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Stille Straße: Roman
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eBook294 Seiten4 Stunden

Stille Straße: Roman

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Über dieses E-Book

In der Stillen Straße kennt jeder jeden. Und jeder beobachtet jeden. Da wären der verkappte Nazi Riegler und der ehemalige Polizist Friedmann, die beide Augen auf die alkoholkranke Mittvierzigerin Margarita geworfen haben. Trennungen und Trauerfälle rütteln die Menschen schmerzhaft aus ihrem eingefahrenen Alltagstrott und zwingen sie, einander und sich selbst in neuem Licht zu betrachten.

Rudolf Nährig erzählt einfühlsam von den Schicksalen seines vielfältigen Figuren-Ensembles, das sich aus den verschiedensten, in der fiktiven Stillen Straße aufeinanderprallenden Milieus zusammensetzt.
SpracheDeutsch
HerausgeberEuphelia Verlag
Erscheinungsdatum13. März 2021
ISBN9783947123032
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    Buchvorschau

    Stille Straße - Rudolf Nährig

    41

    Kapitel 1

    »Wo sind Sie am liebsten?«, fragte ich kürzlich einen vielreisenden Freund. Der antwortete mit überzeugter, sicherer Stimme: »Zu Hause.«

    Wenn ich an Spätsommernachmittagen auf meinem kleinen Balkon in der dritten Etage des Zwölffamilienhauses sitze und die milden, vergoldeten Sonnenstrahlen beobachte, wie sie durch das leichte Zittern der Lindenblätter die schönste Klimt-Tapete an die Mauer zaubern, empfinde ich das Gleiche. Der schönste Platz ist zu Hause.

    Zu Hause in der kleinen, engen Stillen Straße in Hamburg-Barmbek. Wenn mich auch die Lindenbäume während der Blütezeit mit ihrem steten Tropfen von klebrigem Honigtau ärgern, der sich als eine Art Lacküberzug auf Pflastersteine und Autos legt, so entschädigen und beglücken sie mich doch auch mit ihrem satten, schattenspendenden Grün. Die Grüntöne wechseln, je nach Tageszeit und Wetterverhältnissen. Die erste Farbe am frühen Morgen ist frisches, golddurchwirktes Acidgrün. Gegen Mittag mischen sich hellgrüne bis dunkelgrüne Töne in den verschiedensten Abstufungen. Der Abend macht Olivenbäume. Im Herbst bieten uns die Linden mit den schönsten Braun-, Gelb- und Rottönen die prachtvollsten Gemälde. Von der Last müde geworden, lassen sie ihren Schmuck schließlich zu Boden fallen. Die Stille Straße ist dann bedeckt mit einem wunderschönen, in herrlichsten Brauntönen gewebten Blätterteppich von Sienarot, Ocker, dunklen und hellen Umbratönen. Wehmut klopft an mein Herz, wenn die Stadtreinigung mit lautem Getöse das Laubgebläse einsetzt und damit das Ende des Herbstes einläutet.

    Barmbek ist ein ehemaliger Hamburger Arbeiterbezirk, der im frühen 20. Jahrhundert durch Julius Adolf Petersen, alias »Lord von Barmbeck«, den Kopf einer Verbrecherbande, eine zweifelhafte Berühmtheit erlangte. In den Kriegsjahren wurde Barmbek, wie ganz Hamburg, stark zerstört. Auch das Haus, in dem ich wohne, Stille Straße Nr. 8, wurde bis auf die Grundmauer zerbombt. Der Keller war als Luftschutzbunker genutzt worden, doch als die Bomben kamen, stellte sich heraus, dass die Mauern nicht dick genug waren und daher nur bedingt Schutz bieten konnten. Die zitternd und betend im Keller kauernden Bewohner des Hauses wurden verschüttet und konnten nur dank der starken Verbundenheit der Nachbarn untereinander gerettet werden: Die verschont gebliebenen Bewohner der Stillen Straße scheuten keine Mühe und Anstrengung, um die Verschütteten aus ihrem Gefängnis zu befreien. Diese Verbundenheit hat sich bis heute erhalten und die Neuzugänge fügten sich stets gerne und gut in die Gesellschaft der Straße ein. In den beginnenden fünfziger Jahren wurden die zerbombten Häuser mit einfachsten Mitteln wieder aufgebaut. Der Bretterboden aus dem weichen, damals billigen Kiefernholz ist in meiner und einigen anderen Wohnungen erhalten geblieben. Er knarzt, wenn man darüber hinweggeht, an verschiedenen Stellen. Diese Quietschtöne erinnern mich immer an die kargen, aber oftmals glücklichen Weihnachtsabende meiner Kindheit. Besonders dann, wenn die Straße mit stillem Weiß bedeckt ist.

