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Die Süßkirschenzeit
Die Süßkirschenzeit
Die Süßkirschenzeit
eBook432 Seiten6 Stunden

Die Süßkirschenzeit

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Über dieses E-Book

1989. Die Berliner Mauer fällt und die Ostdeutschen stürzen jubelnd über die Grenze in das gelobte Land. In Kopenhagen sitzt ein Mann und verfolgt das Geschehen im Fernsehen. Seit fast 30 Jahren hat er gut integriert als Flüchtling in Dänemark gelebt. Nun überwältigen ihn seine Erinnerungen über die Mauer, von der er geflüchtet ist und über seinen Lehrjahren als junger Schauspieler im erfolgreichsten Theaterbetrieb der DDR. Etwas zögernd kehrt er zurück nach Berlin um sich mit seinen Erinnerungen über sein Leiden zu konfrontieren. Das Leiden, welches sein Leben sowohl im Positiven als auch im Negativen geformt hat. Was er jedoch nicht weiß ist, dass nicht nur seine Vergangenheit in der frisch veränderten Stadt auf ihn wartet, sondern seine Zukunft steht in Form einer äußerst überraschenden Fügung bereits in den Startlöchern. "Die Süßkirschenzeit " nimmt den Leser mit auf eine Reise durch eine essentielle Liebe und ein folgenschweres Scheitern. Unterwegs entwickelt sich der Roman in eine Erzählung darüber, dass man sich das Recht nimmt von neuem zu beginnen. Die Autorin und Dramaturgin Lis Vibeke Kristensen (geb. 1943) debütierte im Alter von 40 Jahre mit der Gedichtsammlung "Jeg har tænkt på dig – Ich habe an dich gedacht" im Jahre 1983. Aber es brauchte nochmals 12 Jahre bis sie daran wagte einen Roman zu schreiben. Aber das Warten hat sich gelohnt. Seit der Veröffentlichung ihres ersten Romans hat sie zahlreiche Literaturpreise gewonnen. Die Theaterwelt, in welcher Lis Vibeke Kristensen für über 25 Jahre als Dramaturgin und Theaterchefin gearbeitet hatte, nimmt in ihren Werken eine wichtige Rolle ein. Kristensen schreibt über starke Frauen und Männer, die nicht länger in Lebenslügen leben wollen. Dafür müssen sie lernen ihr Leben zu umarmen und den Dämonen der Vergangenheit in die Augen zu sehen. Dieses Thema kann man unter anderen in ihrem neusten Werk "Die Süßkirschzeit" bewundern.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum1. Mai 2017
ISBN9788711459874
Die Süßkirschenzeit

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    Buchvorschau

    Die Süßkirschenzeit - Lis Vibeke Kristensen

    Lis Vibeke Kristensen

    Die Süßkirschenzeit

    Roman

    Aus dem Dänischen von

    Kathrin Dreymüller

    SAGA

    … Ich singe ein Lied über die Kirschenzeit

    So kurz und so voller Träume wenn man zu zweit ist

    Ich hänge zwei glühende Kirschen über dein Ohr

    Ein Liebespfand.

    Sie leuchten so rot so warm so süß

    Bis sie sich in Tropfen aus Blut verwandeln …

    Frei nach Jean-Baptiste Clément:

    Les Temps des Cerises

    Teile dieses Buches sind von wirklichen Begebenheiten und wirklichen Personen inspiriert. Die Autorin hat sich frei zum Material verhalten. Das Buch soll als ein fiktives Werk betrachtet werden und erhebt keinen Anspruch auf historische Korrektheit.

    Kopenhagen 1971

    Er bekommt nie Pakete, wer sollte ihm Pakete schicken? Er kauft nichts per Postauftrag und er kennt niemanden, der auf den Gedanken kommen könnte, ihm ein Weihnachtsgeschenk zu schicken. Ein heimlicher Bewunderer ist die am wenigsten unwahrscheinliche Erklärung, vielleicht die Vorsitzende des jütländischen Theatervereins, die helfen wollte, aber im Weg war. Einer der Kollegen könnte ihr die Adresse gegeben haben, sie waren sehr damit beschäftigt, dass sie ein Auge auf ihn geworfen hatte.

    So steht er mit dem Paket in der Hand da. Es wiegt sicher ein Kilo und ist so groß wie ein Lexikon. Es sind deutsche Briefmarken darauf, westdeutsche. Die Adresse ist maschinengeschrieben, der Absender sagt ihm nichts. Die Stasi folgt Flüchtlingen weit bis in ihr neues Leben und schlägt zu, wenn sie aufhören, auf der Hut zu sein, aber Briefbomben schickt man wichtigen Personen, nicht einem kleinen Würstchen, wie ihm, und die Form des Pakets ist regelmäßig, ohne Dellen oder etwas, das sich wie Metall oder Kabel anfühlt.

    Er nimmt ein Messer aus der Küchenschublade und macht sich an das Paketband. Derjenige, der das Paket verpackt hat, hatte genug davon. Alle Seiten und Ecken sind mit braunem Paketband verklebt. Im Paket liegen ein Brief und ein weiteres Paket. Der Brief hat einen Briefkopf von einer Anwaltskanzlei aus Frankfurt. Auf dem Paket steht: Im Falle meines Todes, und in einer neuen Zeile: Wird ungeöffnet gesendet an, und dann sein Name und seine Adresse. Die Schrift ist dieselbe, wie auf dem Zettel, der in seiner Brieftasche liegt, der letzte Zettel, den sie an ihn geschrieben hatte.

