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Die Elixiere des Glücks
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eBook282 Seiten4 Stunden

Die Elixiere des Glücks

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Über dieses E-Book

Der Diplomat und Schriftsteller Waldemar Lewerenz hat sich nach dem Ersten Weltkrieg in München niedergelassen, fernab von dem väterlichen Gut Barkoschin nahe Danzig und getrennt lebend von seiner Frau Sabine. Das München der Zwanziger Jahre ist in Bewegung geraten. Revolution, okkultistische Treffen, rauschende Feste wecken die Geister. In dieser Phase lernt Waldemar Angele Moradelli kennen und lieben - bis Sabine in München auftaucht. Max Halbe (1865-1944) studierte Rechtswissenschaften in Heidelberg und promovierte 1888 in München. Anschließend ließ er sich als freier Schriftsteller in Berlin nieder. Er gehörte zu den wichtigen Exponenten des deutschen Naturalismus. 1895 übersiedelte Halbe nach München und gründete das 'Intime Theater für dramatische Experimente'. Ebenso wurde er Mitbegründer der 'Münchner Volksbühne'. Mit Ludwig Thoma und Frank Wedekind pflegte Halbe eine Freundschaft.
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum1. Okt. 2015
ISBN9788711446287
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    Buchvorschau

    Die Elixiere des Glücks - Max Halbe

    Saga

    Wo die aus der Kaschubei südwestwärts heranziehende Landstraße sich mit der aus der Weichselniederung heraufsteigenden Straße in einem schrägen Kreuz schneidet, dort liegt Barkoschin.

    Es ist eine teils lehmige, teils sandige, vielerorts auch aus Kies und Geröll sich aufbauende Hügel- und Höhenlandschaft, und ein großer, weiträumiger, fast zu allen Jahreszeiten schwermütiger Himmel spannt sich darüber.

    Das Barkoschiner Herrenhaus steht auf einer der runden, abgeschliffenen Lehm- und Sandkuppen, am Rande einer flachen Schlucht, durch die ein aus den Waldhöhen tiefer landeinwärts daherrinnender Bach sich nach der Niederung hinunterschlängelt. Es ist ein langgestreckter, einstöckiger Backsteinziegelbau von sandfarbigem Anstrich, im Charakter der Landschaft und keineswegs von hohem Alter, wahrscheinlich erst in der Biedermeierzeit aufgeführt.

    Nur wenige Wegstunden entfernt wuchs aus dem Schutt der zu Tale schießenden Bergbäche und aus dem Schlamm des mündungsnahen großen Stromes eine stolze, um sich greifende See- und Handelsstadt empor, versah sich mit rüstigen Wällen, Mauern, Bastionen und machte sich Land und Leute vor ihren Toren dienst- und zinspflichtig. Danziger Bürger- und Patriziergeschlechter drangen tief in das pommerellische Hinterland, bauten sich von ihren schnell wachsenden Handelsgewinnen neue Landhäuser und Stammsitze oder kauften die alten, halb verfallenen des verschuldeten, heruntergekommenen Landadels. So war auch Barkoschin in den Besitz Danziger Patrizier gelangt.

    Seit dem Anfang des vorigen Jahrhunderts hatte es die Familie Lewerenz inne. Das Haus Daniel Lewerenz und Söhne war in Danzig um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts gegründet worden, aber verschiedene seiner Vorfahren waren bereits viel früher urkundlich nachweisbar. Es hatte seinen Wohlstand mit dem landesüblichen Holz- und Getreidehandel begründet und hatte sich bis in unsere Tage dieses als unerschütterlich geltende Fundament erhalten. Etwa um 1800, wie gesagt, hatten es besonders die Frauen des Hauses Lewerenz für unerläßlich gehalten, Landbesitz zu erwerben, um der patrizischen Stellung der Familie durch die Inhaberschaft eines Rittergutes auch nach außen hin den gebührenden Glanz zu verleihen. So war Barkoschin an die Lewerenz gelangt. Es wurde Brauch in der Familie, daß Barkoschin den jüngeren Söhnen des Hauses zur Nutznießung diente, ansonsten aber Familienbesitz blieb. Da es ähnlich so auch mit der Firma selbst gehalten wurde und jeweils der Älteste nur dem Namen nach der Chef des Hauses, für die Führung der Geschäfte aber allen übrigen verantwortlich war, so konnte dieser Betrieb als eine Art von Familienaktiengesellschaft gelten, wie sie ja öfter in alten Häusern vorkommen.