    Alles ist vertraut. Die kleinen Geschäfte ringsum vermitteln ein Gefühl von Zuhause und Heimat. Umso trauriger ist es, wenn sie, still und leise, eines nach dem anderen verschwinden. Das vollgerammelte Kurzwarengeschäft etwa hat Frau Breiser über vierzig Jahre lang geführt, seit einigen Monaten ist es geschlossen. Die seelengute Frau hat sich hinterm Ladentisch ihr silbernes Haar mit einem Kamm hochgesteckt, die Arme sanken nach unten, sie fiel vom Hocker und war auf der Stelle tot. Die nächste Kundin hat sie gefunden, den Kamm in der verkrampften Hand. Danach war für kurze Zeit ein Blumenladen in den Räumlichkeiten. Die Floristin war spindeldürr, aber ihre Sträuße dick aufgebläht. Jetzt verkauft dort jemand geschmacklose Geschenkartikel.

    Der Fleischerladen an der Ecke hat aus Mangel an Kundschaft geschlossen. Er fehlt mir sehr. Die Verkäuferin hat mir zu jedem Stück Fleisch oder Wurst gleich ein Rezept von ihrer Mutter oder Großmutter mitgegeben. Sie und ihr Mann sind beide stark übergewichtig; ein weiterer Grund, warum sie das schöne Geschäft aufgeben mussten. Nun hat der Türke Göckan dort seinen Imbiss eröffnet. Die Döner schmecken wunderbar und die Brathühnchen sind saftig. Er spricht nicht gut Deutsch, doch lächelt er bei jedem Wort, wenn er seine vertrackt zerstückelten Sätze zusammensucht. Nach jedem zweiten, dritten Handgriff schaut er kurz in den Spiegel und zwirbelt mit fetten Fingern den ebenfalls fetten, aber gepflegten Schnauzbart nach oben.

    Am meisten jedoch vermisse ich den kleinen Delikatessenladen von Frau Redörsch. Sie hatte einen herben Charme, aber das Herz auf dem rechten Fleck. Wenn sie über ein Produkt »Gute Werbung« sagte, wusste man, es taugt nichts. Sie redete nicht um den heißen Brei herum. Auch bei ihr waren die Kunden mit der Zeit immer spärlicher geworden und Frau Redörsch klagte: »Bei uns kaufen sie nur, was sie im Supermarkt vergessen haben.« Als sie zuletzt auch noch zunehmend fußleidend wurde und kaum mehr gehen konnte, war die Schließung unumgänglich.

    Wenn ich auf die Straße hinabblicke oder ihre Gehwege entlangflaniere, erzählt mir die Straße ihre Geschichten. Die Straße und ihre Menschen, auch wenn sich unsere Kontakte manchmal nur auf einen kurzen Gruß beschränken. Alles ist voller Aussage, aufgeladen mit Bedeutung. Man muss nur aufmerksam sein und zuhören. Weitere Geschichten kommen hinzu, wenn sich anlässlich meiner Jours fixes, die im Sommer jeweils am ersten Sonntag des Monats vormittags um elf auf meinem Balkon stattfinden, die Bewohner der Stillen Straße bei mir versammeln, plaudern, lachen, auch mal ihr Herz ausschütten. Und immer länger und verflochtener werden diese Geschichten, so dass ich irgendwann begonnen habe, sie aufzuschreiben, um nichts zu vergessen von alldem, was mir die Straße und ihre Bewohner erzählen. Selbst bin ich in den Geschichten der Stillen Straße meist nicht mehr als ein aufmerksamer Zuhörer und stiller Beobachter am Rande, und so will ich auch auf diesen Seiten für die meiste Zeit in den Hintergrund treten, auf der Bildfläche Platz machen, um die Geschichten für sich selbst sprechen zu lassen.