    Falls Sie ernsthafte Probleme haben, steht Ihnen das Theater gerne mit Rat und Tat zur Seite, steht dort. Haben sie einfach nur schlechte Laune, möchte ich Sie bitten, diese außerhalb des Arbeitsplatzes zu lassen.

    Der Zettel lag in seinem Postfach im Theater. Die Kritik eines Chefs oder die Zurechtweisung eines widerspenstigen Kindes durch einen Lehrer, korrekt und formell, ohne jegliche Gefühle. Dies war die schwierigste Phase und er erinnert sich, dass er dachte, den hier behalte ich. Den hier nehme ich raus und lese ihn, wenn ich sie vermisse. Seit fast zehn Jahren liegt er in seiner Brieftasche und er hat ihn nicht herausgenommen, nicht einmal, als ihn die Sehnsucht nachts wach gehalten hatte. Dass sie jetzt tot ist, ändert nichts, für ihn war sie schon seit langem tot.

    Das Paket liegt auf dem Küchentisch. Gleich öffnet er es. Gleich nimmt er es, geht die Treppe herunter, auf die Rückseite des Hauses und wirft es in die Mülltonne. Gleich geht er los und kauft braunes Papier und Paketband, packt es wieder ein und schickt es an den Absender zurück. Aber es ist schon spät und wenn er den Tourneebus erreichen will, der nicht wartet, ist jetzt keine Zeit. Im Schlafzimmer packt er seine Tasche mit dem Notwendigsten für drei Übernachtungen. In der Küche knüllt er das Umschlagpapier mit dem Paketband zusammen und wirft es in den Mülleimer, bindet die Tüte zu und stellt sie an die Tür. Er hinterlässt nie Unordnung und Schweinerei, aus Prinzip. Selbst wenn er nur kurz zum Kaufmann geht, räumt er auf.

    Das Paket liegt immer noch dort. In seinem grauen Papier mit einer Schnur drum, mit vielen Knoten. Er trägt es ins Wohnzimmer, wo sich sein neues Regal bereits unter den Büchern, die ihm Gesellschaft leisten, biegt. In dem kleinen Schrank des Regals bewahrt er wichtige Papiere und die Geldkassette, in die er jeden Monat Geld für den Haushalt legt. Aber dort soll das Paket nicht hin.

    Das Sofa ist ein Schlafsofa. Er hatte es gekauft, ohne zu wissen, dass es eins war, wegen des Aussehens und des Komforts, aber wenn er den Rücken aufklappt, ist dort ein Hohlraum. Er hat keine Übernachtungsgäste und keine Extradecke, der Stauraum ist leer. Das Paket legt er, aus Gründen, die er selbst nicht kennt, in eine Irma-Tüte. Nach genauerem Nachdenken, in eine weitere Tüte. Er wickelt Gummibänder darum und klemmt es unter ein paar Federn in den Rücken des Sofas. Dann klappt er den Rücken zurück.

    Dort kann es liegen. Bis er tot ist und das Sofa auf einer Auktion verkauft oder zur Müllhalde gebracht wird. Oder wenn er es eines schönen Tages herausnimmt und sich vielleicht, vielleicht auch nicht, entscheidet, es zu öffnen.

    Kopenhagen 1989

    In seinem Fernseher sind Menschen auf die Mauer geklettert. Sie stehen in Gruppen dort oben und sie umarmen sich, rufen und singen. Selbst sitzt er sicher auf seinem dänischen Sofa und sieht zu, wie sie auf die andere Seite der Mauer klettern und mit Hacken auf den Beton losgehen, bald sind dort Löcher, bald strömen Hunderte von Menschen in beide Richtungen und niemand hält sie auf. Alle Fernsehnachrichten berichten davon und die Sprecher geraten bei jedem Stückchen Mauer, mit dem jemand vor der Kamera herum winkt, vor Begeisterung mehr und mehr außer Atem. All die Gesichter, die herangezoomt werden, sehen betrunken aus, als ob sich eine ganze Nation entschieden hat, sich zu betrinken. Fünf in einem kollektiven Rausch gerade sein zu lassen und nicht an den morgigen Tag zu denken.

    Das Bier in seinem eigenen Glas auf dem Sofatisch wird lauwarm, während er das anstarrt, was wie ein Spielfilm aussieht, das Werk eines Träumers, aber wie ihm die eifrigen Sprecherstimmen versichern, die mehr und mehr wie Sportjournalisten klingen, die leibhaftige Wirklichkeit ist.

    Er könnte runter in den Weinkeller gehen, sich in den Zigarettenrauch setzen und mit den anderen Stammgästen einige Worte wechseln, du bist doch Deutscher, ist es nicht so? Deutschtum öffnet hier in diesem Land keine Türen, aber als Flüchtling des Kommunismus hat man irgendwie eine Aura und es ist nicht undenkbar, dass jemand einem ein Bier ausgeben will, um zu feiern, dass er zum Schluss recht bekommen hat.