    Erschwernisse und Zwistigkeiten konnten dabei unter den oft sehr verschiedenartigen Charakteren nicht ausbleiben. Das Ende war, daß man vor etwa vierzig Jahren diese Art von Familiengemeinschaft aufgehoben und die entfernteren Verwandten auf gütlichem Wege abgefunden hatte. Es traf sich dabei günstig, daß die Hauptlinie des Hauses Lewerenz, das Los aller alten Geschlechter teilend, nur noch auf wenigen Augen stand. Theodor Lewerenz, der damalige Chef des Hauses, traf die letztwillige Verfügung, daß von seinen beiden Söhnen Benno, der ältere, das altberühmte Handelshaus weiterführen, dagegen Waldemar, der jüngere, das Rittergut Barkoschin überkommen solle, um mit dessen Erträgnissen die für die jüngeren Söhne selbstverständliche Juristenlaufbahn einzuschlagen.

    Benno war nach den üblichen Lehr- und Wanderjahren, vor allem in England und Übersee, als Teilhaber in das väterliche Handelshaus eingetreten und hatte dem schon früh kränkelnden Vater die Hauptlast des Geschäftes abgenommen. Hier schien also die Rechnung des alten Herrn — er war es schon mit fünfzig Jahren — bis auf die letzte Dezimalstelle zu stimmen. Das eigentliche Sorgenkind der Eltern, dann — nach dem frühzeitigen Tode der Mutter — des Vaters allein, war Waldemar gewesen. Nicht etwa, daß es ihm auf dem Gymnasium an Begabung oder an Fleiß gefehlt hätte; aber schon damals hatten die Lehrer des Knaben einen nicht unbedenklichen Hang zur Träumerei in ihm entdeckt.

    Studienjahre an verschiedenen Universitäten, die entscheidenden in München und Berlin, waren gefolgt. Der junge Jurist hatte neben den vorgeschriebenen Kollegs sich viel mit Philosophie, Ästhetik, Kunst- und Literaturgeschichte abgegeben, hatte die kleinen und die großen, die Zwischen- und die Endprüfungen glücklich und über dem Durchschnitt bestanden; sonach wäre für eine verheißungsvolle Beamtenlaufbahn alles aufs beste angelegt gewesen. Aber auch hier wieder hatten aufmerksame Beobachter unter seinen juristischen Lehrern oder Vorgesetzten dem angehenden Referendar, späteren Assessor eine gewisse Gleichgültigkeit gegen die juristischen Grundbegriffe schon vom Gesicht abgelesen. Der übermittelgroße, schlanke, junge Mensch mit dem steinfarbenen, graublonden Haar schien stets ein bißchen abwesend, stets ein bißchen zu sehr mit sich selbst beschäftigt zu sein, wie jemand, der sich immerfort um seine eigene Achse dreht und von den Dingen der Außenwelt eigentlich nichts wahrzunehmen scheint. Wie er dann doch zwischen all den juristischen Klippen hindurch in den Hafen des glücklich bestandenen Staatsexamens gelangt war und auch oft genug Proben einer scharfen Beobachtungsgabe in praktischen Fragen ablegte, dies war das Überraschende für alle, die mit Waldemar Lewerenz beruflich oder freundschaftlich zu tun gehabt hatten.

    Wieder wurden so manche abträgliche Prophezeiungen über ihn zuschanden, als er nach dem notwendigen Vorbereitungsdienst in das Auswärtige Amt berufen und einer Überseeabteilung zugewiesen wurde. Man hatte damit einem besonderen Ansuchen von Lewerenz stattgegeben. Auch in ihm, dem jüngsten Sprossen der alten Kaufmanns- und Seefahrerfamilie, meldete sich die durch Jahrhunderte überkommene Unruhe des Blutes. Eine nie erblickte und doch der heimlichen Sehnsucht wohlvertraute Ferne lockte mit Gefahr und Abenteuer, mit leuchtenderen Farben, mit heißeren Augen, mit einer wohltätigeren Sonne.