    Da ist etwa der Afghane Amir, im Haus neben dem nun stumm und leerstehenden Laden von Frau Redörsch. Amir hat eine kleine Wäscherei. Es ist noch nicht lange her, da sind seine beiden Kinder immer im Laden herumgelaufen, um sich mit Tollereien den Tag zu vertreiben. Sie sprangen in die großen Wäschewagen, zogen sich die Wäschestücke über den Kopf, um auszusehen wie der kleine gutmütige Geist Casper aus dem Film. Kürzlich werkelten die Eltern im Keller und bestückten eine große Waschmaschine. Eine zweite Maschine wusch bereits und ihre Trommel drehte sich mit lautem Geräusch. Oben, im Laden, spielten die beiden drei- und fünfjährigen Kinder im Wäschewagen. Während das Mädchen aus dem Wagen krabbelte, schlang sich um ihren Hals ein langes Leinentuch. Die Kleine rutschte ab und die Schlinge zog sich um ihren Hals und erwürgte sie. Die Stille Straße hatte Trauer angelegt. Die Kinder zogen weiße Kleider an, setzten sich Kränze aus Myrte und Rosen auf den Kopf. Jedes, ob Bub oder Mädchen, hatte eine weiße Kerze in der Hand, so stellten sie sich vor den Wäschereiladen des Afghanen Amir und sangen und beteten abwechselnd Ave Maria …

    Die Stille Straße ist eine kurze, schmale Einbahnstraße, eingeklemmt zwischen zwei Hauptstraßen. Die kleinen Vorgärten der Häuser geben der Straße einen zwar beengten, aber doch fast schon ländlichen Siedlungscharakter. Der soziale Status der Bewohner lässt sich an ihren Autos ablesen. Von Kleinwagen bis Mittelklasse ist alles vorhanden, darüber hinaus Fehlanzeige. Ab und zu allerdings kommt eine grell lackierte Luxuskarosse, die von einem Fahrer mit russischem Akzent gesteuert wird. Doch diese protzigen Nobelschlitten sind Fremdkörper in der Stillen Straße. Wenn sie ankommen, hupen sie zwei-, dreimal; das Gleiche wieder beim Verlassen der Straße. Sie kennen die Spielregeln nicht.

    In den letzten zwanzig Jahren hat es einen verstärkten Zuwachs von Jungfamilien gegeben. Einst war Barmbek ein typisches Arbeiterviertel und beherbergte Handwerker aller Berufsgruppen, doch inzwischen sind die Stille Straße und ihre Umgebung wegen der vergleichsweise günstigen Mieten und einer guten Anbindung an den öffentlichen Verkehr bei einkommensschwachen und mittelverdienenden Wohnungssuchenden immer beliebter geworden, insbesondere bei Familien mit Kindern. Was mit ein Grund dafür ist, dass die bisher niedrigen Mieten nun zunehmend steigen. Das wirtschaftliche Rad dreht sich und die Profite schrauben sich immer weiter in die Höhe. Der allbekannte Gierteufel der Vermieter hat sich auch hier längst festgebissen.

    Heute beherbergt die Stille Straße alle möglichen Menschen – Angestellte, Handwerker, Geschäftsleute, Beamte, Rentner, Alteingesessene und Zugezogene aus vielen Ecken der Welt, »einfache« und »bessere« Leute, Spießer und Künstlernaturen, graue Mäuse und Ausgeflippte. Und irgendwie gehören alle letztlich zusammen, bilden ein Ganzes.

    Der schwarzgelockte junge Volksschullehrer im Haus gegenüber, ein Freizeithipster, putzt täglich zwischen halb acht und acht seine Wohnung. Er wird in der Stillen Straße Saubermann genannt. Er ist einer der wenigen mit Hochschulabschluss in der Straße. Seine damalige Verlobte, inzwischen ist sie seine Frau, hat vor sieben Monaten einen Jungen geboren. Justin-Brad. Selbst Lehrer entkommen dem Zeitgeist nicht. Justin-Brad rangiert in der Beliebtheitsskala der derzeit verwendeten Jungennamen weit oben. Die 1962 geborene Blondine im Nebenhaus heißt Marilyn. Die Monroe ist seit dem gleichen Jahr tot und die Arme heißt noch immer Marilyn. Der Name zeugt für das ungefähre Geburtsjahr, das Alter seines Trägers ist für jedermann meist sofort feststellbar.