    Der, der zuletzt lacht. Aber er lacht nicht. Die Tränen strömen die Wangen herunter und er macht sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen. Sie laufen und laufen und tropfen auf den Pullover, legen sich als ebenso viele Tautropfen auf die blaue Wolle. Blau ist seine Farbe, die Frauen, die über die Jahre sein Bett passiert haben, bemerken das. Du gehst immer in Blau, sagen sie. Nie etwas anderes, willst du es nicht mal mit schwarz versuchen oder grau oder direkt rot? Im Schrank hängen oder liegen sie, Jeans, Cordhosen, Pullover, Hemden und T-Shirts, alle zusammen blau.

    Seit dreißig Jahren sucht er nach dem richtigen Farbton, ohne ihn zu finden. Das eine Mal, als er in Paris war, ging er zu dem Geschäft, wo sie das Hemd für ihn gekauft hatte, aber es war weg, ersetzt durch ein Eiscafé.

    Kein Hemd saß wie dieses. Kein Hemd wurde wie dieses geliebt, falls man ein Hemd lieben kann. Durch das Hemd liebte er sie, die es ihm gegeben hatte. Jedes Mal, wenn er es anzog, schwoll seine Hose an und er sehnte sich nach ihrem sehnigen Körper, ihrer rauen Leidenschaft und der Blase aus Lust, die ihr Zuhause war. Die Lust und die Gespräche, wenige Worte, viele Schichten, keiner von ihnen war geschwätzig, das Wesentliche wurde gesagt und lebte im Gehirn weiter, vibrierte im Magen, klingelte in den Ohren zwischen den kurzen Treffen. Sie war die Chefin, er der talentierte Bursche. Unbeliebt bei den anderen und er verstand nicht warum, bis sie es ihm erklärte. Er hatte die Rolle eines beliebten Kollegen übernommen, der wegen seiner Ansichten im Gefängnis gelandet war und wo stand er selbst und konnte man ihm vertrauen?

    Wenn er zurückdenkt, ist es seine eigene Naivität, der er begegnet. In seiner Kindheit hatte er gelernt, dass die Dinge das waren, was sie zu sein schienen und er war nicht in der Lage, die einfachsten Phänomene zu durchschauen. Intrigen waren nur ein Wort, Machtspiele ein anderes und er begriff nie das, was zwischen den Zeilen stand und niemand erklärte es ihm, doch, sie tat es, aber nur, wenn es um die anderen ging. Was sie selbst hinter der Fassade dachte, was sie fühlte, über das hinaus, was man direkt bemerken konnte, wenn sie im selben Bett lagen, davon hatte er keine Ahnung.

    Außerhalb ihrer Blase war die Landkarte weiß.

    Das Hemd folgte ihm auf der Flucht, es war sein Siegeshemd. Ein Mann mit einem Hemd von dieser Qualität ist unverwundbar, kein Grenzbeamter kann etwas anderes tun, als ihn durchzulassen, bitte sehr, mein Herr, hier entlang zur Freiheit. Er hatte es im Kopf geübt, sich selbst Mal für Mal wie eine Schachfigur über die Grenze bewegt, hinüber auf die andere Seite und jetzt verlässt der Zug Maribor und genau hier kann es schiefgehen, aber das Timing stimmt. Es ist nach Mitternacht, genau wie es sein soll und der jugoslawische Grenzbeamte ist sehr schläfrig, wirft einen Blick in seinen Fremdenpass, den Pass, den er am Strand in Bulgarien von jemandem gekauft hatte, der eine Art Freund geworden war. Das Bild im Pass ähnelt ihm nur teilweise. Die Augen sind ok, das ist das Wichtigste und Leute rasieren sich den Schnurrbart ab, das ist normal. Im Theater hätten sie reagiert, falls er sich plötzlich Gesichtsbehaarung zugelegt hätte. Der Österreicher ist wacher, aber nicht so sehr, dass er den Pass in Frage stellt. Es ist einfach so, dass er das Visum in Beograd hätte beantragen sollen. Kehren Sie nach Beograd zurück, sagt der Beamte, der jung ist und einen Pickel auf der Nasenspitze hat, beantragen Sie ihr Visum dort, sagt er, aber der Zug dampft schon Richtung Wien. Er wiederholte seine Losung, er hatte geübt und das saß wie die Replik einer Rolle. Transit, sagte er, Transit, sehen Sie hier, die Fahrkarte ist eine Retourfahrkarte, ich muss mich um meine Arbeit kümmern, Opernsänger, sagt er, selbst der Beamte mit dem Pickel kannte die Oper in Berlin. Ein paar Tage in der Hauptstadt, eine Vorstellung ansehen. Von der Leitung geschickt, um eine Vorstellung anzusehen, ein mögliches Gastspiel und dann zurück. Transit.

    Das Hemd beschützte ihn, oder so fühlte es sich zumindest an. Das Hemd erzählte ihm, dass alles möglich ist, man muss sich nur entschließen und eines Nachts war der Entschluss einfach da.

