flatterten über die Pflanzen, die sich auf dem steinigen Boden alle Mühe gaben, mit ihrer Schönheit von den Strapazen des Aufstiegs abzulenken. Als sie nach zwei Stunden oben angekommen war, empfing sie eine geschlossene Schneedecke auf dem Plateau.

    Mit geübten Handgriffen zog sie sich ihre Gamaschen an und stapfte durch den Schnee. Es war schon einige Jahre her, seit sie das letzte Mal hier gewesen war. Sie kannte den Weg nicht auswendig, musste ihn mühevoll suchen. Der Schnee bedeckte die meisten roten Markierungspunkte auf dem weißen Untergrund. Vorsichtig ging sie über das trügerische Weiß. Weich war der Schnee von der Wärme des Frühjahrs und den Regenfällen. Hier und da brach sie mit einem Bein ein und musste sich mühsam wieder herausziehen. Nach einer weiteren guten Stunde war sie über viele Steigungen zu der Lichtung gelangt, die sie suchte. Sie stand neben einer Jagdhütte, vor der sich eine Murmeltierfamilie auf einem Holzstapel sonnte. Die Tiere hatten ihr Kommen schon lange zuvor bemerkt und mit ihrem typischen Pfeifen angekündigt. Sie beobachteten Monika mit einer amüsanten Mischung aus Vorsicht und Desinteresse. Monika richtete ihren Blick auf die Wasseralm, die hundert Meter vor ihr lag. Die Hütte war von zwei Bächen umgeben und lag malerisch schön auf der Lichtung. Hier würde sie nach all den schlaflosen Nächten, den zerplatzten Hoffnungen und zerstörten Träumen wieder zu sich selbst finden können, ganz allein und in Ruhe.

    Doch als sie über die Brücke schritt, zuckte sie erschrocken zusammen. Aus dem Schornstein stieg Rauch auf. Jemand war in der Hütte, im Winterlager, jetzt, um diese Jahreszeit. Sie blieb stehen. Sollte sie wieder umkehren? Schnell verwarf sie diesen Gedanken und ging auf die Hütte zu. Als sie vor der grob gezimmerten Eingangstür stand, hörte sie aus dem Aufenthaltsraum Männerstimmen. Mit festen Tritten klopfte sie den Schnee von den Sohlen und streifte ihren Rucksack ab. Sofort erstarben die Gespräche im Inneren. Während sie sich auf die in der Außenwand eingelassene Bank setzte und ihre Gamaschen auszog, kam ein junger Mann heraus. Monika gefiel er auf Anhieb. Er war schlank, die Bartstoppeln und das zerzauste Haar gaben seiner Erscheinung etwas urtümlich Männliches. Seine Bewegungen strahlten Vitalität aus. Sein Lächeln hingegen wirkte etwas gezwungen. Doch das tat in Monikas Augen seiner Attraktivität keinen Abbruch.

    »Ich hätte nicht gedacht, dass noch jemand außer uns so verrückt ist, sich im Schnee hier hoch zu quälen«, sagte er, während er auf sie zukam.

    »Und ich hatte mich auf Ruhe und Stille hier oben eingestellt«, erwiderte sie. »Seit wann seid ihr da?«

    »Seit gestern«, antwortete er lächelnd. »War ein hartes Stück Arbeit, den ungeräumten Weg hier hoch zu kommen.«

    »Für Flachlandtiroler allemal«, bemerkte sie grinsend. Dieser Kerl sah einfach zu gut aus. In seiner Stimme klang etwas mit, das sie seit Jahren vermisst hatte. Sie konnte es nicht lassen, mit ihm zu flirten.

    »Wir sind zwar keine einheimischen Bergziegen, aber das ist nicht gerade unsere erste Bergtour«, wehrte er sich halbherzig.