    Seit der Geburt des Sohnes ist die damalige Verlobte und jetzige Frau des Volksschullehrers dicker geworden. Die Brüste größer und das Becken ausladend. Das Kind hat die gelernte Einzelhandelskauffrau aus dem Beruf gerissen und sie mit einem Fehlende-Beschäftigung-Syndrom infiziert. Regelmäßigen Kontakt pflegt sie allein mit ihrer Nachbarin Zoe, einer jungen Filipina mit einem unehelichen Kind. Der Vater des Kindes, ein Maurerpolier, hatte seiner Partnerin bei der Geburt beistehen wollen. Er wollte mit dabei sein und sehen, wie der kleine Sohn durch den Muttermund das Licht der Welt erblickt. Die Schmerzensschreie der vor Schweiß klebrigen Mutter, das blutverschmierte Kind und die weit geöffnete Vagina haben ihm jede Lust am weiteren Beischlaf mit der Kindesmutter genommen. Auch nur der leiseste Gedanke an Geschlechtsverkehr schnürt ihm die Kehle zu und die Vorstellung ekelt ihn bis zum Erbrechen. Er hat sie kurz nach der Geburt verlassen.

    Der Saubermann, der vor seiner Lehrerausbildung einige Semester Jura studiert, das Studium dann aber abgebrochen hat, unterstützt nun die Filipina bei den rechtlichen Forderungen, die sie an den flüchtigen Kindesvater stellt. »Das ist eine sehr nette, aber arme und bemitleidenswerte Frau«, hat er die Hausbewohner wissen lassen, »da muss man fünfe gerade sein lassen und helfen.« Er hat die Filipina angesehen, seinen Blick von ihrem dichten blauschwarzen Pony über ihren hellbraunen Teint und hin zu ihren schwarzen Augen gleiten lassen und zu ihr gesagt: »Für meine bescheidene Hilfe möchte ich von Ihnen keine Bezahlung, jedenfalls nicht in pekuniärer Form, das sollen Sie wissen.« Dabei zwinkerte er sie an und sie lächelte, war froh über seine Hilfe und über seine Freundlichkeit. Insgeheim dachte sie: Der ist wirklich nett und charmant und gut aussehen tut er auch noch. Warum war der Vater meines Kindes auch nicht annähernd so gestrickt? Derartige Gedanken hegt sie nicht nur, wenn der Volksschullehrer gerade mit ihr spricht, sondern auch dann, wenn er nicht da ist. Besonders nachts im Bett, vorm Einschlafen. Sie sehnt sich nach einem Vater für ihr Kind. Der Erzeuger, wie sie immer sagt, ist nicht mehr aufzufinden. Sie will ihn auch nicht mehr. Irgendwie ist sie froh, dass er weg ist. Mit dem Kind komme ich schon durch, sagt sie sich mit fester Überzeugung. Umso mehr genießt sie die Besuche des Volksschullehrers; mehr sogar noch als die seiner Frau.

    Kapitel 2

    Margarita Diggmann, in Haus Nr. 11 oben in der Mansarde wohnend, macht jeden Samstagabend Party. Remmidemmi. Sie spielt bei offenem Fenster und offener Balkontür wilde Rockmusik, deren Lautstärke sich in der Stillen Straße über mehrere Häuser und weiter ausbreitet. Sie hat einen genauen Zeitplan. Beginn ist etwa um fünf Uhr nachmittags und das Ganze endet spätnachts gegen zwei. Das Ende variiert je nach Menge des von ihr konsumierten Alkohols. Ab etwa elf Uhr abends beginnt sie in ihrer Wohnung im Rhythmus der hämmernden Bässe zu tanzen, indem sie sich der Alltagskleider entledigt, eine durchsichtige Seidengardine aus dem Schlafzimmer holt, sich diese um den Körper wickelt und in leicht schwankenden rhythmischen Schritten barfüßig auf den Boden stampft. Zwischendurch geht sie auf den Balkon, um mit gierigen Zügen eine Zigarette zu rauchen. Ich kann das langanhaltende Aufglühen ihrer Glimmstängels von der anderen Straßenseite aus sehen. Verschiedene Bewohner aus der Nachbarschaft haben sich schon bei ihr beschwert. Der pensionierte Polizist Friedmann etwa, der zwei Häuser weiter wohnt. Selbst dem Volksschullehrer, eigentlich ein ruhiger und sanftmütiger Mann, ein »stilles Wasser«, wie man so sagt, ist kürzlich einmal der Kragen geplatzt, so dass er sie zornig zurechtgewiesen hat, nachdem der kleine Justin-Brad wieder einmal mitten in der Nacht durch ihr Lärmen aus dem Schlaf gerissen worden war. Die kleine Familie hat ihre Wohnung direkt neben Frau Diggmann und ist ihrer Geräuschkulisse am stärksten ausgesetzt.