    Hier kann ich nicht leben. Es war, als hörte er sich selbst die Worte sagen, aber zum Glück war er stumm. Wenn man Fluchtpläne hat, darf nicht einmal man selbst dies kennen, sagte sein bulgarischer Freund. Hat man Freunde, ist es ausgeschlossen, das mit ihnen zu diskutieren, es könnte sowohl einen selbst als auch sie in Gefahr bringen. Man kann nur hoffen, dass man nicht im Schlaf spricht. Das Sicherste ist, mit niemandem das Bett zu teilen, aber das war keine Option und in dieser Nacht schlief Eva mit dem Gesicht ihm zugewandt, ihr Mund war halb geöffnet und entließ blubbernde Laute. Er lag lange wach und betrachtete die Sommersprossen auf ihren glatten Wangen, betrachtete das rotblonde Haar, das von der nächtlichen Wärme feucht war und sich ein wenig kräuselte und er dachte, dass es leicht war, sie zu verlassen.

    Es stand dasselbe in den Briefen, die er ihr und der anderen, sie, die etwas bedeutete, schickte: Es hat nichts mit dir zu tun, du hast keine Schuld. Vergib mir. Sicherheitshalber schickte er sie über den Freund in Bulgarien, ein Brief aus einem anderen Ostland hatte größere Chancen unbemerkt zu passieren. Keine von ihnen sollte wegen eines Briefes in Schwierigkeiten geraten, es war schon genug, dass sie mit einem Republikflüchtling näheren Kontakt hatten.

    Eva verführte ihn zu einem Zeitpunkt, als er pflückreif, unglücklich, im Stich gelassen war. Von dem einen Tag auf den anderen war er Teil eines Paares, kein gut verborgenes Geheimnis und das war eine Art Erleichterung, aber ob er jemals in sie verliebt gewesen war, weiß er nicht einmal heute. Sie war eine Oberfläche und falls mehr darunter war, zeigte sie es nie, sie war ein Körper, bei dem man liegen konnte, dem man die Arme um die Schultern legen konnte, wenn sie nach der Vorstellung nach Hause gingen, neben dem man am Kantinentisch sitzen konnte. Sie war das Schmiermittel, das die anderen still und ruhig dazu brachte, ihn endlich zu akzeptieren und zusammen mit ihr wurde sein Unglück kleiner. Auf der Bühne konnte er gut mit ihr arbeiten, privat funktionierte es. Ein Surrogat, ganz sicher, aber effektiv und es könnte weiterhin so sein. Eine Art Leben, weder schlechter noch besser, als viele andere, wenn nicht jemand entschieden hätte, eine Mauer zu bauen.

    Unter seinen Fenstern mischte ein ganzes Bataillon Arbeiter Zement, legte Mauerstein auf Mauerstein in rasendem Tempo, bis die Mauer so hoch war, dass man nicht über sie drüber klettern konnte und dann wurde sicherheitshalber Stacheldraht ausgerollt, weil sich die Leute an Laken herunterließen, Leute warfen Koffer raus und sich selbst hinterher. Seine Nachbarin, eine alte Frau, lag leblos dort unten, sie hatte gerade noch Kraft, eine Hand zu heben, als sie sie wegtrugen, aber er sah sie nie wieder und jemand sagte, sie sei im Krankenhaus gestorben. Dann mauerten sie die Fenster zu und die Türen, man musste durch den Hof reingehen und in diesen Tagen wurde das Gebäude in einen Käfig verwandelt und die Bewohner in Tiere, eingesperrt. Die, die nicht hinaussprangen und hofften, sie würden überleben und jemand auf der anderen Seite würde sie retten, zuckten mit den Schultern. Man gewöhnt sich daran, sagten sie, oder auch, dass es das war, was man erwarten konnte, wenn die Leute einfach aufbrachen und ihr Land verrieten, etwas musste ja geschehen, um den Strom aufzuhalten. Selbst sagte er nichts. Der Anblick der Mauer machte ihn stumm, stummer als der Löwe im zoologischen Garten, der hin und zurück wanderte, hin und zurück, ohne zu brüllen, aber drinnen in seinem Kopf arbeitete es und vielleicht arbeitet es ebenso im Kopf eines Löwen, dort drinnen im Käfig, ein einziger Gedanke, ich muss hier raus, koste es, was es wolle.

    Die Wohnung war nicht länger seine als er aufbrach. Eines Tages kamen sie und baten ihn, seine Sachen zu entfernen und zu diesem Zeitpunkt war er zu stolz, sie um Hilfe zu bitten, die Chefin, er hatte angefangen, sie in seinem Kopf so zu nennen, und einen Schlafsaal mit anderen Obdachlosen zu teilen, kam nicht in Frage. Er saß mit Sack und Pack in der Kantine, als Eva sich anbot. Bis du etwas anderes findest, hieß es, aber sie wussten beide, dass das rein pro forma war, sie übernachteten sowieso schon bei dem anderen, wenn es ihnen passte, wieso also nicht zusammenziehen, wenn die Dinge jetzt waren, wie sie waren.

    In dieser Nacht lag er mit offenen Augen und hämmerndem Herzen da und als die Sonne aufging, wusste er, was er zu tun hatte und auch wie. Als der Wecker klingelte, wachte Eva auf und lächelte ihn an, er erinnerte sich, dass er dachte, dass er sie vielleicht trotz allem vermissen würde. Aber als es soweit war, hinterließ sie nicht einmal eine Leere.

