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Schlangen, Guillotinen und ein elektrischer Stuhl: Meine Abenteuer mit der Alice Cooper Group
Schlangen, Guillotinen und ein elektrischer Stuhl: Meine Abenteuer mit der Alice Cooper Group
Schlangen, Guillotinen und ein elektrischer Stuhl: Meine Abenteuer mit der Alice Cooper Group
eBook506 Seiten6 Stunden

Schlangen, Guillotinen und ein elektrischer Stuhl: Meine Abenteuer mit der Alice Cooper Group

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Über dieses E-Book

Die Erfinder des Schockrock:
provokant und genial

"Bevor die Welt je etwas von KISS, den New York Dolls, Marilyn Manson oder Ozzy Osbourne hörte, gab es Alice Cooper, die allererste Schockrock-Band." Das sagten die Experten der Rock and Roll Hall of Fame, bevor sie Alice Cooper in ihren erlauchten Kreis aufnahmen. Tatsächlich hat die Band aus Phoenix Geschichte geschrieben, und das nicht nur mit Hits wie "School's Out" oder "Poison": Die Alice Cooper Group illustrierte ihren harten Rocksound live mit drastischer Horrorfilm-Ästhetik, die das Erlebnis der Rockshow revolutionierte. Ohne sie würde heute bei Rammstein nicht die Bühne brennen.

Dennis Dunaway war Gründungsmitglied und Bassist der Alice Cooper Group und erlebte diese prägenden Zeiten nicht nur mit, sondern war auch aktiv an ihrer Gestaltung beteiligt. "Ich betrachte Dennis Dunaway heute immer noch als einen meiner besten Freunde", sagt Vince Furnier alias Alice Cooper selbst über den Mann, den er 1964 kennenlernte. Noch als Teenager gründeten die beiden mit Michael Bruce, Glen Buxton und Neal Smith eine knallharte Rocktruppe, die zunächst in Gefängnissen, Cowboy-Bars und Teenieclubs auftrat. Ihre wilde, unglaubliche Karriere führte sie über Hollywood zurück nach Detroit, und auf diesem Weg entwickelten sie ihre einzigartige Show, die zur Legende wurde.

Mit Hits wie "I'm 18", "School's Out" oder "No More Mr. Nice Guy" machte die Alice Cooper Group mehr Umsatz als jede andere Band in den USA zu ihrer Zeit. Zahllose Platinauszeichnungen folgten, 1973 wurde das Album "Billion Dollar Babies" weltweit zum Megaseller. Ihr Look wurde von zahllosen anderen Bands kopiert. Die Geschichte, die sich währenddessen hinter den Kulissen abspielte, war genauso verrückt wie das Gebaren der Band auf der Bühne. Dunaway nimmt den Leser mit in die Hinterzimmer, die Garderoben, zu den Brainstorming-Sessions und zu den exklusivsten Partys der Siebzigerjahre, aber er verliert dabei nie die Musik aus den Augen: "Schlangen, Guillotinen und ein elektrischer Stuhl" schildert kenntnisreich und packend den Kreativprozess, der den großen Hits vorausging, und die Chemie innerhalb einer einzigartigen Band, die diesen Sound überhaupt erst ermöglichte.
SpracheDeutsch
HerausgeberHannibal
Erscheinungsdatum15. Sept. 2016
ISBN9783854456032
Schlangen, Guillotinen und ein elektrischer Stuhl: Meine Abenteuer mit der Alice Cooper Group

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    Buchvorschau

    Schlangen, Guillotinen und ein elektrischer Stuhl - Dennis Dunaway

    Cover.jpg13883.jpgLogo_Hannibal_s/w.JPG

    www.hannibal-verlag.de

    Widmung

    Meinen beiden wunderbaren Töchtern gewidmet, die mich zum Schreiben des Buches drängten, und meiner wunderschönen Frau. Ihnen gehört meine wahre Liebe.

    001.tif

    In liebevoller Erinnerung an Glen Buxton

    1947–1997

    Impressum

    Die Autoren: Dennis Dunaway und Chris Hodenfield

    Deutsche Erstausgabe 2016

    Englische Originalausgabe by St. Martin’s Press, LLC

    mit dem Titel

    „Snakes! Guillotines! Electric Chairs! My Adventures in the Alice Cooper Group"

    ISBN 978-1-250-04808-0

    © 2015 by Dennis Dunaway und Chris Hodenfield

    Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin’s Press LLC durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen, vermittelt.

    Coverfotos:

    vorne © Michael Ochs Archives / Stringer / Getty Images

    hinten © The Estate Of David Gahr / Getty Images

    Umschlagdesign: © Rob Grom

    Porträt von Glen Buxton S. 5 – Ingo Gierdal

    Handgeschriebene Notiz, S. 351: Privatsammlung Dennis Dunaway

    Text von „Black Juju", S. 194: Mit freundlicher Genehmigung von Ezra Music

    Lektorat: Dr. Matthias Auer

    Übersetzung: Alan Tepper

    Layout und Satz: Thomas Auer, www.buchsatz.com

    Druck: CPI Books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm

    © 2016 by Hannibal

    Hannibal Verlag, ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen

    www.hannibal-verlag.de

    ISBN 978-3-85445-603-2

    Auch als Paperback erhältlich mit der ISBN 978-3-85445-602-5

    Hinweis für den Leser:

    Kein Teil dieses Buchs darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, digitale Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden. Der Autor hat sich mit größter Sorgfalt darum bemüht, nur zutreffende Informationen in dieses Buch aufzunehmen. Es kann jedoch keinerlei Gewähr dafür übernommen werden, dass die Informationen in diesem Buch vollständig, wirksam und zutreffend sind. Alle durch dieses Buch berührten Urheberrechte, sonstigen Schutzrechte und in diesem Buch erwähnten oder in Bezug genommenen Rechte hinsichtlich Eigennamen oder der Bezeichnung von Produkten und handelnden Personen stehen deren jeweiligen Inhabern zu.

