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Im Kreis geschrieben
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eBook339 Seiten4 Stunden

Im Kreis geschrieben

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Über dieses E-Book

Eine Sammlung meisterlicher Erzählungen und Kurzgeschichten von Bruno Moebius, die bisher in unterschiedlichen Büchern veröffentlicht waren ein "Best-of" aus dreißig Jahren des Schreibens. Heiteres ist ebenso vertreten wie Besinnliches, Fantastisches ebenso wie real Erlebtes. Ein Muss für Freunde der abwechslungsreichen literarischen Unterhaltung
SpracheDeutsch
HerausgeberMediagency
Erscheinungsdatum29. Mai 2019
ISBN9783966612999
Im Kreis geschrieben

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    Buchvorschau

    Im Kreis geschrieben - Bruno Moebius

    Im Kreis geschrieben

    Bruno Moebius

    Impressum

    Texte: Bruno Moebius

    Layout: Bruno Moebius

    Cover Design: Bruno Moebius

    ISBN: 9783966612999

    © 2019, Mediagency

    mediagency@gmx.net

    Moerike

    »Sag, Hilde: Sollen wir uns morgen diesen Moebius anhören?«

    »Moebius? Wer ist das?«

    »Na, der da, der auf dem Plakat.«

    Die mit ›Hilde‹ Angeredete dreht sich ein wenig, um das Plakat, das halb hinter ihr hängt, sehen zu können.

    »Lesung«, sagt sie dann. »Was liest der da? Fried, Busch, Goethe und eigene Texte – na, das kann ja was sein …«

    »Wer weiß – ich kenne ihn zwar nicht, aber die täten ihn sicher nicht hier auftreten lassen, wenn er nicht gut wäre.«

    »Meinst du? Der Kaffee ist auch nicht gut, und sie servieren ihn trotzdem.«

    Beide lachen.

    »Mit dem Kaffee haben Sie nicht ganz unrecht«, mische ich mich vom Nebentisch her ein. »Aber den Moebius sollten sie sich nicht entgehen lassen.«

    »Kennen Sie ihn?«, fragt Hilde.

    »Kennen wäre zu viel gesagt, aber ich habe schon von ihm gehört – er soll wirklich gut sein.«

    »Aber wie er aussieht … diese langen Haare … und unrasiert ist er auch. Man sollte annehmen, dass sich jemand rasiert, ehe er sich für ein Plakat fotografieren lässt«, sagt die, deren Name noch nicht gefallen ist.

    »Was du immer herumnörgelst, Gusti. Wichtiger ist doch, dass er gut vorträgt – und dass er eine schöne Stimme hat. So wie der junge Mann da.«

    »Und wenn er auch so gepflegt aussähe wie er«, beharrt Gusti.

    »Nun, ich muss gehen«, sage ich, »vielleicht bis morgen. Ich werde jedenfalls hier sein.«

    »Auf Wiedersehen, Herr … wie war doch gleich Ihr Name?

    »Moe … ähm … Moerike.«

    Wozu die Pferde scheu machen. In spätestens einer halben Stunde würden sich die alten Mädchen ohnehin nicht mehr an den unrasierten Moebius und den gepflegten jungen Moerike erinnern.

    »Mölny – der Name kommt mir irgendwie bekannt vor«, höre ich im Weggehen.

    »Ja, mir auch … hatten die nicht einen Gemüsestand hier auf dem Markt?«

    Wie oft habe ich es mir schon geschworen – doch ab nun werde ich mich eisern daran halten – und meinen Mund halten …

    Spooky

    Wieder einmal sitzt der Autor vor einem leeren Blatt Papier und lutscht an der Füllfeder – am hinteren Ende, versteht sich! –, als könne er eine Geschichte aus ihr heraussaugen.

    Manche Schreiberlinge sind mit der Gewöhnung an einen erheblichen Geräuschpegel, meist durch Hintergrundmusik oder den Fernsehton verursacht, aufgewachsen. Sie können sich nur konzentrieren, wenn sie mitten im Lärm hocken. Andere wiederum lassen sich im Biergarten die Sonne ins Gesicht scheinen und sich vom Klirren der Gläser und dem von gelegentlichem Gelächter unterbrochenen Stimmengemurmel um sie herum inspirieren.