    Der weiche Stoff des Hemdes beruhigte ihn auf der Reise. Erst viele Jahre später machte er daraus Putzlappen, es beschloss seine Tage in einer Holzkiste in Gesellschaft der Dose mit dem Lederfett. Während dieser Jahre trug er Stiefel aus Kernleder, wie alle anderen, die Stiefel waren das Einzige an ihm, was nicht blau war, selbst die Socken waren blau, Badehose, Wintermütze, Fäustlinge. Blau war eine Erinnerung an das Wichtigste in seinem Leben. Für andere hätte es als Parenthese verbleiben können, für ihn selbst zog es Grenzen. Zwischen dem Wesentlichen und dem, was er verlassen konnte.

    Im Fernseher sprechen sie seine Sprache mit dem Berliner Akzent, den er nie hatte lernen können. Er hatte genug damit zu tun, seine ländlichen Betonungen zugunsten einer Theatersprache abzustellen, die von allen verstanden werden konnte, es sei denn, die Rolle forderte genau das, dass er wie ein Bauernrüpel klang.

    Sie rufen immer noch hurra. Sie umarmen einander und lachen und weinen, Wunderkerzen versprühen ihre Funken, Leute trinken Sekt direkt aus der Flasche. Die Menschen auf der Mauer sind die Gischt auf einer Flutwelle, die alles auf ihrem Weg mit sich spült, Bürokraten, Polizisten, Schäferhunde, Generäle mit Lametta aus Orden auf der Brust und dieses Land dort hat nicht genug Sandsäcke, um sie zu stoppen, oder jemand hat heimlich und aus Protest die Sandsäcke mit Zucker gefüllt und der Zucker löst sich auf und verwandelt die Welle in Sirup, Tod durch Ertrinken in voller Süße für das sauerste Land der Welt.

    Es klingelt an seiner Tür. Das passiert nicht oft, trotz all seiner Jahre im Land, hat er niemanden, den er einen Freund nennen könnte. In Dänemark gibt man vielleicht ein Bier aus und sitzt und schwatzt ein paar Stunden und danach passiert nichts weiter. Meistens ist es nur der Hausmeister, der an einem Hahn drehen oder einen Heizkörper entlüften muss, oder die Zeugen Jehovas, die ihn erlösen möchten. Ein seltenes Mal steht seine Nachbarin mit einem Schlüssel draußen und bittet ihn, die Topfpflanzen ein paar Tage zu gießen. Die Nachbarin ist eine knochige Frau in seinem Alter mit der Patina, die weibliche Alkoholiker nach vielen Jahren in Gesellschaft von Flaschen bekommen, eine grobe Haut, eine Schlaffheit unter den Augen, Haare, die nicht wie Haare aussehen, sondern wie die Füllung einer Matratze.

    Ganz genau, sie ist es. Er hat sich die Augen auf dem Weg zur Tür getrocknet, der Fernseher lärmt weiterhin im Hintergrund. Dieses Mal sind es nicht die Topfpflanzen, um die es geht, sie hat eine beschlagene Flasche Schnaps in der Hand, Rød Ålborg, und zwei Gläser und sie lächelt mit ihren fleckigen Zähnen.

    – Die Mauer fällt, sagt sie. – Das muss doch gefeiert werden.

    Sie steht bereits im kleinen Flur und er kann sie riechen, eine Mischung aus altem Schnaps und dem schweren Parfüm, das sie über sich geschüttet haben muss, um das Schlimmste zu überdecken. Das Ergebnis lässt seinen Magen rumoren. Hinter ihm rufen die Fernsehstimmen, Stasi raus, Stasi raus. Sie haben zu der Demonstration im September geschaltet, wo das Ganze angefangen hat und er findet den Ausschalter und schaltet das Bild weg.

    – Wir können es uns doch ansehen, sagt sie.

    Auf der einen Seite wäre er gerne alleine, um das Ganze zu sehen, jede Sekunde in sich aufzusaugen, die Tränen strömen lassen, mit sich selbst reden, die Worte auf der Sprache sagen, die er verlassen hat, die aber immer noch irgendwo in ihm lebt. Auf der anderen Seite will er sie nicht bitten, zu gehen. Er weiß nicht, wann er sie mal brauchen könnte. Wenn man alleine lebt, weiß man nie, wann man plötzlich einen anderen Menschen braucht, er macht sich nichts anderes vor, auch wenn er sein Bestes gibt, zu vermeiden, andere als sich selbst zu brauchen. Einen Schnaps kann er annehmen, es muss hart sein, immer alleine zu trinken und sie hat ihm nichts getan, sie ist nie etwas anderes als freundlich ihm gegenüber gewesen.

    Ihre Augen schwimmen als sie zum Sofa schwankt, aber ihre Hand ist sicher und verschüttet nicht einen Tropfen, als sie in die Gläser einschenkt. Die Bewegungen erinnern ihn an etwas, etwas Angenehmes, etwas, an das er sich erinnern will, aber erst als er mit ihr angestoßen hat und sie das erste Glas geleert haben und sie ah gesagt und mit der Zunge geschnalzt hat, wird das Bild deutlich, vom Marketender in dem Stück, das der Anfang von dem Ganzen war.