    Inhalt

    Danksagungen

    Prolog: Eröffnungs-Akkorde …

    1. School’s In

    2. Headliner und Guillotinen

    3. Sunset Stripped

    4. Pleite, am Ende und spacey

    5. Topanga

    6. „Eure Musik tötet die Petunien meiner Frau!"

    7. Pretties For You – Das Unfall-Album

    8. Alles klar im Jahr – 1969!

    Bildstrecke

    9. Blood, Sweat und Toledo

    10. Die Farm der Freaks

    11. Spinnenaugen

    12. Love It To Death

    13. Killer

    14. Bowling in Hollywood

    15. Hello, Dalí

    16. Die Geburt der Billion Dollar Babies

    17. Muscle Of Love

    18. Trennung

    19. Das kalte Zimmer

    20. There’s no business – like no business

    21. Die Hall of Fame

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    15912.jpg

    Es erscheint mir oft wie ein früheres Leben, doch es war 1964, als die Idee, konzeptuelle Kunst und Musik zu vereinen, mein Teenager-Denken mit uneingeschränkter Leidenschaft und dem absoluten Willen zu dessen Umsetzung bestimmte. Das Konzept wurde zuerst vom Spaßfaktor dominiert, wodurch es leichter wurde, andere zum Mitmachen zu animieren. Das Samenkorn war gesät, es wuchs dann und führte zur Geburt von Alice Cooper. Vince Furnier, Glen Buxton, Michael Bruce, Neal Smith und meine Wenigkeit – nicht zu vergessen Charlie Carnal, Mike Allen und Cindy Smith Dunaway – leisteten die Pionierarbeit. Und mit der brillanten Hilfe von Shep Gordon, Joe Greenberg und Bob Ezrin wurde aus dem Traum Realität.

    Mein altes Leben wäre zu Ende gewesen, wenn mich Morbus Crohn hinweggerafft hätte. Ostern 1997 – während eines langen Krankenhausaufenthalts – schlich der Sensenmann um mein Bett. Doch da ergriff ein Gedanke von mir Besitz: Ich wollte dem Vorschlag einer meiner Töchter folgen und ein Buch schreiben. Für mich bedeutete das, um alles in der Welt die Operation zu überstehen. Den Löffel während der Niederschrift eines Buches abgeben, das darf man einfach nicht. Erneut hing ich einem kreativen Traum nach, den ich umsetzen wollte, und wieder einmal benötigte ich die Hilfe anderer.

    Mein größter Dank gebührt meiner wunderschönen und talentierten Frau Cindy, die unser Leben in den richtigen Bahnen hielt, während ich die Tage mit Tippen verbrachte. Wenn meine Gedanken zu nahe am Sternenhimmel schweben, erdet sie mich wieder, und das mit Stil! Ich möchte mich zudem bei unseren Töchtern Renee und Chelsea für ihre übermäßig harte Arbeit bedanken, ihr Talent und die rückhaltlose Unterstützung.

    Ewigen Dank schulde ich auch Sharyn Rosenblum und Dereck Walton, die wie ich an die Story glaubten und die mir das gute Gefühl des Willkommen-Seins in der aufregenden Literatur-Welt New Yorks vermittelten. Ich hatte mir bereits lange Zeit die Hacken nach einem Verlagsvertrag abgelaufen, als mich Sharyn mit ihrem ansteckenden Enthusiasmus Jim Fitzgerald vorstellte, dem Rockstar der Literaturagenten. Jim hatte schon Tausende von Offerten bekommen, doch er schenkte mir genügend Zeit zur Vorstellung meiner Idee. Mit seiner rauen und kratzigen Stimme, die Cindy an Glen Buxton erinnert, willigte er schließlich ein, sein Möglichstes zu versuchen.

    Um das Manuskript in eine angenehm fließende Lektüre zu verwandeln, brauchte ich einen fähigen Autor. Es musste jemand mit genügend Einblick sein und zugleich ein Zeitzeuge, damit der Sprachstil der damaligen Ära gewahrt blieb. Chris Hodenfield war der erste Autor, der mir einfiel, und er stellte sich als die perfekte Wahl heraus.

    Ich möchte mich bei David Cluett und Paul Brenton für die großzügige Hilfe bei den Fotos bedanken. Wir plagten uns mit Einbahnstraßen ab, Umwegen und Straßensperren, doch fanden auch einige seltene Schätze.

    Am wichtigsten war ein geeigneter Verlag, und an dieser Stelle lief Jim Fitzgerald zu Hochform auf. Ein Autor kann sich keinen kenntnisreicheren und leidenschaftlicheren Lektor wünschen als Rob Kirkpatrick und kein grandioseres Expertenteam als das bei Thomas Dunne und St. Martin’s Press, darunter Jennifer Letwack, David Lott und Korrektorin Jenna Dolan.

    Die kreativen Energien vieler kanalisierten sich, und wir alle verwirklichten schließlich diesen Traum.

    D.D.

    15933.jpg

    Auf mir lastet der Fluch eines lebhaften Erinnerungsvermögens. Mittlerweile ist es schon ein Running Gag geworden, wenn ich mit einigen befreundeten „Straßenkriegern zusammensitze, ihnen bei einer der überbordenden epischen Storys der Rock’n’Roll-Jahre zuhöre und dann dazwischenbrülle: „Nein, nein, nein, so ist das aber nicht passiert! Natürlich gibt es für meine Kumpels so einige Gründe für den „Gedächtnisverlust". Wir jagten den Amüsements hinterher, und im Gruselkabinett der Späße hörte man so einige markerschütternde Schreie.