    Der tragische Held dieser Geschichte braucht Ruhe. Er hat schon so vieles gesehen, gehört und erlebt, dass er voll von Geschichten ist, so voll, dass er dann und wann zu platzen droht, wenn er nicht die eine oder andere herauslässt.

    Deshalb schreibt er.

    Wenn er erst einmal weiß, was er schreiben will.

    Friseure, Barmänner, Taxifahrer und Fußpflegerinnen hören tagtäglich Geschichten, die ihnen die Kundinnen und Kunden ungebeten auftischen. Es sprudelt nur so aus ihnen heraus, von der ersten bis zur letzten Minute des trauten Zusammenseins, als wäre die Hirn-Mund-Schranke geborsten.

    Der Autor, nennen wir ihn doch der Einfachheit halber Moebius, sitzt hingegen eine halbe Ewigkeit da und aus der Feder kommt weder vorne noch hinten etwas heraus.

    Hat er seinen Beruf verfehlt?

    Sollten nicht eher diejenigen schreiben, die im Frisiersalon oder während einer Taxifahrt so viel zu erzählen wissen?

    ›Darüber könnte ich ein Buch schreiben‹ ist eine gängige Redensart derer, die in ihrem Drang, das Hirn völlig zu entleeren, drauflosplappern, als hätte die Menschheit genau darauf gewartet. Sie haben aber garantiert noch keine einzige Zeile davon geschrieben.

    Wahrscheinlich liegt es daran, dass sie kein Blatt Papier vor sich liegen haben, wenn es sie überkommt.

    Moebius mangelt es nicht an Werkzeug und Material.

    Ihm fehlt es an der nötigen Ruhe.

    Das Rattern des Rasenmähers vor dem Fenster ist längst verstummt, die an den Wochenenden plärrenden oder kreischenden Kinder treiben ihr Unwesen im Kindergarten oder in der Schule.

    Moebius starrt auf das weiße Rechteck vor sich, das ihn lockt und gleichermaßen zurückweist.

    Was ist es bloß, das ihn immer wieder aus der Konzentration reißt, ihn keinen klaren Gedanken fassen lässt?

    »Na, wie kommst du voran, mein Schatz?«

    Frau Moebius, die sich schon seit geraumer Zeit auf dem kleinen Balkon der Wohnung den ersten warmen Strahlen der Frühlingssonne hingegeben hat, steckt den Kopf ins Zimmer.

    »Ich weiß nicht recht. Ich finde keinen Anfang. Ich kann mich nicht konzentrieren. Diese Geräusche …«

    »Es ist doch gar nichts zu hören. Ganz friedlich ist es hier draußen.«

    »Draußen vielleicht, aber hier drinnen … kaum denke ich, ja, so kann es gehen, kommt irgend so ein Knistern, ein Blubbern …«

    »Bist du sicher, dass es nicht in deinem Kopf knistert?«

    Moebius muss wider Willen lachen.

    Der Humor seiner Frau ist ansteckend. Glücklicherweise.

    »Ich bin sicher, dass es aus der Küche kommt. Es hört sich an wie ein tropfender Wasserhahn, aber ganz unregelmäßig. Und manchmal poltert es.«

    Jetzt sieht sie doch ein wenig besorgt drein.

    »Das will ich auch hören.«

    Sie tritt ins Zimmer und setzt sich zu ihrem Ehemann.

    Umgehend setzt der altbekannte Vorführeffekt ein. Es ist mucksmäuschenstill. Kein Knistern, kein Blubbern, kein Poltern.

    »Also, ich höre absolut nichts«, stellt die Autorengattin nach einer Weile fest. Er mag nicht, wie sie ihn dabei ansieht. Sie muss es nicht aussprechen. Er weiß auch so, dass sie jetzt die Störgeräusche tatsächlich in seinem Kopf vermutet.

    »Ich höre auch nichts«, gibt er zu.

    »Nun, dann kannst du es ja noch einmal versuchen. Ich werde uns einstweilen einen leckeren Salat machen.«

    Sie ist die fabelhafteste Köchin, aber auch sie kann nicht geräuschlos Zwiebel schneiden, Knoblauch hacken, Blattsalat und Tomaten waschen und Eier kochen, also legt er das jungfräuliche Blatt Papier und die Füllfeder zur Seite und schaltet den Fernsehapparat an.

    Der Salat ist schnell zubereitet und sie langen kräftig zu, akustisch untermalt von einem Werbeblock mitten in ihrer Lieblingsserie.