    Mutter Courage zapft Bier von einem Hahn am Wagen und der kleine Schlag mit der Hand gegen den Hahn erzählt die ganze Geschichte, von einer Person, die ohne überflüssige Gesten zurechtkommt, jemandem, der jede Situation perfekt unter Kontrolle hat. Während der Proben saß er im Dunkeln und verschlang sie mit den Augen. Die Rolle war sie, sie war die Rolle, aber es konnte nicht die Rede von irgendeinem Hineinversetzen sein, ihre Arbeit war gründlich wie die eines Wissenschaftlers, jede Geste, jeder Tonfall wurde auf eine Goldwaage gelegt und war es das, dem er erlag, war es nur Bewunderung? Er hatte darüber gegrübelt, ohne die Antwort zu finden, bis er sich entschied, es ruhen zu lassen.

    Die Frau auf dem Sofa neben ihm streckt die Hand nach der Flasche aus, die zu drei Vierteln voll ist. Alice heißt sie. Oder auch Annie, er ist sich nicht sicher. Es steht A. Madsen an der Tür und jetzt hat sie bereits noch einmal nachgeschenkt und wieder ist nichts verschüttet, die klare Flüssigkeit steht präzise bis zur Kante des Glases und es gelingt ihm nur mit Müh und Not, seins zum Mund zu führen, ohne dass es überschwappt. Ihr Trick ist, mit beiden Händen um das Glas zu greifen, aber nur mit den äußersten Fingerspitzen. Das sieht überlegen aus, raffiniert wie ein Taschenspielertrick, als sie die Flüssigkeit in den Mund kippt.

    Nach dem dritten Glas schwirrt ihm leicht der Kopf. Gewöhnlich trinkt er ein Bier, höchstens zwei. Auf Tournee trinkt er nach der Vorstellung zusammen mit den anderen Technikern eins. Nicht weil er Lust dazu hat, sondern weil es sonst so aussähe, als würde er vornehm tun. Ein paar von ihnen wissen, dass er Schauspieler war und die Sache mit den Schauspielern ist heikel. Schauspieler interessieren sich nur für sich selbst, so wird unter den einfachen Arbeitern geredet. Im Gegensatz zu ihnen stehen die Techniker Schulter an Schulter, eine eng zusammengeschweißte Gruppe, einer für alle, alle für einen und keiner ist mehr als ein anderer. Dass die Gruppe ihre eigene innere Hierarchie hat und dass man einander in Schach hält, ist eine andere Sache, aber sollte er es vorziehen, mit den Schauspielern ein Bier zu trinken oder einen kleinen Nachtimbiss zu essen, würde das relative Wohlwollen, das er genießt, durch Hänselei und Hohn ersetzt und warum sollte er sich dem aussetzen?

    Alice, oder ist es Annie, hat etwas gesagt. Nach fast dreißig Jahren hat er keine Probleme mit der Sprache, aber die Wörter bleiben schwebend in der Luft hängen und erreichen sein Gehirn nicht, sie hängen wie ein graubrauner Dunst vor seinen Augen. Bis sie sie wiederholt, einmal, zweimal, sie lacht und er sieht die braunfleckigen Zähne, das verhärmte Gesicht, die Lippen, über die sie die ganze Zeit leckt, sodass sie feucht glänzen und sie sagt etwas, aber er kann es nicht hören. Er sitzt in dem Gestank von altem und neuem Alkohol und schlechtem Parfüm und es heult in seinem Kopf, etwas heult da drinnen und übertönt alles andere, alle Gedanken, alle Wünsche.

    Jetzt gehst du wohl zurück.

    Sie hat die Hand auf seinen Oberschenkel gelegt, wie eine andere einst die Hand auf seinen Oberschenkel gelegt hatte. Es ist eine freundliche Geste, oder vielleicht auch eine Einladung und er will sie nicht beleidigen, er könnte sie mal brauchen, er braucht sie, genau jetzt braucht er sie, um etwas auf Abstand zu halten und er verbirgt sein Gesicht an ihrer Schulter und küsst ihren schlaffen Hals, seine Hände suchen ihre Brüste unter der genoppten Strickjacke, sie trägt keinen BH, stellt er fest und sie zieht sich und ihm die Hosen aus und hilft ihm in sich rein, in eine überraschende Hitze und der Körper macht das, was er soll, während der Verstand in einer Welt auf Hochtouren arbeitet, die nichts mit dem, was auf dem Sofa geschieht, zu tun hat, und er kann es nicht stoppen. Die Worte hallen in seinem Kopf wider, in allen Tonarten, in einem pumpenden, unerbittlichen Rhythmus.

    Jetzt gehst du wohl zurück.

    Als es überstanden ist und sie wieder nebeneinander sitzen, vollständig angezogen, auf dem Sofa, dessen Kissen etwas flacher geworden sind, aber nicht zu flach, dass man so tun kann, als wäre nichts gewesen und sie jedem seinen Schnaps aus der Flasche eingegossen hat, die nicht mehr beschlagen ist, und sie angestoßen haben und sie ihn mit etwas anlächelt, das man mit ein wenig gutem Willen ein schelmisches Lächeln nennen könnte, weiß er es.

    Der Weg ist vorgezeichnet, eine gerade Linie von jetzt bis damals. Was ihn dort erwartet, weiß er nicht. Nur, dass er es tun muss. Nicht jetzt. Wenn die Dinge zur Ruhe gekommen sind. Wenn der Tag kommt, da er keine Repressalien mehr fürchten muss, sagt er sich selbst und weiß, dass das eine schlechte Ausrede ist. Er könnte schon heute aufbrechen, hätte vor langer Zeit aufbrechen können, mit seiner neuen Staatsbürgerschaft, mit seinem dänischen Pass. Die Grenze ist in ihm selbst, es ist diese, die er übertreten muss, die Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen, zwischen vergessen und erinnern.