    Vielleicht lag hier auch der tiefste, Lewerenz selbst kaum bewußte Grund, warum seine Ehe mit der schönen Sabine Ortland nicht hatte von Bestand sein können. Es war eigentlich eine Liebesheirat gewesen. Lewerenz hatte sie bald nach seinem Eintritt in den Staatsdienst geschlossen, nicht gerade gegen den ausdrücklichen Willen seines Vaters und seiner Familie, aber auch nicht zu deren besonderer Zufriedenheit. Sabine Ortland stammte aus kleinstädtischen Verhältnissen. Ihre Vorfahren waren ehrsame Handwerker und Ackerbürger gewesen, nicht ohne einen gewissen Wohlstand, der ihrem Vater erlaubt hatte, seine Tochter früh nach Berlin auf die Schule zu schicken. Sie hatte bei Verwandten gewohnt, denen sie eine kleine Pension bezahlte. Auch als sie erwachsen war, hatten die Mittel gerade hingereicht, ihr eine bescheidene Unabhängigkeit zu sichern.

    Sie war mit ihren großen, dunkelbraunen Augen, deren rätselvoller Schimmer aus dem mystischen Urgrund der Seele zu kommen schien, mit ihrem weinrot-kastanienbraunen Haar und mit den zarten Farben ihres weichen, ovalen Gesichts ein auffallend hübsches Mädchen, das sich vielleicht einmal zur Schönheit entfalten würde. Aber Schönheit ist nicht nur eine Gnade und ein Geschenk. Schönheit kann auch oft genug zum Verhängnis werden. Schon als Sabine siebzehn Jahre alt war, liefen ihr die Männer auf der Straße nach. Sie war, trotz ihrer Berliner Schulerziehung, in gewissen Dingen noch immer ein naives Kind der Kleinstadt geblieben, nahm alles, was man ihr sagte oder vorhielt, blutig ernst, war durch jedes auch nur andeutende Wort in tiefster Seele verwundet und verschloß sich immer mehr in ihren inneren Bezirk, je weniger sie sich von den anderen verstanden glaubte.

    Natürlich waren auch ernste Bewerber des schönen Mädchens da. Sie wollte von keinem etwas wissen, schlug alle. Anträge aus und zog sich nun wiederum den Unwillen der ewig nörgelnden Verwandten zu.

    Sabine mußte ihr Herz sprechen lassen. Sie sagte es sich nicht mit klaren Worten, aber sie war ganz von dem Gefühl durchdrungen, daß es kein anderes Gesetz für sie geben dürfe. In einer Zeit, wo die meisten jungen Mädchen ihrer Altersklasse, Freundinnen und frühere Mitschülerinnen, entweder sehr ungebundene oder sehr praktische Vorstellungen über Liebe, Ehe, Verhältnisse an den Tag legten, huldigte Sabine einer Gefühlsromantik, die ihrer ganzen Umgebung unbegreiflich erschien. Zum wenigsten war sie ein Luxus, der nicht geduldet werden dürfe. Es war eine harte und dunkle Zeit für Sabine, voll Nadelstichen, Demütigungen, Schikanen. Aber Sabine ertrug es, weil sie es nicht anders wußte, als daß sie sich die Reinheit des Herzens bewahren müsse.