    Während sie redeten, setzten die Gespräche im Inneren der Hütte wieder ein, diesmal jedoch in gedämpfter Lautstärke. Monika konnte nicht ausmachen, wie viele Personen sich außer dem hübschen Jungen noch auf der Alm befanden. Als sie die Stiefelschäfte aufband, entwich ihr ein leises Stöhnen. Sachte massierte sie ihre Fußgelenke, bevor sie in die Hüttenschuhe schlüpfte, die sie mitgebracht hatte. Der Fremde sah ihr schweigend dabei zu.

    »Ich hoffe, du magst eine etwas überladene Suppe.« Der Mann lächelte. »Einer der Jungs hat sich als Koch versucht und gleich drei verschiedene Fertigsuppen zusammen mit einigen Landjägern gekocht. Das Ergebnis ist so sättigend, dass noch reichlich übrig geblieben ist.«

    »Das hört sich an, als ob es gerade das Richtige nach diesem Aufstieg wäre«, antwortete sie.

    Durch die Eingangstür trat sie in den Hüttentrakt, in dem sich das Matratzenlager befand. Dreißig Personen fanden hier mühelos Platz.

    »Die Betten im Erdgeschoss sind nicht zu empfehlen«, flüsterte ihr Gesprächspartner. »Ich sage es nur ungern, aber einige meiner Bergkameraden sägen nachts schlimmer als jeder kanadische Holzfäller.«

    »Das hört sich nach einer Freikarte für das Dachgeschoss an«, antwortete sie.

    Ein leichtes Prickeln kroch ihren Nacken hinauf. Wann hatte sie zuletzt mit einem Mann geschlafen? ›Vor einer halben Ewigkeit‹, dachte sie, während sie den Rucksack vor sich her auf der Leiter hoch hievte. Im Matratzenlager unter dem Dach lag nur ein Schlafsack. Sie konnte sich denken, wem der gehörte.

    Als sie den Gemeinschaftsraum betrat, schlug ihr wohltuende Wärme entgegen. Das Feuer im großen Herd knisterte und zischte hörbar über die Stimmen der Männer hinweg. Da saßen sie, die Wanderer, die ihr ihren Traum von Abgeschiedenheit zunichtegemacht hatten. Sie selbst hatte allerdings ebenso den Eindruck, dass sie störte, auch wenn die Männer sich alle Mühe gaben, sich nichts anmerken zu lassen. Die sechs waren unterschiedlichen Alters. Einer von ihnen, ein Mann zwischen vierzig und fünfzig, schien der Chef zu sein. Und die anderen machten ihm diese Position offensichtlich nicht streitig. Sie gaben ihr einen Teller Suppe, die Monika tatsächlich überladen fand. Doch nach dem anstrengenden Aufstieg war sie ihr willkommen.

    Eine Flasche Enzian machte den Abend über oft die Runde, und die junge Frau verabschiedete sich, als sie den Alkohol zu spüren begann. Kaum lag sie im Schlafsack, schienen die Gespräche der Männer wieder ernst zu werden. Sie sprachen leise, flüsterten fast. Gelegentlich zischte einer von ihnen, wenn ein anderer zu laut wurde.

    Das leise Knarren auf der Stiege ließ Monika aufhorchen. Der Gutaussehende kam zu ihr hoch. Wie war sein Name gewesen? Sie hatten ihr alle ihre Vornamen genannt. Vielleicht war es dem Schnaps zu verdanken, dass sie sich keine Mühe gegeben hatte, sie zu behalten.

    Der Schein seiner Taschenlampe streifte ihr Gesicht. Er entschuldigte sich gleich.

    »Macht nichts, ich bin noch wach«, erwiderte sie.

    »Politik, Politik. Wenn die sich nur darüber zanken können«, meinte er und zeigte mit dem Daumen nach unten. Sie lächelte.

    »Dabei gibt es doch noch so viele andere Dinge, mit denen es sich zu befassen lohnt«, antwortete sie.

    Er verstand, was sie meinte. Schweigend zog er seinen Schlafsack in ihre Nähe und schlüpfte hinein, ohne den Reißverschluss nach oben zu ziehen.