    Der Bewohner der Dachwohnung gegenüber, Riegler, ein schon auf die achtzig zugehender verkappter Nazi, hat bei ihrer letzten Eskapade die Polizei gerufen. Diese konnte aber nichts unternehmen, weil die »Verrückte«, so wird sie in der Stillen Straße genannt, just in dem Moment, da der Streifenwagen eintraf, in den gegenüberliegenden Fensterscheiben ein Stück weiter am Ende der Straße den Schein des flackernden Blaulichts entdeckt und die vibrierenden Lautsprecher daraufhin sofort auf gedämpfte Zimmerlautstärke gestellt hatte. Unverrichteter Dinge mussten die Uniformierten wieder abziehen. »Beim nächsten Mal krieg ich Sie«, hatte Riegler mit geballter Faust und drohenden Gebärden über die Straße geschrien.

    Rücksichtslose Menschen oder auch nur auffälliges Verhalten duldet er nicht. Er hasst auch alle Ausländer, egal woher sie kommen und wie lange sie schon in Deutschland leben. »Wenn ich die Afghanin von Nr. 13 sehe, in voller Montur, ganz in Schwarz mit dem eingewickeltem Kopf und bodenlang von oben bis unten vermummt, muss ich wegschauen«, sagte er einmal zu mir und schüttelte dabei heftig den Kopf. Sie – nicht zu verwechseln mit der ebenfalls afghanischen Frau des Wäschereibesitzers Amir, deren kleine Tochter sich so qualvoll erwürgt hat – wohnt gegenüber im Parterre, wo sie ab vier Uhr nachmittags am Fenster steht und auf ihren deutschen Mann wartet, der gegen sechs von seinem Bürojob nach Hause kommt. Alles macht sie für ihn, nur auf die Burka, auf die kann sie nicht verzichten. Sie spürt den Hass dieses eingefleischten Deutschen von gegenüber, Riegler, und versteckt sich hinter den Stores. Alles muss für Riegler sauber, »korrekt« und wie gewohnt sein. Es muss so sein wie vor fünfzig Jahren, als die Welt für ihn noch in Ordnung war. Keine Veränderungen. Oft habe ich versucht ihm zu erklären, dass wir die Zeit nicht anhalten können, es nützt nichts. Das Bild seiner Straße muss die gleiche Farbe wie schon immer haben. Ein dunkler afghanischer Fleck ist ein Störfaktor. Der Blick aus dem Fenster wird ihm zur Augenqual, sobald irgendein nicht europäisch aussehender Mensch, den er nur Kreatur nennt, sichtbar wird. Die Verrückte hasst er auch, aber nicht im gleichen Maße. Sie ist eine Deutsche. Das gibt Schuldminderung. Und eine Augenqual ist sie für ihn nun gerade nicht, weshalb er auch, fast wie aus Zwang, unablässig zu ihrer Mansarde hinüberschielt. Die kleine Eigentumswohnung, die er nebenan quasi als Altersversorgung gekauft hat, vermietet er nur an Deutsche mit arischem Stammbaum. Bei der Schlüsselübergabe, die er immer selbst vornimmt, müssen sie versprechen, dass sie keine Kinder und keine Haustiere in der Wohnung halten. Vor allem keine Asylanten oder »ähnliches Gesocks« aufnehmen. Das Gesetz ist schuld, flucht er, dass das Land so verkommt. Wenn ihm ein Ausländer oder auch nur irgendwie nach fremdländischer Herkunft Aussehender begegnet und sich erlaubt, um eine Auskunft zu fragen, dreht er sich schweigend um und geht seines Weges. »Ich muss mich jedes Mal zusammenreißen«, hat er unlängst zu mir gesagt, »damit ich nicht gewalttätig werde gegen dieses Gesindel.«