    Während der Tage als Teilnehmer eines Kunstkurses verpasste mir Alice den Spitznamen Dr. Dreary. Der Grund dafür lag in der Gewohnheit, mich in meinen Gedanken zu verlieren. Was aber die Konzeptualisierung diverser Projekte anbelangte – da agierten wir beide wie wahnsinnig gewordene Fanatiker. Die Kunst war unsere wahre Berufung, und sie gründete in der Gewohnheit, Menschen zu beobachten. Ein Künstler erkennt Zusammenhänge, die anderen verborgen bleiben. Ich begann also penibel Notizbücher mit meinen Träumereien sowie Tagebücher zu führen. Sogar während der turbulenten Jahre schrieb ich immerzu Briefe nach Hause. Während die künstlerischen Projekte raketengleich in bizarre Gefilde schossen, bedeuteten mir die exakten Aufzeichnungen meiner Erinnerungen sehr viel.

    Als Teenager packte mich die Idee, die schrägen Fantasien und Kreationen meiner Kunstwelt auf eine Rockband zu übertragen. Mein bester Freund teilte den Enthusiasmus dieses Ansatzes, woraufhin wir andere zum Mitmachen überredeten. Einige verstanden es sofort, manche jedoch wollten uns eins in die Fresse hauen. Dennoch handelten wir wie Getriebene, die ihre Vorstellung mit der ganzen Welt zu teilen beabsichtigten.

    Unser kollektiver Traum wurde Wirklichkeit. Das ist die Essenz von Alice Cooper.

    Möglicherweise möchten Sie etwas über Ihren Helden Alice Cooper erfahren oder über die Ungerechtigkeiten, die der ursprünglichen Gruppe widerfuhren. Ich schreibe dieses Buch, weil ich stolz bin auf das, was meine engsten Freunde und ich erreicht haben. Schuldzuweisungen jedweder Art sind unbedeutend. Schuldzuweisungen verdrängen nicht die Erinnerungen daran, wie verdammt großartig das schnelle Leben eines Rock’n’Rollers in den Sechzigern und Siebzigern war.

    Legt die Tragödie auf Eis. Wir hatten Spaß – und das zum Quadrat!

    Als Rockstar diese Ära überlebt zu haben, stellt ein unglaubliches Wunder dar. Entscheidungen wurden getroffen, während wir durch den tiefen Weltraum donnerten, ständig in gefährliche Meteoritenhagel eintauchten und uns aus ihnen retten konnten. Gab es Fehlentscheidungen? Jeder trug dazu bei, und einiges wirkte sich stärker aus als anderes. Möchten Sie mehr erfahren? Ja, ich bin hier, um Ihnen die Geschichte zu erzählen, so wie ich mich daran erinnere.

    Und ich erinnere mich genau daran. Einige Ereignisse dieser Erzählung wurden zusammengefasst, und auch die Abfolge mag leicht überformt sein. Aber sie nähert sich der Realität so nahe an, wie es mir möglich war. Falls Sie ein Fan der Alice Cooper Group sind, erinnern Sie sich vielleicht an ein in kreischendes Rot getauchtes Bild, das Alice am Galgen baumelnd zeigt, während wir dem Publikum „Killer" in die Ohren prügelten. Unsere Spezialität lag in der Kreation greller bildintensiver Shows, um den Zuschauer sozusagen auf den Gehsteig zu befördern, wo er, sich um die eigene Achse drehend, dann hin- und hertaumelte. [Dennis Dunaway nutzt gelegentlich die Schreibweise Alice Cooper Group, um explizit auf die Band, bestehend aus fünf Mitgliedern, hinzuweisen. In den späten Sechzigern/frühen Siebzigern galt jedoch Alice Cooper als korrekter und offizieller Bandname, A.T.]

    Manchmal schien ein unheilvolles Schicksal nur auf uns zu warten. Das passiert, wenn man in Strafvollzugsanstalten, auf Luftwaffenstützpunkten oder in Cowboy-Kaschemmen mit einem außergewöhnlich hohen „Feindseligkeits-Faktor" spielt. Wir mochten Auftritte in den Fressbuden der einfachen Leute, doch gelegentlich schien das Publikum nur darauf zu warten, uns eine Rasierklinge durchs Gesicht zu ziehen.

    Und dann war da noch São Paulo – ein Konzert, das sich in meine Erinnerung eingefressen hat, und dies nicht nur, weil es unser letzter gemeinsamer Gig sein sollte. Gigantisch. Man erwartet keine 158.000 Zuschauer unter dem Dach eines einzigen Veranstaltungsortes. Laut Guinness-Buch der Rekorde war es das größte Konzert, das jemals in einer Halle stattfand. Ich weiß zumindest eins: Als ich durch den Vorhang auf die Menge blickte, überkam mich der Eindruck, ich sähe die Milchstraße.

    Für die Alice Cooper Group war Realität ein Fremdwort. Wir unternahmen alles Erdenkliche, um das Reale bis zum Letzten auszureizen, zu überschreiten und es – wie in einem Zerrspiegel – zu manipulieren. Schon von den frühesten Tagen an hatten wir die Tatsache zu akzeptieren, dass uns die Fans auf eine besondere Art huldigten – indem sie selbst total durchknallten.

    Was das Konzert in São Paulo anbelangte: Man gewann schnell den Eindruck, dass jeder Freak der südlichen Hemisphäre aufgelaufen war, um eine spezielle Portion des brasilianischen Wahnsinns aufzutischen. All die abgewrackten und aufgedonnerten Zuschauer vermittelten uns ein vertrautes Gefühl, doch unglücklicherweise herrschte eine beklemmende und einschüchternde Atmosphäre.

    Zuerst hatte uns die Polizei an den Rand der Verzweiflung gebracht. Brasilien befand sich noch in den Klauen einer Militärdiktatur, und die Cops freuten sich, uns ihre Macht und Durchsetzungsfähigkeit zu demonstrieren. Für den Soundcheck am Nachmittag pferchte man die Musiker in Militärfahrzeuge, die sich den Weg durch die Menge ohne Rücksicht auf Verluste bahnten. Wir waren sicher, dass sie einen der Jugendlichen ummähen würden, woraufhin Alice den Mann am Lenkrad anbettelte, er solle doch bitte langsamer fahren, doch dieser brüllte nur etwas auf Portugiesisch, lachte und legte noch einen Zahn zu.