    ›Auch in langer Unterwäsche sieht er noch verdammt gut aus‹, dachte sie anerkennend. Monika wusste nicht, was auf dieser Alm in sie gefahren war. Im Grunde gehörte sie nicht zu jenen Frauen, die mit jedem Mann ins Bett gingen, der ihnen gefiel. Aber das über Monate unterdrückte Verlangen nach Zärtlichkeit brach sich in ihr Bahn. Sie blickte ihm noch einmal in die Augen, bevor er die Taschenlampe löschte. Als sie sich küssten, hörte sie, wie er den Reißverschluss ihres Schlafsacks aufzog.

    Monika erwachte am nächsten Morgen später, als sie beabsichtigt hatte. Die Sonne, deren Strahlen durch das Dachfenster schienen, wärmte ihr Gesicht. Als sie sich aus ihrem Schlafsack zu schälen begann, fiel ihr ein, dass sie nackt war. Schnell zog sie ihr T-Shirt vor die Brust, doch dann erinnerte sie sich, dass sie im Halbschlaf leise Stimmen und Geräusche des Aufbruchs gehört hatte. Der Fremde, mit dem sie ihr Lager geteilt hatte, war fort. Eine Nacht hatte er ihr Freude bereitet und die Hoffnung geschenkt, dass die liebevolle und leidenschaftliche Verbindung zwischen ihr und einem Mann möglich war. Es war gut, dass er ohne ein Wort des Abschieds gegangen war. Noch war sie nicht so weit, sich wieder auf eine dauerhafte Beziehung einzulassen.

    Als sie sich auf der Matratze abstützte, um sich aufzurichten, stach etwas in ihre Hand. Es war seine silberne Halskette mit dem Anhänger. Er hatte sie vergangene Nacht ausgezogen, weil sich der Anhänger abwechselnd in seine und ihre Haut gebohrt hatte. Sie zog sie an. Doch dann befiel sie ihr schlechtes Gewissen. Vielleicht hatte diese Kette für ihn eine besondere Bedeutung und ihr Verlust schmerzte ihn.

    Sie stieg hinab in den Gemeinschaftsraum. Das Feuer im Herd brannte noch ein wenig. Nachdem Monika zwei Scheite nachgelegt hatte, nahm sie das Hüttenbuch und schlug nach. Alle Bergsteiger, die hier Schutz fanden, trugen sich darin ein. Das war ein ungeschriebenes Gesetz. Sie könnte diesen Anhänger an einen aus seiner Gruppe schicken. So käme er sicher wieder zu ihm. Doch als sie das Buch aufschlug, stutzte sie. Es gab keinen Eintrag der Männer darin. Monika konnte nicht glauben, dass sie nichts von dieser Pflicht wussten. Sie rüttelte etwas an der Geldkassette, die an die Wand geschraubt war. Sie war voller Scheine und Münzen. Wenn sie ihren Obolus für die Übernachtung und das Feuerholz gezahlt hatten, warum hatten sie ihre Namen nicht in das Hüttenbuch geschrieben?

    Monika entschied, sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen, sondern das Naheliegendste zu tun. Im eiskalten Wasser des Bachs wusch sie die Spuren der vergangenen Nacht ab. Nach einem kurzen Frühstück ging sie mit einer fast vergessenen Freude am Laufen zurück zum Röthfall. Der pappige Schnee machte ihr zwar die Besteigung der Teufelshörner unmöglich, aber die Berchtesgadener Alpen boten noch genug Möglichkeiten, die Seele aufzutanken.