    »Hörst du das? Was ist das?«, fragt sie plötzlich.

    »Was denn?«

    »Nun, dieses Geräusch. In der Küche, glaube ich.«

    »Ich höre nichts. Nur den Fernsehton.«

    Sie essen weiter und jetzt läuft auch wieder die Serie. Es wird gekämpft, geschossen, dazu dröhnt die Filmmusik, die niemand braucht, die aber jedem aufgezwungen wird.

    »Da ist es wieder!«

    Das feine Gehör der Autorengattin ist unbestechlich.

    Moebius schaltet das Fernsehgerät stumm.

    Blubb. Blubb. Knister …

    »Ja, jetzt höre ich es auch. Genauso war das vorhin auch.«

    Beide stehen auf und tasten sich vorsichtig zur Küche hin. Die Geräusche werden lauter.

    »Der Kühlschrank!«

    »Himmel! Der ist doch nagelneu. Gestern erst geliefert. Der kann doch nicht kaputt sein.«

    »Vielleicht ein Transportschaden. Oder er steht nicht im Lot.«

    Frau Moebius kennt sich aus mit so etwas …

    »Ich sehe mal in der Bedienungsanleitung nach. Vielleicht haben wir irgendetwas falsch gemacht.«

    Herr Moebius liebt Bedienungsanleitungen. Sie haben ihn schon mehrmals aus höchster Not errettet.

    Zwei mitteldicke Hefte in vermutlich allen Sprachen der Welt, nur nicht in Deutsch …

    Halt! Da ist noch eine Beilage …

    Wer schreiben kann, kann meist auch lesen, und Moebius wird schnell fündig.

    »Geräusche entstehen durch das Kühlmittel und sind völlig normal«, steht da. Mehr nicht.

    Der alte Kühlschrank, der kürzlich verstorben ist, hat sich mucksmäuschenstill verhalten, außer, wenn der Kompressor lief. Der Neue hat einen fast unhörbaren Kompressor, doch wenn der nicht läuft, blubbert und knistert das Kühlmittel lauter als jeder Kompressor jedes alten Kühlschranks.

    »Dann werden wir uns eben daran gewöhnen müssen. Immerhin haben wir jetzt einen Namen für ihn. Wir nennen ihn ›Spooky‹.«

    Frau Moebius hat Sinn für das Praktische.

    Der Autor Moebius auch.

    Er wird eben auf dem kleinen Balkon schreiben, wo man den Kühlschrank nicht hört. Allerdings nur, wenn die Kinder der Nachbarn im Kindergarten oder in der Schule weilen.

    Während der Schulferien kann er sich notfalls im Schlafzimmer einschließen …

    Der Tag des Sonnenschirms

    Man kennt das: Der Winter neigt sich endlich dem Ende zu, wir sind voll der Vorfreude auf den Frühling mit seinen Düften, Blüten, dem milden Sonnenschein und den Gefühlen, die er uns beschert – und dann knallt stattdessen der Sommer brutal in unsere verschlafene Ecke am Stadtrand.

    »Wozu haben wir eigentlich einen hübschen Balkon, wenn wir nie draußen sitzen können, weil es entweder zu kalt oder zu heiß ist?«, fragte ich eines Morgens, als wir ebendort zum Frühstück saßen. Die Sonne würde erst nach neun Uhr diese Seite des Hauses erreichen, deshalb war es jetzt noch schattig und recht angenehm.

    »In der Sonne wird es viel zu heiß. Sogar jetzt im Mai«, antwortete meine Liebste und biss von ihrem Kuchen ab.

    »Ja, eben deshalb frage ich. Ich meine, wir sollten endlich einen Sonnenschirm kaufen.«

    »Und wo wollen wir den aufstellen? Es ist doch kein Platz hier. Der Balkon ist zu klein. Es passt doch gerade noch der kleine Tisch mit den zwei Stühlchen her … und natürlich George.«

    Letzterer war unser Blauer Kartoffelstrauch, Enzianbaum, oder wie das Ding hieß. Er stand in einer Ecke und wucherte beachtlich. Er mochte offenbar die Sonne, die sommers täglich zehn Stunden lang versuchte, das blecherne Balkonsims einzuschmelzen.