    An dem Abend schauten wir in den Zuschauerraum, und da standen sie in der ersten Reihe – mit verkrampften Händen Automatikgewehre haltend. Sie wirkten so angespannt wie Meth-User, dieselben Cops vom Nachmittag, doch nun mit nervösen Fingern. Und ausgerechnet die sollten uns schützen!

    Abgesehen von den Bullen schwebte ein befremdlicher emotionaler Druck über der Band. Wir redeten nicht darüber, denn das war ganz und gar nicht unser Stil. Doch man spürte es, ein Gefühl, als habe man die Kontrolle über einen Traum verloren. Wir hatten die mächtige Lokomotive konstruiert, und nun versagten die Bremsen, die Räder fielen ab – und vor uns lag eine in sich zusammengestürzte Bücke …

    Ich schaute in Richtung Michael Bruce. Er warf mir einen angenervten Blick zu, der auszudrücken schien: „Kannst du das hier glauben?" Die Gitarre hing über seiner Schulter, während er mit dem freien Arm eine vereinnahmende Brasilianerin von der Vorband an sich drückte. Auf der Jagd nach den Schönheiten der Frauenwelt war er unermüdlich. Im Privatleben begab er sich immer auf eine neue Eroberungsreise, doch auf der Bühne zeigte er sich so zuverlässig wie ein bulliger Mack-Truck. Dennoch verriet sein verbissener Gesichtsausdruck für mich einen Hauch von Enttäuschung. Überall spielten wir vor ausverkauften Häusern, hatten ein Nummer-1-Album veröffentlicht und freuten uns über Storys in Magazinen, die uns als die Band mit dem höchsten Brutto-Umsatz weltweit feierten – höher als derjenige der Stones und von Led Zeppelin! Doch Moment mal, wo waren denn die Schecks? Kein Wunder, dass Michael so verärgert aussah.

    Die Mimik von Glen Buxton, dem zweiten Gitarristen, schien sich schon seit einem Jahr nicht geändert zu haben – es war ein teilnahmsloses Starren, das sich in der Ferne verlor und Unheil ankündigte. Glen hatte als Erster erkannt, dass etwas in der Gruppe nicht stimmte. Seine Reaktion darauf: Verdrängung durch Partys. In Brasilien tischte man ihm unverschnittenes Zeug auf dem Silbertablett auf. Erst zwei Tage zuvor hatte ich ihn durch den Flur des Copacabana kriechen sehen, abgeschossen in einer Welt, fernab und verschwommen.

    Das Buch ist Glen gewidmet, sicherlich eines dieser unschätzbaren Originale, die man nur selten im Leben trifft. Er musste einen Raum bloß betreten, und schon machte er Witze am laufenden Band, die jeden wegfegten. Das erwartete man von ihm. Als Musiker konnten wir damit rechnen, dass er brettharte Gitarren-Parts ablieferte, die von weit entfernten Planeten stammten. Doch nun war Glen mehr daran interessiert, sich dem eigenen Schicksal auszuliefern.

    Über ihm thronte Neal Smith, unser extravaganter Drummer, ein goldener Gott. Nein, „Gold" reicht hier nicht zur Beschreibung – er war der Platin-Gott, der uns unterhielt und dazu antrieb, ein immer noch höheres und explosiveres Level zu erreichen. Zwischen mir und Neal bestand eine enge Verbindung, und das nicht nur, weil ich mit seiner Schwester schlief. Sein Schlagzeug und mein Bass waren zu einer untrennbaren und mysteriösen Einheit verschmolzen, die weit über das hinausging, was man landläufig als Rhythmus-Sektion beschreibt. Meine Basslinien fütterten den minimalistischen und ursprünglichen Drumbeat. Wir schlossen uns eng zusammen und erzeugten dabei mehr Donner als eine Bomberflotte am Himmel.

    Und dann war da Alice, der Comedian und Philosoph, der fürsorgliche Predigersohn, der auf der Bühne in seine Rolle als Verkörperung des Bösen schlüpfte. An diesem Abend in Brasilien hatte er gute Laune, obwohl er ängstlicher als sonst erschien. Vielleicht lag es an der unheilvollen Stimmung? Er war nicht sonderlich besoffen, doch man roch eine Bier-Fahne. Das Gesicht war vom dick aufgetragenen Augen-Make-up verdunkelt. Alice trug sein Leder-Outfit sowie den gefärbten Hodenschutz und wirbelte mit dem Schwert durch die Luft, scheinbar zu allem bereit.

    Die brüderliche Harmonie zwischen Alice und mir hatte erst kürzlich einen Knacks bekommen. Allerdings zeigte sich die Anspannung innerhalb der Band niemals auf der Bühne. Waren wir erst mal draußen, stimmte alles. Ein Jahrzehnt lang liebten wir die Musik über alles, und sie war nun unser letzter Zufluchtsort geworden.

    In São Paulo spielten wir ohne den großen Bühnenaufbau. Alles beschränkte sich auf die Musiker und die Musik. Wie in alten Zeiten waren wir wieder eine Rockband, am zufriedensten in einer rauen, aggressiven und zähnefletschenden Stimmung.

    Wir rannten auf die Bühne und kreierten einen infernalischen Klang-Orkan. Natürlich hätte niemand ahnen können, dass es die letzte Show sein würde. Doch uns überkam das leidenschaftliche Fieber eines ehemals verliebten Pärchens, das gemeinsam ausgeht, es noch einmal versucht, sich dann einen Abschiedskuss gibt, wobei jeder mit zitternder Stimme haucht: „Bitte vergiss mich jetzt nicht."