    Und dann war eines Tages Waldemar Lewerenz in ihr Leben getreten. Eine zufällige Begegnung irgendwo in der märchenhaften Stadt, die wie eine ungeheure Lotterietrommel die Lose von Millionen in sich beherbergte und sie mit jeder Umdrehung ihres kunstvollen Mechanismus wahllos, millionenfach durcheinanderwirbelte. Sabine liebte zum erstenmal. Ihr war, als sei plötzlich die Welt um sie herum in Flammen aufgegangen und sie befinde sich mit dem Geliebten allein in der Schöpfung, das erste und zugleich das letzte Menschenpaar. Sie konnte nicht begreifen, daß sie schon vordem gelebt hatte und daß sie nach diesem, wenn es denn einmal enden müsse, noch werde leben können. Sie hatte bis zu ihrem neunzehnten Jahre nichts von ihrem Herzen gewußt. Jetzt war nichts mehr in ihr als das Gefühl dieses Herzens, diese einzige und einmalige Liebe, an die sie sich ganz und für immer verschenken wollte. Schon in der ersten Minute jener Begegnung mit Lewerenz hatte der Blitzstrahl des Wunders ihre Seele getroffen. Alle Herbheit, Sprödigkeit, Eigenwilligkeit ihres Wesens war mit einem Schlage in seinem Feuer dahingeschmolzen. Durch und durch verwandelt, als ein ganz neuer, sich selbst wesensfremder und dennoch — hier eben war das unbegreifliche Wunder — mit diesem fremden, neuen Wesen bereits völlig eins gewordener Mensch verließ Sabine den Ort ihres ersten zufälligen Zusammentreffens, eine kleine Vorstadtkonditorei.

    Vielleicht war es doch nicht so ganz zufällig, daß Lewerenz den Platz neben dem schönen Mädchen gefunden hatte, nachdem ihn die Unruhe seines Blutes wieder einmal, wie so oft, von der Arbeit fortgetrieben und durch halb Berlin nach dem Rosentaler Viertel versprengt hatte. Mehr Frauenkenner als Frauenliebling, der er war, hatte er, als seine Augen über das schwatzende und gaffende Sonntagspublikum der Konditorei hinglitten, sofort in der Fülle gleichgültiger Alltagsgesichter das eine und einzige Menschenantlitz herausgefunden, um dessentwillen es sich lohnte, von der Arbeit aufgesprungen und wie besinnungslos durch die Straßen gerannt zu sein. Auch auf ihn war mit dem ersten Anblick Sabines eine Feuergarbe jenes Blitzstrahls niedergefahren und hatte sein Innerstes um und um gewühlt.

    So war es gekommen. Noch ehe sie das erste Wort zusammen sprachen, hatten die beiden sich ineinander verliebt. Wo hörte hier der Zufall auf? Wo fing das Walten des persönlichen Geschicks an? Lewerenz legte sich nachmals oft diese Frage vor, aber er konnte nie zu Ende mit ihr kommen, ein so gewiegter Psychologe und Selbstbeobachter er auch war.

    Die beiden Menschen waren ein Paar geworden; nicht vor dem Gesetz, aber vor ihrem Gewissen. Lewerenz gehörte nicht zu jener weitverbreiteten Art von Männern, die in der Hingabe einer Frau so etwas wie einen Makel erblicken. Aber er wußte nur zu gut, wie man in seinen Kreisen über derartige Beziehungen dachte. Seiner ganzen Natur nach neigte er mehr zur Anschauung und Betrachtung als zum aktiven Handeln. Aber er war nicht gesonnen, das Mädchen, das er liebte und das sich ihm mit aller Reinheit seiner Seele geschenkt hatte, vor den Menschen herabwürdigen und zum Opfer der öffentlichen Klatschsucht werden zu lassen. Sabine wäre es gleich gewesen, wie man über sie urteilte. Sie überließ sich ganz nur ihrem entfesselten Gefühl und zweifelte nicht, daß es sie schon den richtigen oder wenigstens den notwendigen Weg geleiten werde, mochte er auch an Abgründen entlang führen oder gar darin enden. Die Stimme des geliebten Mannes gab natürlich den Ausschlag für sie: es sollte, wenn möglich, niemand von ihren Beziehungen erfahren. Erstes Gebot war, sich nicht zusammen in der Öffentlichkeit sehen zu lassen. In der Tat gelang es Lewerenz, das Verhältnis mehr als zwei Jahre geheimzuhalten.

    Aber das Leben steht nicht still. Gerüchte und Klatschereien tauchten auf. Man wurde eben doch beobachtet. Das tausendköpfige Ungeheuer der öffentlichen Meinung hatte seine Augen überall, selbst da, wo man am sichersten vor ihm zu sein glaubte. Überraschend plötzlich kam der Moment, wo klare Entscheidungen fallen mußten: Heirat oder Trennung. Denn die dritte Möglichkeit, das Verhältnis nun in aller Öffentlichkeit fortzusetzen, glaubte Lewerenz vor der Geliebten nicht verantworten zu können. Er entschloß sich schnell, noch ehe die Geschichtenträger, vor allem die Herren Kollegen im Amt, richtig Zeit gefunden hatten, ans Werk zu gehen. Eines Vormittags standen Lewerenz und Sabine vor dem Standesbeamten in der Genthiner Straße.