    Nicht jetzt. Ein anderes Mal.

    Er steht auf. Geht raus in das kleine Badezimmer, wo der Boden nach seinem Morgenbad immer noch nass ist. Jeden Morgen wischt er drüber und zieht die Fliesen mit dem Gummiabzieher ab, trotzdem wird es dort nie richtig trocken, bevor er wieder auf dem Weg ins Bett ist. Er pisst mit der Hand gegen die Wand gestützt, nicht weil er betrunken ist, sondern weil er sich kaum aufrechthalten kann.

    Im Wohnzimmer hat sie die Beine unter sich gezogen, sitzt in der Sofaecke, als gehörte sie dorthin, aber jetzt will er alleine sein. Sie hat die Gläser wieder gefüllt, sie wartet auf ihn und falls er sie verletzt, ist da nichts zu machen. Er bleibt am Ende des Sofas stehen und nimmt sein Glas, leert es in einem schnellen Zug, so als hätte man es eilig aus einem schlechten Restaurant zu kommen.

    – Danke für die Drinks, sagt er.

    Es dauert einen Moment, bis sie es versteht. Dann steht sie auf, sammelt die Flasche und das Glas umständlich ein, bekommt sein Glas in die Hand, als sie auf dem Weg zur Tür an ihm vorbeigeht. Ihr enttäuschtes Gesicht erschwert es, sie einfach gehen zu lassen und er legt eine Hand auf ihren Arm.

    – Danke für alles, sagt er.

    Er begleitet sie raus. Hört, wie die Tür zu ihrer Wohnung aufgeschlossen wird und den harten Knall, als sie hinter ihr zufällt und vielleicht hat er sie beleidigt. Oder vielleicht hat er auch nur das getan, was sie von Männern erwartet und das nächste Mal, wenn sie es braucht, wird sie ihn bitten, ihre Topfpflanzen zu gießen, wie das Natürlichste auf der Welt. Er hofft es. Oder er weiß nicht, was er tut.

    Es ist spät und unter normalen Umständen hätte er schon längst zu Abend gegessen, aber sein Magen, der bei der geringsten Ankündigung von Hunger in Alarmbereitschaft gerät, sendet keine Signale. Er nimmt die Leberpastete und ein Paket Vollkornbrot aus dem Kühlschrank und schmiert sich ein Brot, aber er hat keinen Appetit. Die Scheibe Roggenbrot liegt auf dem Schneidebrett neben dem Glas Rote Beete und sieht wie ein normales Butterbrot aus und er schafft es nicht einmal, es in Folie zu wickeln und es in den Kühlschrank zu legen, das sieht ihm nicht ähnlich.

    Er ist zu müde, um müde zu sein und sich wieder vor den Fernseher zu setzen und zu sehen, wie seine Landsleute betrunkener und betrunkener und lauter und lauter werden, schafft er nicht. Draußen ist es nasskalt, ein strömend nasser, anthrazitgrauer Donnerstag, an dem ihn niemand erwartet. Die Tournee war am Wochenende zu Ende und die ersten Tage der Woche haben sie gebraucht, um aufzuräumen, die Dekoration auseinanderzupflücken und das, was nicht wieder verwendet werden kann, auf die Müllhalde zu bringen. Nun bummelt er bis Mitte nächster Woche die Zeit ab. Zeit abbummeln ist das Schlimmste, was er kennt, direkt nach Ferien und Feiertagen, wenn das Theater geschlossen hat und ihn niemand braucht.

    Er geht am Weinkeller vorbei, wo die Leute zu diesem Zeitpunkt entweder leicht angetrunken und sentimental oder latent aggressiv sind oder dabei sind, sich zu entscheiden, nach Hause zu Frau und Fernseher zu gehen, bevor sie es werden.

    Im Theater sind die heutigen Proben vorbei, die nächste Premiere ist am zweiten Weihnachtstag und erst am Montag beginnen die Abendproben. Die Fassade des viereckigen Gebäudes liegt im Dunkeln und er lässt sich durch die Kellertür rein und stellt den Alarm auf Null. Unten in der Teeküche der Techniker stehen die Becher noch auf dem Tisch, die Lampe der Kaffeemaschine leuchtet rot, nicht immer denkt jemand daran, sie auszustellen. Der letzte, bittere Kaffee füllt einen halben Becher und er verbrennt sich an ihm, ehe er ihn ins Waschbecken kippt, alle Becher abspült und sie ins Abtropfgestell stellt. Das Kalendermädchen an der Wand lächelt ihn an, sie hat eine Wichtelmütze auf und große Brüste und sie ist unter der Gürtellinie glattrasiert, es sieht aus, als hätte man einen erwachsenen Oberkörper auf den Unterleib eines kleinen Mädchens transplantiert, ein durch und durch missglücktes Experiment.