    GELNHAUSEN

    Caspari holte Clara am Pfarrhaus in der Oberen Haitzer Gasse ab. Als er vor dem Haus hielt, kam sie sofort aus der Tür. Sie trug ein luftiges Sommerkleid, das dem Betrachter allzu aufdringliche Blicke verwehrte und doch ihre Figur dezent betonte. Sein Blick verfing sich darin wie der Falter im Netz der Spinne. Er liebte jede ihrer Bewegungen, die eher burschikos als elegant waren. Sie stieg in seinen Volvo, stieß ihm mit ihrem Ellenbogen leicht in die Rippen, neigte sich zu ihm hinüber und flüsterte ihm ins Ohr: »Alter Lüstling! Wenn du alle Frauen so anstarrst, bekommst du Ärger mit mir.«

    Danach strich sie eine Strähne ihres brünetten Haares aus der Stirn und gab ihm einen sanften Kuss. Caspari war in diesem Augenblick sehr dankbar für die Klimaanlage in seinem Wagen. Ohne sie wäre ihm bei der Hitze des Hochsommers und dem Temperament seiner Freundin der Schweiß in Strömen geflossen. Clara grinste ihn frech an.

    »Willst du nicht losfahren? Vom Parken im Halteverbot bekommst du garantiert keinen Anzug.«

    Er fühlte sich übertölpelt und startete unkonzentriert den Kombi. In der kommenden Woche würde seine ›kleine‹ Schwester Iris seinen alten Freund Benny heiraten. Clara würde die beiden als evangelische Pfarrerin an der Gelnhäuser Marienkirche trauen. Es war höchste Zeit für Caspari, sich einen Anzug zu kaufen.

    »Ich verstehe nicht, warum wir wegen eines Anzugs und ein paar Sakkos extra zu dieser Kleiderfabrik fahren müssen. Anzüge bekommst du doch bei jedem Herrenausstatter«, beschwerte sich Clara.

    »Das hatten wir doch schon einmal«, erwiderte Caspari. »Mir passt kein Anzug von der Stange.«

    Clara ließ nicht locker.

    »Jetzt gib nicht so an. Sakkos lassen sich ohne größeren Aufwand umarbeiten.«

    »Das sieht aus wie gewollt und nicht gekonnt. So etwas hatte ich schon einmal. Bald fange ich als Kriminalrat beim Bundeskriminalamt an. Dort kann ich nicht mit schlecht sitzenden Sakkos rumlaufen!«

    Caspari hatte bis vor Kurzem als promovierter Kriminalpsychologe und Hauptkommissar die Abteilung für Morde mit krankhaftem psychischem Hintergrund im Landeskriminalamt Hessen geleitet. Er und seine Mitarbeiter waren vor einiger Zeit vom Bundeskriminalamt abgeworben worden.

    »Na gut. Es ist ja nur einer meiner seltenen freien Nachmittage, die ich dafür opfere«, murmelte Clara mit gespielt anklagendem Ton.

    Caspari rollte die Augen. Für den Rest der Fahrt sparten sie dieses Thema aus, was hauptsächlich deshalb möglich war, weil Clara die Musik auswählen durfte. Sie entschied sich für eine CD mit kubanischer Musik, zu deren Rhythmen sie auf dem Beifahrersitz hin und her wippte. Caspari warf hin und wieder einen verstohlenen Blick zu ihr hinüber. Wie sehr er diese Frau liebte, besonders wenn ihr irisches Temperament mit ihr durchging. Kurzentschlossen setzte er den Blinker und bog ab in Richtung Herrenausstatter.

    Wenig später schaute die Verkäuferin im Laden jedoch skeptisch, als Clara ihr klar zu machen versuchte, dass man einen Hünen wie Caspari in einen umgearbeiteten Konfektionsanzug stecken könnte. Sie bat Caspari, seine Sommerjacke auszuziehen. Er musste sich ein Grinsen verkneifen, denn er kannte das Prozedere, das jetzt kommen würde. Die Verkäuferin betrachtete ihn von allen Seiten.

    »Nein, das geht wirklich nicht!«, protestierte sie. »Die Länge wäre nicht das Problem, aber die starken Schultern und Arme. Damit passen Sie nur in einen Konfektionsanzug für einen sehr korpulenten Mann. Das Sakko müssten wir so stark taillieren, dass die Taschen auf der Jacke zu weit nach hinten rücken würden.«

    Caspari genoss den Ausdruck der Kapitulation auf Claras Gesicht.