    Hätte man nicht überzeugt sein müssen, daß ein Liebesbund, auf solche Weise begonnen und vollendet, alle Gewähr einer glücklichen Dauer in sich tragen werde? Und doch sollte der Verlauf der Entwicklung sich ganz anders gestalten. Die Gründe dafür waren von allem Anfang an im Charakter der beiden Menschen vorgezeichnet gewesen. Die äußeren Umstände hatten nur bisher ihre Entfaltung verhindert oder doch nicht begünstigt.

    Erst jetzt im gleichförmigen Nebeneinander der gemeinsamen Häuslichkeit, unter dem eintönigen Tropfenfall der aufeinanderfolgenden Tage wurde es anders. Lewerenz und Sabine begannen sich zu erkennen, wie einst den ersten Menschen gegenseitig die Augen über sich aufgegangen waren, als sie von der verbotenen Frucht genossen hatten. Sabine war eifersüchtig, und Lewerenz gab ihr auch öfters Veranlassung dazu, so sehr er es ihr gegenüber und schließlich auch vor sich selbst bestritt.

    Von jeher hatte unter den Urelementen seines Wesens die Phantasie die Vormacht gehabt. Sie hatte ihm ferne Länder, fremde Völker, vergangene Kulturen, weitentlegene Zeitalter in einem unwirklichen Zauberlicht erscheinen lassen, vor dem alle Gegenwart verblaßte, jeder augenblickliche Besitz oder Genuß seinen Reiz verlor. Wo du nicht bist, dort ist das Glück! Dieser Sinnspruch, den er irgendwann einmal gelesen hatte — es war sehr lange her —, hatte ihm nie aus dem Sinn kommen wollen. War es nicht ähnlich so auch mit seinem Verhältnis zur Frau, richtiger vielleicht zu den Frauen? Zur Vielheit der Frauen, die dann doch wieder eine Einheit war? Also zum Frauengeschlecht überhaupt?

    Sabine verstand ihren Mann immer weniger. In jedem Wort, jedem Blick, die er einer anderen schenkte, empfand sie eine Untreue gegen sich selbst, einen Verrat am Heiligsten, was sie hatte: an ihrer Liebe zu diesem Manne, dieser einen einzigen, großen, alles erfüllenden Liebe. Sie war ihr Leben, ihr Schicksal geworden, ihr Anfang und ihr Ende. Vorher war nichts gewesen, und nachher konnte nichts mehr kommen, dies war von Gott so bestimmt. Und jetzt war er es, dieser selbe, trotz allem noch immer blindlings geliebte Mann, der verklärte Held ihrer Mädchenträume — er war es, der sie verriet, der alles in ihr zertrat und den sie fortan hassen mußte, wie sie ihn vordem geliebt hatte. Und dies war kein leeres Wort für sie. Sabine konnte von ganzer Seele hassen, wie sie von ganzer Seele liebte. Eigentlich war es nur die Kehrseite eines und desselben Gefühls. Eine Stunde kam, in der Sabine dies mit Schrecken erkannte.

    Wieder wurde es mit ihr, von außen gesehen, wie in den Tagen ihrer Mädchenzeit, ehe jener Blitz aus der Hand des Ewigen niedergezuckt war und ihre Seele um und um geschmolzen hatte. Sie erschien im letzten Abschnitt dieser Periode den Menschen, die sie sahen, dem Kreise, in dem sie verkehrte, nicht zuletzt auch Lewerenz selbst oft fremd und unbegreiflich. Und je bestimmter ihr selbst diese Meinung der anderen über sie zum Bewußtsein kam, desto mehr bestärkte und verhärtete sich ihr Trotz gegen jene anderen und vor allem gegen den gehaßten und dennoch ewig geliebten Mann. Niemand wußte, wie ihr zumute war. Niemand drang bis zu den Toren vor, die das Geheimnis ihrer Seele hüteten. Gut! So wollte sie es ihr Leben lang für sich behalten, und wenn sie die Zähne zusammenbeißen mußte! Sie war in diesen Jahren eine schöne Frau geworden, aber es war die Unnahbarkeit einer Amazone um sie, die die Männer gleichzeitig anzog und abschreckte.