    Seine Frau pflegt mehrmals pro Woche mit der ausrangierten Kindersportkarre ihres Enkels, die sie als Gehhilfe für sich und als Ablage für ihre schweren Einkaufstaschen benützt, im Discounter einkaufen zu gehen. Radfahren kann sie nicht. Schon in der Jugend konnte sie nicht die Balance halten. Die Gleichgewichtsprobleme machen ihr mit den Jahren mehr und mehr zu schaffen. Man munkelt, sie sei nicht ganz gesund und leide an Herzproblemen und Zahnschmerzen. Die Räder der Kinderkarre eiern und sind fast platt. Aufgrund der Schwergängigkeit der Räder braucht sie mehr Zeit, bis sie wieder zu Hause ist. Das schien ihr lange nichts auszumachen, doch inzwischen schleppt sie sich zunehmend kraftlos und schneckenhaft dahin und es sind sichtlich nicht nur die platten Räder, die sie bremsen. Trotzdem ist sie froh, wenn sie lange wegbleibt und ihren Mann nicht sehen muss. Was im Übrigen auf Gegenseitigkeit beruht. Ihre blond gefärbten Haare sind ihm ein Dorn im Auge. Auch das sind Qualen für seine Augen. Mit zwanzig ist sie ein wunderschönes Mädchen gewesen. Schlank, beinahe grazil. Sie hat Riegler nur genommen, weil er einen gut bezahlten Job in einer Bank hatte und weil er außerdem, so hatte sie gehört, ein guter Liebhaber sei. Damals waren die blonden Haare echt. Glänzten golden in der Sonne. Jetzt, mit über siebzig, sind sie stumpf, zottelig und tot. Mit vierzig ließ sie die Haare noch im Salon fachmännisch färben, aber dafür gibt ihr Riegler schon lange kein Geld mehr. Ein eigenes Einkommen hat sie praktisch nie gehabt. Nach der Schule hatte sie eine Lehre im Hotelgewerbe begonnen und für kurze Zeit als Rezeptionistin gearbeitet. Dann kam Riegler, hat sie gleich geschwängert und mit dem Traumberuf war es vorbei. Jetzt holt sie sich in der Drogerie die billigsten Mittel und färbt sich die Haare selbst. Manchmal befolgt sie die Gebrauchsanweisung nicht genau und die falsche Anwendung lässt sie aussehen wie ein Straßenköter. Die Haaransätze wachsen nach einiger Zeit wieder grau nach, aber das ist ihr egal. Damit glaubt sie ihren Mann nur noch mehr ärgern zu können. Sie leben seit langem aneinander vorbei. Er begegnet ihr mit Geringschätzung und sie verachtet ihn. Um ihm das zu zeigen, ist ihr jedes Mittel recht. Er seinerseits spricht nur das Nötigste mit ihr und dann auch nur in Befehlsform oder gar in der dritten Person.

    Die Verrückte von gegenüber hasst er zwar und lässt keine Gelegenheit aus, über sie zu lästern, aber er findet sie auf irgendeine Weise zugleich attraktiv. Ihre hochgesteckte Frisur und der zarte blasse Teint erinnern ihn an seine Frau als junge Braut. Und so kann er sich vom schweifenden Blick über die Straße oft nicht losreißen. Wenn sie, die Verrückte, zur gewohnten Zeit nachmittags mit dem Fahrrad von ihrem Bürojob nach Hause kommt, steht er auf seinem Balkon und tut, als wolle er die Blumen in den Kästen gießen und pflegen, schaut aber unentwegt in die Richtung, aus der sie kommen muss. Manchmal nimmt sie die andere Richtung und dann erspäht er sie erst im letzten Moment und ärgert sich. Jeden Sonntagvormittag, meist schon zur frühen Stunde, holt er seinen alten Opel Rekord, Baujahr 1953, aus der Garage und startet ihn mit offener Motorhaube vor dem Haus, um ihn auf Touren zu bringen. Werkelt, immer die gleiche alte, grüne Kappe auf dem Kopf, lange daran herum, in der Hoffnung, dass die Verrückte vom Balkon herunterschaut. Dann steigt er fest auf das Gaspedal, so dass der Wagen in knarrenden, brummenden, heulenden Lärm verfällt. Wenn sich dann mit lautem Knall die schussähnlichen Geräusche einer Fehlzündung vernehmen lassen und sie schlaftrunken ihr »Ruhe!« herunterruft, hat er wieder Grund genug, sie mit Worten zu bedrohen. »Ruhe?«, brüllt er zurück. »Ja, das sagt gerade die Richtige. Gegen Ihren ständigen Krach da oben sind die Geräusche meines Opels wahre Musik! Warten Sie nur! Sie können sich beim nächsten Mal auf etwas gefasst machen!«