    NANGANG

    Der Schlag traf ihn ohne Vorwarnung. Wang Hao wurde von seiner Wucht zu Boden geschleudert. Eigentlich hätte er das Bewusstsein verlieren müssen. Doch er hatte einen harten Schädel, der auch einem Knüppel trotzte. Blut lief Wang Hao in die Augen. Mit zittrigen Bewegungen wischte er es weg.

    »Geh endlich weg, alter Mann«, brüllte der Angreifer. »Das ist nicht mehr euer Land. Hier wird eine Firma gebaut, die mehr Menschen Arbeitsplätze geben wird, als jemals in eurem Dorf gelebt haben.«

    »Diesen Boden hat schon mein Vater beackert, und davor sein Vater und auch dessen Vater. Ich gehe nicht!«, schrie der Alte halb aufgerichtet.

    Der andere gab ihm eine schallende Ohrfeige, die Wang wieder auf die dunkle Scholle warf.

    »Du wirst dieses Land nicht mehr besetzen. Ihr alle werdet eure Äcker räumen! Nächste Woche kommen die Planierraupen. Die werden euch unter eurem Ackerboden begraben, wenn ihr dann noch in euren Zelten darauf haust!«

    Der Schlägertrupp verschwand so schnell, wie er gekommen war. Zurück blieben die Bewohner des Dorfes Nangang, die stöhnend am Boden lagen. Mit schmerzenden Gliedern schleppten sie sich in ihre Häuser und versorgten ihre Wunden. Am Abend trafen sich die Ältesten und deren Söhne in Herrn Wangs Haus. Er ahnte, was sie sagen würden: dass sie keine Kraft mehr zum Widerstand gegen diesen übermächtigen Feind hätten; dass ein Leben als Tagelöhner in irgendeiner Großstadt immer noch besser sei, als totgeschlagen zu werden. Doch so schnell wollte und konnte Wang nicht aufgeben. Einen Trumpf hatte er noch. Den wollte er unbedingt noch ausspielen.

    Mit einem dicken Verband um den Kopf empfing er seine Nachbarn, alles Männer, mit denen er aufgewachsen war, und deren Söhne. Seine Frau servierte Tee, dann setzte sie sich schweigend neben ihn.

    »Was können wir jetzt noch tun, Hao?«, fragte der alte Bo. »Der Provinzgouverneur ist korrupt bis auf die Knochen. Diese Rotzlöffel mit Knüppeln hat er uns geschickt.«

    »Wir haben weder die Macht noch die Mittel, uns zu wehren«, stimmte Wang zu. »Also müssen wir uns an jemanden wenden, der uns helfen kann.«

    »Aber Herr Wang«, meldete sich der junge Xiu, »wer könnte das denn sein? Die hohen Herren in Peking sicher nicht. Denen ist das egal.«

    »Zu lange haben wir uns gewehrt wie Schafe gegen Wölfe«, erwiderte Wang. »Jetzt ist es an der Zeit, dem Drachen den Wolf zu überlassen.«

    »Wie meinst du das?«, fragte der alte Chun.

    »Einige von euch werden sich noch an meinen Bruder Li erinnern«, fuhr Wang fort. »Er war sehr stark und schnell, besuchte die Kung-Fu-Schule des ehrwürdigen Meisters Chen einige Kilometer von hier. Mein Bruder konnte als Zweitgeborener nur auf einen kleinen Teil des Erbes meines Vaters hoffen. So will es das Gesetz der Ahnen. Li und ich verstanden uns immer sehr gut. Er war nicht eifersüchtig auf mich und behauptete sogar, er habe das bessere Los gezogen, denn auf diese Weise sei er frei, in die Welt hinaus zu gehen und irgendwo sein Glück zu machen. Das ist ihm tatsächlich gelungen. Heute lebt er in Shanghai

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