    Hey, ich kenne diese Typen seit der Highschool. Wir haben seit der Zeit als schlaksige Teenager aufs Engste zusammengelebt – Wange an Unterkiefer, Unterkiefer an Achselhöhle –, in billigen Absteigen und geräumigen Häusern, kannten all unsere verborgenen und dunklen Geheimnisse. Einige Jahre vor dem Konzert, wir teilten uns damals ein Farmhaus in Michigan, bemerkte ich ein ständig wiederkehrendes Phänomen. Wenn einer von uns in ein leeres Zimmer ging und sich auf die Couch setzte, kam schon bald ein weiterer, dann der nächste, gefolgt vom übernächsten. Das glich einer organischen Maschine, die nur läuft, wenn alle Teile im Einklang miteinander sind.

    Solch eine Nähe kann natürlich auch zu viel werden. Als wir in São Paulo aufschlugen, war unsere 24-stündige Party von Verantwortlichkeiten gegenüber einer viel größeren Maschine belastet.

    Es hatte sich alles zu einer nervenzehrenden Halluzination entwickelt. Natürlich gab es zahlreiche Freuden und Annehmlichkeiten. Das will ich gar nicht abstreiten. Zum Gefühl, auf einer Bühne zu stehen, zu diesem Mix aus euphorischer Liebe und fordernder Ekstase gibt es nichts Vergleichbares an Lebenskraft. Zu deinen Füßen landen Feuerwerkskörper, Liebeskettchen und überschäumende Bierdosen.

    Die Flut kommt auf dich zu und zieht dich auf den Ozean hinaus.

    Fünf junge Kerle aus der Highschool, die auf schnelle Autos standen, sprangen in den superheißen Schlitten Rock’n’Roll und fielen wieder raus. Ich werde unseren Traum mit Ihnen teilen. Doch wie bei jedem Traum fällt die Logik in sich zusammen – ähnlich einem Marshall-Verstärker, der in die Luft geht.

    Die Alice Cooper Group mochte harte Arbeit. Wir schrieben ständig Songs, brachten Album nach Album auf den Markt und dachten uns Bühnenshows aus.

    Während einer Tournee gingen wir in eine Arena und verwandelten den nachmittäglichen Soundcheck in eine zweistündige Probe. Wir standen darauf, so verdammt gut zu sein, mochten es, das Publikum beim totalen Ausklinken zu beobachten. Fünf Musiker wurden zu einer Einheit zusammengeschweißt und waren so stark wie ein waschechter Hafenarbeiter.

    Michael Bruce bemerkte mal, dass die frühe Band wie meine eigene Band wirkte. Nett von ihm, das zu erwähnen, doch es ist wichtig, dass Sie uns als fünf Musiker betrachten. Der Mann, den man nun als Alice Cooper kennt, kann nur im Kontext des ersten und wichtigsten Konzepts gebührend wahrgenommen werden: als Mitglied einer Gruppe namens Alice Cooper. Er hat sich seinen heutigen Status als berühmter Solokünstler völlig verdient, doch auch wir als Band erreichten viel.

    Natürlich nannte man ihn nicht immer schon Alice. Als ich ihm damals in Phoenix begegnete, hieß er Vince, eine Kurzform des vollständigen Namens Vincent Damon Furnier. Während ich die Geschichte der Gruppe erzähle, werde ich ihn im ersten Drittel des Buches Vince nennen.

    Ja, er war Vince und ist es manchmal immer noch. Während eines Treffens, das kürzlich stattgefunden hat, nannte ich ihn automatisch bei seinem alten Namen. Er kam gerade mit vor Aufregung gerötetem Kopf von der Bühne und stank nach Schweiß. Doch innerhalb von nur wenigen Sekunden – nachdem man sich hingesetzt hatte – waren wir dann wieder die beiden jungen Kerle aus Arizona, die gemütlich in einem alten Ford Falcon hockten, eine Tüte Tacos in der Hand, und sich wünschten, endlich bei einer der unerreichbaren Frauen zu landen.

    Wenn ich ihn Vince nenne, denke ich an den Jungen, der an meinem Küchentisch saß oder nur mit einem um die Hüften geschlungenen Handtuch im Haus herumspazierte.

    Manchmal glich unser Leben dem Warnhinweis der Autoritäten: Wenn Teenager miteinander abhängen, können daraus schnell große Schwierigkeiten entstehen! Unsere Geschichte beginnt mit einer einfachen Tatsache: Vince und ich hingen oft zusammen ab – und dann geschah immer so Einiges …

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    „Wenn aus verrückten Menschen Massen von verrückten Menschen werden, sind wir berühmt."

    – Vince

    Vince’ Stuhl rutschte mit einem quietschenden Geräusch über den mit Farbe verdreckten Linoleum-Boden. Wir saßen im Kunstkurs, und überall schossen die Köpfe in die Höhe, ähnlich wie bei einer aufgeschreckten Antilopenherde. Lachen war strengstens untersagt, und so musste man es mit Mühe unterdrücken. Vince schaute hoch, um zu sehen, ob es Mrs. Sloan bemerkt hatte. Er blickte direkt in ihre funkelnden Augen, die ihn über die Lesebrille hinweg anstarrten, ihn regelrecht ins Visier nahmen und dabei signalisierten, dass sie hier das Kommando führte.

    Vince eilte der Ruf voraus, seinen Kopf durch Scherze und Witzeleien aus der Schlinge zu ziehen. Und nun wartete die Klasse gespannt. Mrs. Sloan war attraktiv und allgemein beliebt, doch auch für ihre unnachgiebige Haltung bekannt. Und nun wurde sie herausgefordert.