    Der Aschenbecher ist wie gewöhnlich übervoll. Jeglicher Versuch hier unten ein Rauchverbot einzuführen, stößt auf die massivste Form zivilen Ungehorsams. Freie Menschen fordern freies Rauchen und solche wie er müssen sich einfach damit abfinden. Er findet sich damit ab, er hat nicht einmal Lust, sich zu beschweren, wenn sie im Tourneebus rauchen, er passt sich an, wie er es von Anfang an getan hat und warum sollte er das auch nicht? Er hatte es selbst entschieden, sein Land und die Karriere, die gerade aus den Startlöchern gekommen war, zu verlassen, er hatte sich entschieden, seine Sprache zu verlassen und was ist ein Schauspieler ohne Sprache, für etwas so abstraktes wie Freiheit. Die Freiheit zu denken, zu sagen, für die Partei zu stimmen, wie er Lust hat, mit der Gewissheit in eine Wahlkabine zu gehen, dass niemand erfahren wird, wo er sein Kreuz setzt. Freiheit, denen zu sagen, die es hören wollen, dass der Ministerpräsident einem Parfümhändler ähnelt und das Prinz Henrik schwul ist, welche Freude er auch daran haben sollte. Meinungsfreiheit heißt das und er schaut sich in dem unordentlichen Raum um und weiß, welche Gespräche bei Kaffee und Zigaretten geführt werden, beim Freitagsbier. Wozu die Meinungsfreiheit an diesem Theater gebraucht wird, in diesem Land.

    Die Nationalhymne, die seine Kindheit und Jugend begleitet hat, hallt durch seinen Kopf und er nickt im Takt zu der schlechten Poesie, Auferstanden aus Ruinen Und der Zukunft zugewandt Laß uns dir zum Guten dienen Deutschland, einig Vaterland!

    Auferstanden aus Ruinen. Das war sein Land und es war nur Ärmel hochkrempeln und wegräumen und neu bauen. Für Frieden und Sozialismus, gegen Krieg und Nationalsozialismus. Er hörte den Lehrern zu, den Jugendleitern, all den Erwachsenen, die wie aus einem Mund sprachen und er glaubte, dass sie es so meinten. In der Tiefe seiner naiven Seele glaubte er an den faktisch existierenden Sozialismus. Glaubte daran, dass er Teil von etwas Wichtigem war und das alles nur besser und besser werden würde und dass das Theater ein Teil des Kampfes war. In der Amateurgruppe, in der er mit ein paar anderen aus der Fabrik begonnen hatte, stand er mit Menschen zusammen auf der Bühne, die dasselbe glaubten. Dass sie gemeinsam die Welt verändern könnten und dass es nur eine Frage der Zeit war, bis alles besser werden würde. Bis alles gut werden würde.

    Seine Mutter bekam im Textilkombinat Arbeit und nähte Hemden, das eine hässlicher als das andere, alle aus Kunststoff, der einen dazu brachte, nach wenigen Minuten aus allen Poren zu schwitzen. Sie kamen mit dem Lohn aus. Es gab auch nicht so viel zu kaufen, dass es etwas ausgemacht hätte und es gab viel, das umsonst war. Alle Frauen an den Nähmaschinen hatten ihre Männer verloren oder die Männer saßen zu Hause am Küchentisch und tranken und wurden innerlich von Verbitterung über ihr Schicksal und das eine Bein, das der Krieg ihnen gelassen hatte, zerfressen. Sein eigener Vater war eine schlanke Figur auf einem Bild. Die Uniform stand ihm und auch wenn das Bild in Schwarzweiß war, konnte man sehen, dass seine Augen trotz des schwarzen Haares, das unter der Mütze hervorschaute, blau und hell waren.

    Seine Mutter kränkelte als er nach Berlin fuhr, aber solch eine Chance konnte er sich nicht entgehen lassen, das dachte sie auch. Einmal besuchte er sie, nachdem er umgezogen war und da hatte sich der Krebs bereits ausgebreitet, Lunge, Knochen, Leber und einen Monat später war Schluss. Er konnte sich nicht vorstellen, darum zu bitten, frei zu bekommen, um zu der Beerdigung zu gehen. Schauspieler nehmen sich nicht frei, nicht einmal, um auf die Beerdigungen ihrer Mütter zu gehen, niemand will eine abgesagte Vorstellung auf dem Gewissen haben. The show must go on. Die Worte dafür lernte er erst im Westen, aber sie sind ihm in Fleisch und Blut übergegangen und seine Mutter war tot und es konnte ihr egal sein.

    Was sollte er auch mit einer Mutter? Er war 20 Jahre alt und das Leben war ein Abenteuer, wie er, Tölpel-Hans, es auf seinem Ziegenbock durchritt und unterwegs nicht nur das halbe Königreich eroberte oder eine dämliche Prinzessin, sondern die Königin selbst. Ein übermütiger Bursche, der das Glück im Schoß der Angebeteten schmeckte und der dumm genug war zu glauben, dass es ewig anhalten würde, oder was ewig eben ist, wenn man 20 Jahre alt ist. Es wird ewig dauern, aber nicht auf die Art, wie er glaubte.

    Im Pausenraum riecht es nach altem Tabak, Farbe und Fußschweiß. Ein halbleeres Buttertöpfchen, in dem ein Messer steckt, steht neben dem Waschbecken, wo jemand Pinsel ausgespült hat und vergessen hat, hinterher

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