    »Es muss doch möglich sein, einen Schirm anders zu befestigen als an einem tonnenschweren und platzraubenden Sockel«, sagte ich und begab mich ins Innere der Wohnung. Wozu gab es das Internet? Dort war doch wohl alles zu finden, was das Herz begehrte, und ich begehrte jetzt einen Sonnenschirm, und zwar heftig. Ich wurde schnell fündig, noch dazu auf der Website des Baumarkts, der kaum einen Steinwurf von unserer Behausung entfernt war.

    »Ich hab’s!«, frohlockte ich. »Es gibt solche Klammern oder Zwingen, mit denen man das Gestänge des Sonnenschirms am Sims festmachen könnte! Das würde uns keinen Platz rauben.«

    »Meinst du, dass das hält? Was, wenn Wind aufkommt? Erinnere dich an den Schirm mit dem mächtigen Betonsockel im Urlaub. Den hat es über die Treppe der Veranda hinuntergeweht.«

    »Das war ja auch ein Gewittersturm.«

    »Und bei uns hier gibt es keine Gewitter?«

    Meine Liebste sträubte sich heftig gegen die äußerst praktische Anschaffung, die ich im Sinn hatte. Warum, das war mir unerklärlich. Sie saß doch selbst gerne auf dem Balkon und floh jedes Mal, wenn die Sonne kam.

    »Wir spannen den Schirm ja nur auf, wenn wir draußen sitzen wollen. Bei Regen und Sturm sind wir doch nicht auf dem Balkon. Der Schirm wird dann selbstverständlich zusammengeklappt.«

    Es war mir offenbar gelungen, sie zu überzeugen, denn noch am selben Nachmittag suchten wir gemeinsam den Baumarkt auf. Ich brauchte eine Weile, um mich im reichhaltigen Angebot zurechtzufinden, doch dann hatten wir einen schön in einer Tragetasche verpackten Sonnenschirm und eine Halterung für das Balkonsims erstanden und machten uns auf den Heimweg.

    Zu Hause angekommen schlüpfte ich hastig aus Schuhen und Jeans. Ich konnte es kaum erwarten, die Schraubzwinge, denn etwas anderes war das nicht, zu montieren. Es war das reinste Kinderspiel. Meine Liebste beobachtete mein Treiben von ihrem Klappstühlchen aus. Ihr Blick schien mir ein wenig zweifelnd, doch das konnte mich nicht beeindrucken.

    »So! Fertig! Und jetzt stecken wir das Ding hier hinein!«

    »Meinst du, dass das halten wird? Sieht irgendwie wackelig aus.«

    Ich rüttelte ein wenig an der Zwinge. Sie bewegte sich keinen Millimeter.

    »Das hält!«

    Ich zog den Sonnenschirm aus der Tragetasche. Das Gestänge bestand aus zwei Teilen, deren einer am geschlossenen Ende eine Spitze aufwies.

    »Ah! Den kann man auch irgendwo in die Erde oder in Sand rammen. Sehr praktisch, falls wir in Urlaub fahren.«

    »In den Balkonboden können wir ihn jedenfalls nicht rammen«, sagte meine Liebste trocken.

    »Dazu habe ich ja die Halterung montiert!«

    Ich schob die Stange in die geöffnete Zwinge an der Seite der Aufhängung und drehte an der Flügelschraube, um die Stange festzuklemmen. Als das Gewinde an seinem Ende ankam, wusste ich, dass die Stange zu dünn war.

    »Das ist ärgerlich. Auf der Verpackung ist angegeben: ›Bis 20 Millimeter Durchmesser‹. Aber das Mindestmaß ist nicht ersichtlich. Zu dumm!«

    »Und was machen wir jetzt?«

    »Wir umwickeln die Stange, damit sie an der passenden Stelle dicker wird. Hast du irgendwo einen Lederstreifen oder einen alten Gürtel, den du nicht brauchst?«

    »Nein.«

    Ich vermeinte, ein schadenfrohes Lächeln um ihre Mundwinkel spielen zu sehen.

    «Ich hab’s! Klebeband!«

    Ich holte eine Rolle Isolierband und wickelte Lage um Lage um die Stange, bis mir der Umfang ausreichend gewachsen schien. Ja, jetzt konnte ich die Stange mit der Klammer festhalten und die Stellschraube war noch nicht ganz am Anschlag.