    Vince’ Augen vergrößerten sich bei der Imitation des Fernsehstars Barney Fife. Er hauchte ein stimmloses „Sorry". Im Moment ähnelte er einem Schauspieler im grellen Scheinwerferlicht, der sich mit Leichtigkeit in einen Inspektor Clouseau, Stan Laurel oder einen weiteren Charakter seines Repertoires aus gut einem Dutzend Darstellern verwandeln konnte. Aber er spielte den ängstlichen Gesetzeshüter, hob den Stuhl unmerklich an und rutschte über den Boden zu mir herüber. In einer entfernten Ecke des Raums hörten wir jemand losprusten. Es war Maurice Kluff, ein Junge, der ständig knallig orangefarbene Socken trug. Mrs. Sloan würgte ihn mit ihrem tödlichen Starren augenblicklich ab.

    Die Klasse beruhigte sich wieder. Vince und ich blätterten in einem schweren Schinken über moderne Kunst. Für uns war es eine Art Piratenschatz. Wir stießen auf ein Sigmund-Freud-Gemälde von Salvador Dalí, im surrealistischen Stil gehalten, lebhaft und anregend. Vince schaute zur nächsten Abbildung und deutete mit dem Finger auf jedes einzelne Wort des Titels: „Weiche Konstruktion mit gekochten Bohnen – Vorahnung des Bürgerkriegs. Er lachte und murmelte: „Gekochte Bohnen?

    Ich legte den Kopf auf die Faust und studierte das Werk aus der Nähe. Vince machte es mir nach, womit wir ideale Modelle für die Skulptur „Der Denker" abgegeben hätten.

    Bevor ich zu einer großartigen Schlussfolgerung gelangte, nickte Vince mit dem Kopf. Er ähnelte einem der Wackel-Dackel, die unvermeidlich auf der hinteren Ablage eines Chevy standen.

    „Geschickt", sagte er.

    „Wirklich geschickt", ergänzte ich seine Einsicht.

    Auf der nächsten Seite zeigte ein weiteres anregendes Dalí-Gemälde eine grotesk verformte Struktur, die wie ein zusammengeworfener Haufen Körperteile anmutete. Auf ihr ruhte ein abgrundtief hässlicher Kopf. Doch sofort entdeckte Vince die Figur von Freud. Sie glich dem des vorigen Gemäldes, war nur kleiner. Der winzige Freud wirkte im Kontext der ausgearbeiteten Vision Dalís noch beeindruckender.

    Was geschah in dem Moment der Entdeckung? Ich möchte behaupten, wir wussten, dass etwas Großes stattgefunden hatte. Etwas hatte sich verändert.

    Ich wurde im Herbst 1961 in die Cortez High eingeschult. Die gerade erst eröffnete Schule lag am nördlichen Rand von Phoenix und besaß noch keine Klimaanlage. Jedes Klassenzimmer glich einem Hochofen. Die Schulregeln waren noch nicht festgeschrieben, woraufhin die Kids die ganze Zeit die Grenzen austesteten und sie zu überschreiten versuchten.

    Ich trat dem Leichtathletik-Team bei. Coach Emmett Smith bemerkte sofort mein Talent für den Langlauf. Glorreiche Zeiten. Schnell fand ich heraus, dass Geländerennen genauso beliebt waren wie die Wettkämpfe auf der Aschenbahn, bei denen wir uns abrackerten. Zuschauer? Nein, während des Trainings schaute niemand zu – mal abgesehen vom Hausmeister und seinem Hund.

    Im Team begegnete ich einem meiner zukünftigen Musikerkollegen. John Speer hatte lockiges dunkles Haar, einen großen und breiten Brustkorb und den Körperbau eines Bullen. Ihn zeichnete ein Gespür für Humor aus, obwohl dieser von dunklen Wolken des Pessimismus getrübt wurde. Zwischen uns entwickelte sich eine kollegiale Rivalität.

    Nicht jeder auf der Cortez kam so gut über die Runden wie die Jungs unseres Teams. Oftmals regelten die Schüler ihre Differenzen mit den Fäusten nach dem Unterricht. Jeder, der sich einen Ruf erkämpfen wollte, wenn auch einen fragwürdigen, musste sich regelmäßig auf dem Schulparkplatz beweisen.

    Der schlimmste Unruhestifter der Schule war ein stämmiger, Hulk-ähnlicher Typ namens Ruben. Er hatte drei ältere Brüder, die ihn nach dem Unterricht abholten. Wenn die sich in den weißen Corvair drängten, hing die Karosserie fast auf dem Boden. Die Brüder warfen stechende boshafte Blicke aus dem Wagen, der einem Nest voller Klapperschlangen glich.

    Rubens Lieblingsschikane lief folgendermaßen ab: Er kam mit ausgestreckter, nicht abzuschlagender Pranke auf dich zu, quetschte dann deine Hand, bis du voller Qualen auf die Knie gingst, zog dich zum Mülleimer und stopfte dich da rein. Deine Schmerzen bereiteten ihm Freude.

    Dann aber tauchte ein spindeldürrer Neuling namens Vince Furnier auf. Er war mit Sicherheit der ungefährlichste Mensch auf dem ganzen Planeten. Ruben fand das lustig. So rekrutierte er Vince als „Zwangs-Freiwilligen" seines Terrorregimes des brutalen Händedrucks. Wenn die beiden Seite an Seite standen, ähnelten sie den Comic-Figuren Tweety Bird und Spike. Ruben versuchte sich hinter Vince zu verbergen, seiner knochigen Gestalt, die die unschuldige Beute anlockte.

    Vince stellte den vorbeigehenden Kindern Ruben vor, der mit erhobener Hand grinsend aus seinem Versteck kam. So lange Ruben genügend Unterhaltung hatte, war sein Knecht vor dem „Handschlag aus der Hölle" sicher. Er schien Spaß an der Rolle als Lockvogel für nichtsahnende Kinder zu haben. Es war ja nicht seine Schuld, denn letztendlich wurde er von Ruben gezwungen.