    Dieser Zustand der Schwebe, des Schweigens, der immer zunehmenden Zurückhaltung und Entfremdung zwischen Waldemar und Sabine währte drei Jahre. Es war jene üppigste deutsche Zeit, nicht lange vor dem großen Kriege. Alle Welt wetteiferte in Wohlleben und Luxus miteinander. Die im Reichtum schwimmende Hochfinanz ging natürlich voran. War es nicht selbstverständlich, daß die hohen Beamtenkreise dem Beispiel folgten? Den Angehörigen des Auswärtigen Amtes oblag es schon von Berufs wegen, größere gesellschaftliche Aufwendungen zu machen.

    Auch im Hause Lewerenz ging es oft lebhaft und festlich zu. Man pflegte, wie es die Umstände mit sich brachten, weniger den kleineren Familienverkehr als den großen gesellschaftlichen Umgang von ausgesprochen repräsentativem Charakter. Der Frack und die große Abendtoilette neben der selbstverständlich herrschenden Uniform und der flimmernden Ordenspracht der exotischen Diplomatie verliehen diesen Abendeinladungen und Bällen die äußerlich bestimmende Note.

    Lewerenz galt als ein Mann von künstlerischem Geschmack und starken literarischen Neigungen, das wußten seine Kollegen und Vorgesetzten schon lange. Worüber man sich wunderte, das waren die gesellschaftlichen Talente, die Sabine entfaltete. Es war ja doch schon ein heimliches Geflüster über die Beziehungen der beiden gewesen. Sabines Herkunft aus kleinen, bürgerlichen Verhältnissen stand ohnehin fest, wurde von ihr und Lewerenz auch nicht einmal verborgen gehalten. Als nun Sabine sich schnell in ihre Rolle hineinfand und mit großer Sicherheit in diesem maßlos skeptischen und ironischen Kreise sich bewegte, war zuerst des Kopfschüttelns und Nichtbegreifenwollens kein Ende. Aber Sabines gute Haltung, ihr sicheres Gefühl, ihr untrüglicher Takt halfen ihr über diese erste und schwerste Zeit des Klatsches und der Nachrede hinweg. Den Sieg entschied, wie natürlich, ihre Schönheit, ihr Reiz als Frau. Die spöttischen Zungen der Männer verstummten schnell. Etwas länger dauerte es bei den Damen. Aber auch sie wurden allmählich still. Der Ehebund zwischen Waldemar und Sabine Lewerenz war zu einer feststehenden, nicht mehr abzuleugnenden Tatsache geworden.

    Und doch: um dieselbe Zeit, wo sich die Anerkennung der Lewerenzschen Liebesheirat in der Gesellschaft vollzogen hatte, war die Ehe der beiden Menschen innerlich beinahe völlig zerstört. Vor der fernerstehenden Öffentlichkeit galt ihre Ehe noch lange als ein mustergültiges Beispiel. Die Freunde des Hauses blickten freilich tiefer. Sie sahen, wie Waldemar und Sabine sich immer mehr aus dem Wege gingen, aneinander vorbeisprachen, jeder sein eigenes Leben lebte.