    Eigentlich möchte er ihr ja näherkommen, aber das hat er sich noch nicht recht eingestehen können. Alle möglichen Gedanken kreisen ihm durch den Kopf. Manchmal überlegt er, sich bei ihr für seine Ausraster zu entschuldigen, um damit möglichst zugleich ein vertrautes Verhältnis aufzubauen. Er weiß auch, dass der frühpensionierte Polizist Friedmann aus Haus Nr. 7, mit dem er vage befreundet ist und beim Bier schon so manches Männergespräch geführt hat, ähnliche Absichten hegt. Dem, ist Riegler überzeugt, fehlt aber die nötige Portion Courage dazu. Allerdings ist Friedmann, der auf der anderen Straßenseite, zwei Häuser von der Verrückten entfernt wohnt, fünfzehn Jahre jünger, sieht frischer aus und ist in seinen politischen Ansichten nicht ganz so radikal wie Riegler. Er hat die besseren Karten, um bei der Verrückten zu landen. Beide haben sich schon die schönsten erotischen Abenteuer mit der Verrückten ausgemalt. Was sie in ihrer Jugend in den St. Pauli Nachrichten gesehen und gelesen haben, wollen sie gerne auch einmal selbst unternehmen. Bei ihren Ehefrauen haben sie sich immer brav und anständig verhalten müssen. Einmal die Sau rauslassen, das wäre eine schöne Abwechslung im täglichen, banalen, lau bis kalt gewordenen Eheleben. Und so schmieden sie beide ihre Pläne.

    Kapitel 3

    Zu den erwähnten sommerlichen Jours fixes bei mir in Haus Nr. 8 auf dem Balkon kann jeder aus der Stillen Straße ohne Anmeldung kommen. Es gibt ein Glas Wein, Sherry oder Gin Tonic und dazu Knabberkram. Ein häufiger Gast ist Alma, eine Junggesellin jenseits der fünfzig, die in Haus Nr. 17 mit ihrer Tante Berta zusammenlebt. Vor über einem halben Jahrhundert ist Almas Mutter bei der Geburt der einzigen Tochter gestorben, woraufhin sich die jüngere Schwester von Almas Vater dazu entschied, bei dem Witwer und der Halbwaise einzuziehen, um sich um das kleine Mädchen zu kümmern. Was zunächst nur als vorübergehende Lösung geplant war, wurde zur Dauereinrichtung. Berta, die selbst nie geheiratet hat, was wohl auch an den übernommenen familiären Pflichten im Hause des Bruders lag, übernahm bei Alma die Mutterrolle und ersetzte ihrem beruflich sehr eingespannten und erfolgreichen älteren Bruder, den sie tief, ja abgöttisch bewunderte, die treusorgende Frau – zumindest was Haushalt und Erziehung anging. Selbst nachdem Alma längst erwachsen geworden und auch ihr Vater vor nun schon über zehn Jahren verstorben war, blieben die beiden Frauen zusammen wohnen. Alma liebt ihre Tante wie eine Mutter, leidet aber auch sehr unter ihrer strengen, rigoros auf Tradition und Etikette bedachten Art.

    Bei meinen Jours fixes bemüht sich Alma denn auch, Tante Berta, wenn irgend möglich zu Hause zu lassen, was ich gut nachvollziehen kann. Wiederholt hat sie mir bei diesen Anlässen auf meinem Balkon, von der Tante befreit förmlich aufblühend, von ihren Männerbekanntschaften verschiedener Art erzählt. Oft haben wir gemeinsam über das Verhalten der kontaktsuchenden Herren gelacht.

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