    Auf der Schule betrachtete man den Journalismus-Kurs als „Mädchen-Ding". Natürlich meldete ich mich dazu an, was zugleich das Verfassen von Beiträgen für die Studentenzeitung Tip Sheet bedeutete. Die Mädchen sahen mich als merkwürdigen „Abweichler" und ließen mir die spezielle Behandlung zukommen, die da überschwängliche Fürsorge lautete. Oh ja, ich war ein böser Junge. Sie wollten nicht, dass ich mich angesichts des bevorstehenden Redaktionsschlusses stresste, und schrieben demzufolge die Storys für mich. Für einen Text gewann ich sogar einen Preis.

    Auch die Jungs auf dem Campus verordneten mir eine Sonderbehandlung: Sie schimpften mich einen Homo. John Speer nahm mich besonders aufs Korn. Doch nach einiger Zeit, in der ihnen klarwurde, was für ein kuschliges Leben in einer Klasse voller süßer Mädels ich führte, realisierten Speer und die anderen Gammler mein Genie. Vince meldete sich natürlich so schnell wie möglich für den Kurs an und leitete das Sport-Ressort des Tip Sheet.

    Obwohl ein Jahr jünger, war Vince ein ausgeprägter Charakter, zu dem ich mich augenblicklich hingezogen fühlte. Freunde zu gewinnen, schien für ihn mühelos zu sein. Er begab sich nicht auf die Suche, musste nicht mal einen Raum durchqueren. Er zog die Menschen mit seinem Magnetismus förmlich an.

    Als wir uns begegneten, war seine Familie gerade aus Detroit nach Phoenix gezogen, was nur den letzten Umzug in einer ganzen Reihe von Wohnortwechseln bedeutete. Ein Junge, dessen Familie ständig umzieht, auf permanenter Durchreise ist, der lernt, wie man alte Freunde schnell vergisst und neue gewinnt. Doch manchmal ist die Anpassung auch überaus schwierig: Vince’ ältere Schwester Nickie etwa verarbeitete die Umzüge durch das Vermeiden jeglicher Form von Freundschaft. Damit verringerten sich die traurigen Abschiede, die sie ertragen musste.

    Vince hingegen verhielt sich konträr zu seiner Schwester. Egal, wo auch immer er sich befand, behandelte er alle wie Freunde. Er unterhielt sich mit jedem über jedes beliebige Thema. Blitzschnell erkannte er, was sein Gegenüber hören wollte, und plauderte es aus, auch wenn er die Wahrheit ein wenig strapazierte. Man könnte sogar behaupten, dass ihm Übertreibungen zusagten. In seiner Welt war die gute alte Wahrheit viel zu langweilig, und so kleidete er sie in ein schilderndes Kostüm. Jedoch wusste er genau, wie weit er mit den Ausschmückungen gehen konnte.

    Man muss bedenken, dass sich sein Vater, ein Luftfahrtingenieur, auch als Pfarrer engagierte. (Er war aber trotzdem ein cooler Typ, mit einer höchst interessanten Frisur und einem bleistiftdünnen Oberlippenbart, der ihn wie einen Spieler auf einem Schaufelraddampfer erscheinen ließ. Witzig: Auf vielen von Vince gezeichneten Skizzen trugen die dargestellten Personen Oberlippenbärte!) Von Haus aus mit einer gehörigen Portion Religion konfrontiert, glaubte Vince an ehrliches Verhalten und hätte demzufolge niemals gelogen. Das war jedoch nicht nur Folge des Respekts vor seinem Vater, auch Vince teilte denselben Glauben. Dennoch – ich habe schon darauf hingewiesen – hatte Vince ein ständiges Bedürfnis nach Übertreibung, was er als einfachen Weg empfand, um die Wahrheit ein wenig interessanter zu gestalten. Da ist nun mal nichts Verwerfliches dran!

    Um seine Überzeichnungen glaubhaft wirken zu lassen, sprach er mit lässigem Selbstvertrauen und lachte oft dabei. Man gewann dabei den Eindruck, dass er ausdrücken wollte: „Wow, das kann ich selbst kaum glauben." Sein Lachen signalisierte allen – und möglicherweise auch ihm selbst –, dass es sich hier um schelmisches Gelaber handelte, nicht um ein ernsthaftes Gespräch. Und es gab noch einen Grund, warum man Gespräche mit Vince bis zum Ende genoss: Er stellte sich niemals über andere, wollte sich nie als einen besseren Menschen herausputzen.

    Wir reden hier über den Teenager namens Vince und nicht über die bedrohliche Bühnenrolle namens Alice, also über den spindeldürren Jungen und sein entspanntes, aber trotzdem energisches Gebaren, den witzigen Typen mit einem unbeschränkten Repertoire an Storys.

    In dem unaufhörlichen Schwall wundervoll übertriebener Geschichten wurzelt ein Teil meiner großen Sympathie für ihn. In dieser Fähigkeit liegt der Grund, warum er die Welt mit seinem Charme verzauberte.

    Vince’ offenes Wesen und seine allgemeine Zugänglichkeit verstärkten unser enges Verhältnis. Wir waren beste Freunde. Uns verband das gemeinsame Interesse am Surrealismus und der Pop Art. Dadurch wirkten Vince und ich sogar so untrennbar, dass die Leute kaum über uns als Individuen sprachen, sondern uns als Gemeinschaft anerkannten.

    Auch die Mädchen mochten uns, obwohl Vince und ich hinsichtlich des weiblichen Geschlechts verdammt schüchtern waren. Meine Wenigkeit verhielt sich damals mitleidserregend verklemmt. Als introvertierter Mensch schloss ich Freundschaften über andere. Dennoch wurde ich in die Kategorie „Netteste Persönlichkeit" gewählt und stehe seitdem im Cortez-Highschool-Jahrbuch 1965. Allerdings fiel es mir schwer, das nachzuvollziehen, denn ich fühlte mich nie so beliebt. Ich bin mir sicher, dass der Football-Quarterback sich seitdem vor Verwunderung immer noch am Helm kratzt.