    Und eines Tages war es zu Ende. Von beiden längst geahnt, oft ersehnt und dann doch gefürchtet kam der Bruch, wie meistens in solchen Fällen, von einer unerwarteten Seite und ganz überraschend. Lewerenz hatte seine Ernennung zum Legationsrat bei der Gesandtschaft in Tokio erhalten. Man war lange auf so etwas vorbereitet gewesen, es war eine Etappe in der vorgesehenen Laufbahn. Dann hatte sich die Versetzung immer wieder hinausgezögert; als jetzt das amtliche Schreiben ins Haus kam, war es beinahe wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Einer von Lewerenz’ Freunden machte daraufhin im größeren Kreise zu dem neuen Legationsrat Bemerkungen über den Liebesmarkt in Yoshiwara, den kennenzulernen sich ihm nun hinreichende Gelegenheit bieten werde, und Lewerenz gab eine seiner ironischen Antworten, die man wohl auch als Zustimmung deuten konnte. Bereits am nächsten Tage wußte es Sabine. Ihr Entschluß, mit dem sie schon lange gerungen hatte, stand von diesem Augenblick an unerschütterlich fest. Ihr Mann sollte allein nach Japan gehen. Sie wollte ihn freigeben, wollte ihn unbeschwert, ledig jeder Fessel seine Straße in die Welt ziehen lassen: so wie er es sich längst, davon war sie überzeugt und ließ sich nicht davon abbringen, ja, wie er es sich längst ersehnt und erträumt hatte.

    Die entscheidende Stunde kam schnell. Sabine sagte Waldemar alles, was sie auf dem Herzen hatte. Aber es erleichterte sie nicht. Es verhärtete ihren Trotz nur um so mehr. Ja, wäre nur ein einziges liebendes oder um Verzeihung bittendes Wort aus seinem Munde gekommen! Vielleicht wäre sie ihm noch jetzt um den Hals gefallen, und alles wäre vergessen gewesen. Aber nichts dergleichen geschah. Nur in seinen Augen hatte etwas gestanden ... War es Liebe, Reue? War es Bitterkeit, Trotz? Sabine bedachte nicht, ja sie wollte nicht einmal bedenken, daß eben das, was ihr selbst den Mund verschloß, auch ihm, dem Geliebten, Angefeindeten, nun für immer Verlorenen, die Lippen versiegelte. Diese beiden Menschen, die in zwei ganz verschiedenen Sprachen zueinander redeten, vielmehr in ihnen schwiegen, hätten nur auf ein Wörtchen der einen, urewigen Elementarsprache des Herzens zu kommen brauchen, und alles hätte noch Verstehen und Harmonie werden können. Aber vielleicht müssen Lebensläufe, wie Flüsse und Ströme auf diesem Stern, einander noch so nahe, doch immer wieder sich voneinander entfernen, um schließlich erst in dem ewigen Meer sich ganz und für immer zu vereinigen.

    Waldemar und Sabine kamen überein, fortan getrennt voneinander leben zu wollen. Man wünschte keine Scheidung. Man wollte nur eine Trennung, wozu ja die Verhältnisse die einfachste und selbstverständlichste Handhabe boten. Lewerenz würde in Japan sein oder wohin sonst ihn der Wirbelwind des Außendienstes verschlüge. Sabine wollte nach Barkoschin gehen, dem Stammgut ihres Mannes, wo sie die glücklichsten Wochen ihrer jungen Ehe mit ihm verlebt hatte. Waldemars alter Oheim Julius, ein Inventarstück des Hauses Lewerenz, waltete dort an Stelle des fast immer abwesenden Gutsherrn als Administrator und wirtschaftete mit seiner vierzigjährigen Erfahrung das Menschenmögliche aus dem zwar großen, aber doch von der Natur nur karg bedachten Besitz heraus.

    Lewerenz reiste nach Japan ab. Der Abschied zwischen den beiden Ehegatten war kühl und förmlich. Es war zuviel Bitternis in dieser Stunde, als daß es anders hätte sein können. Der hochherrschaftliche Haushalt in der Regentenstraße, wo sie tief in Gärten gewohnt hatten, wurde aufgelöst. Sabine ging nach Barkoschin. Trotzig, verschlossen, menschenfeindlich, wie sie in der letzten Zeit geworden war, sehnte sie sich nach Einsamkeit, nach Stille, Selbstbesinnung und vermied, so gut es ging, den Verkehr mit den Nachbarn.

    Nur mit Onkel Julius verstand sie sich ausgezeichnet. Es war schon damals, als sie in Barkoschin ihre Flitterwochen verbracht hatte, eine Freundschaft auf den ersten Blick gewesen. Bei der sehr kritischen Veranlagung des scharfzüngigen, alten Herrn konnte sich Sabine etwas auf diesen Erfolg einbilden. Julius Lewerenz war eins von jenen jüngeren Mitgliedern des Hauses

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