    Im Kunstkurs schmiedeten Vince und ich Pläne für die Revolution. Wir saßen weit hinten und redeten leise über Künstler und Kunststile. Eines Tages zeigte mir Vince das berühmte Magritte-Gemälde von dem Geschäftsmann, dessen Gesicht von einem Apfel verdeckt wird. Jetzt ist mir klar, wie sehr das Werk Vince’ Stil der Darstellung schräger Charakter-Porträts beeinflusste. Doch es war auch gut möglich, dass wir uns in der nächsten Sekunde über den neusten Hit unterhielten, wie zum Beispiel „Surfin’ Safari".

    Ich stand auf Hot Rods, während Vince sportliche Autos favorisierte wie Volkswagens Karmannn Ghia. Egal, welches Traumauto man fahren würde, wir stimmten in einem Punkt überein: Auf dem Beifahrersitz musste Brigitte Bardot sitzen und diese spitz zulaufende Harlekin-Sonnenbrille sowie ein mit Punkten getupftes Kleid tragen, wobei ihre blonden Haare in der lauen Brise wehten.

    Vince’ Redeschwall war von Fernsehreferenzen durchzogen. Er schaute alles: The Steve Allen Show, Twilight Zone – Unwahrscheinliche Geschichten, The Ernie Kovacs Show, Peter Gunn, die Serie Die Unbestechlichen, Ozzie and Harriet, The Andy Griffith Show, Meine drei Söhne und die Dick Van Dyke Show. Wenn das Programm um 22 Uhr endete, kam zuerst das Testbild eines Indianerhäuptlings, wonach man auf den verschneiten Bildschirm starrte. Vince behauptete, er sehe sich sogar das Testbild an.

    An besagtem Tag im Kunstkurs wurden wir jäh in die Realität zurückbefördert, da wir die hinter uns lauernde Mrs. Sloan bemerkten.

    „Ich hoffe, ich störe euch beide nicht, grinste sie und stöpselte dabei einen tragbaren Plattenspieler ein. „Ihr beide denkt, ihr seid so hip. Ich möchte, dass ihr ruhig sitzt – falls das möglich ist – und euch das hier anhört.

    Sie reichte Vince ein Cover, auf dem ein Bohème-Pärchen mitten über die Straße einer verschneiten Stadt schlenderte. Der Typ schien gerade eine Runde „Taschen-Billard" zu spielen, während sich das Mädchen bei ihm untergehakt hatte. Der Titel des Albums lautete The Freewheelin’ Bob Dylan.

    Mrs. Sloan setzte die Nadel auf die Platte auf, und wir hörten eine angeschlagene Akustik-Gitarre und eine froschähnliche Stimme, die sozial bedeutende Fragen ansprach.

    Wir hatten niemals zuvor so eine Ernsthaftigkeit in einem Song wahrgenommen. Vince lachte über die Stimme des Sängers, gab jedoch zu, dass es sich anscheinend um etwas Wichtiges handle.

    Außerdem mussten wir uns geschlagen geben, denn unsere Kunstlehrerin hatte uns in puncto Coolness übertrumpft.

    Nach all den Jahren trifft mich die Erkenntnis wie ein Blitz, dass diese Frau uns aus der Balance warf und auf einen recht eigentümlichen und wirren Pfad lenkte.

    Mrs. Sloan war unbarmherzig und direkt. So eine Frau gab ihren Schülern keinen wohlwollenden und aufmunternden Klaps auf den Hinterkopf. Sie zeigte uns in aller Deutlichkeit, dass wir nicht unser volles Potenzial ausschöpften. Möglicherweise ließ sie sich gar nicht von unseren Stunts beeindrucken. Einmal kehrte Vince von der Toilette zurück, hatte sich von Kopf bis Fuß in Toilettenpapier eingewickelt und wankte wie eine unheimliche Mumie in die Klasse, die in schallendes Gelächter ausbrach. Mrs. Sloan nahm sich in aller Seelenruhe eine auf dem Tisch stehende Karaffe mit Eiswasser, schüttete sie ihm über den Kopf und meinte lapidar: „Touché!"

    Den Rest des Tages fielen Streifen nassen Toilettenpapiers von Vince ab, der damit seinen Ruf als schick gekleideter Junge eingebüßt hatte. Aber auch Mrs. Sloan brachte einige Stunts. Eines Tages präsentierte sie der Klasse eine schwarze Tasche. „Stellt euch vor, ihr seid stockblind", sagte sie und erklärte uns, wir sollten in die Tasche fassen, den Inhalt ertasten und dann unsere Empfindungen in einer Zeichnung ausdrücken.

    Vince tastete sich behutsam vor und riss die Hand blitzschnell zurück: „Wow, was ist das?", fragte er angeekelt. Er streckte die Hand von sich ab, als sei sie kontaminiert.

    Ich starrte dann auf meine Hand, die in der Tasche verschwand. Booaah! Was sich auch immer darin befand, war verdammt eklig. Es fühlte sich wie getrocknetes Leder an, hatte ein verdrehtes Rückgrat, einen Schwanz und einen Kopf mit messerscharfen Zähnen.

    Die Schüler ließen einer nach dem anderen das fiese Ritual über sich ergehen, während Mrs. Sloan wie die sprichwörtliche Cheshire-Katze grinsend auf dem Stuhl thronte.

    Erst am nächsten Tag – wir hatte alle unsere Interpretationen auf Papier festgehalten – zog sie das Objekt unseres Horrors hervor.

    „Es ist ein getrockneter Teufelsfisch aus dem Golf von Mexiko", erklärte sie mit einem strahlenden Gesichtsausdruck und konfrontierte uns mit dem labberigen Ding.

    Diane Holloways Arm schoss in die Höhe: „Darf ich mir die Hände waschen?", bettelte sie. Von einer Sekunde auf die andere standen alle Mädchen am Handwaschbecken. Glauben Sie, dass dieses Experiment spurlos an Vince und mir vorüberging? Glauben Sie

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