    Ich probierte, ob die Konstruktion wohl stabil sei, dann schob ich den zweiten Teil, die Stange, an der sich der eigentliche Schirm befand, in die untere, dickere hinein. Ja, die Höhe passte auch. In der tiefsten Position reichte das gesamte Gestänge bis eine Handbreit unter den Balkon über unserem. Ich spannte den Schirm auf, noch immer unter aufmerksamer Beobachtung meiner Liebsten.

    »Wie ausgemessen!«, frohlockte ich. Die Spannweite des Schirms erstreckte sich um Haaresbreite bis zu den Seitenwänden. Größer hätte der Schirm nicht sein dürfen …

    »Wie ausgemessen? Ich dachte, du hättest gemessen, bevor wir den Schirm kauften.«

    »Ja, das habe ich auch. Das war nur so eine Redensart, du weißt schon.«

    Ich hatte natürlich nicht gemessen gehabt. Dass der Schirm so vortrefflich passte, war reiner Zufall. Oder Glück. Oder dem Umstand zu verdanken, dass ich den mit dem kleinsten Durchmesser gewählt hatte.

    »Farblich passt er jedenfalls wundervoll zu meiner künstlerischen Ausgestaltung des Mauerwerks«, ließ sich meine Liebste zu einer bescheidenen Anerkennung meiner Leistung herab.

    »Ja, deshalb habe ich auch diese Farbe ausgesucht. Von drei möglichen …«

    Ich prüfte noch einmal die Stabilität der Befestigung. Mit dem doch recht schweren Schirm daran bewegte sich das Ganze ein paar Millimeter in alle Richtungen, aber bedenklich schien mir das nicht zu sein.

    »Sieh nur – man kann den Schirm auch neigen!«

    »Kann man das nicht bei jedem Schirm?«

    »Äh, vermutlich schon. Ich weiß nicht. Diesen jedenfalls kann man.«

    Ich setzte mich und betrachtete mein Werk in Ruhe. Ja, so hatte ich es mir vorgestellt. Jetzt würden wir im Schatten sitzen können, und schiene die Sonne noch so lange zu uns her.

    »Jetzt haben wir uns aber Kaffee und Kuchen verdient«, sagte die Liebste.

    »Gute Idee. Und ich räume einstweilen den Verpackungsmüll weg und wasche meine Hände.«

    Sie verschwand in der Küche, ich im Badezimmer.

    Man hält nicht für möglich, was sich auf dieser Welt in nur zwei Minuten verändern kann, doch den sprichwörtlichen Blitz aus heiterem Himmel gibt es wirklich. Es gab ihn auch, als ich aus dem Badezimmer wieder zurück auf den Balkon kam. Ein Knall folgte unmittelbar danach, und schon prasselte Regen auf den Sonnenschirm hernieder. Das Material würde doch wohl wasserfest sein, oder etwa nicht?

    »Ein Gewitter«, rief ich in die Wohnung hinein.

    Die Antwort meiner Liebsten ging in einem erneuten Donnerschlag unter. Der Wind zerrte an dem wasserfesten Sonnenschirm. Die Schraubzwinge hielt bombenfest. Trotzdem war es wohl ratsam, den Schirm zu falten. Ich löste den Verriegelungshebel, der die obere, innere Stange in der unteren, äußeren festhielt, wollte eben nach oben greifen, um die Neigung des Gestänges zu begradigen, sonst hätte ich ja den oberen Teil nicht nach unten ziehen und den Schirm somit zusammenfalten können, als eine gewaltige Sturmbö unter den wasserfesten Stoff fuhr und ihn in die Höhe riss. Die innere Stange glitt aus der äußeren, meine Hände griffen ins Leere …

    Der Schirm fuhr hoch wie ein entfesselter Fesselballon. Dann trudelte er abwärts, erreichte beinahe wieder das Niveau unseres Balkonsimses – allerdings in gut zehn Metern Entfernung, und schließlich wurde er erneut in die Höhe und seitwärts gerissen, sodass er auf die ausladende Krone des Ahorns am östlichen Rand der Wiese vor unseren Fenstern zutrieb.

    Ich musste etwas unternehmen!

    Ich rannte ins Wohnzimmer und prallte mit meiner Liebsten zusammen, die eben aus der Küche kam.

    »Der Sonnenschirm … ich muss ihn einfangen!«

    Ich drückte mich an ihr vorbei, schlüpfte in meine Schuhe und stürmte aus der Wohnung, die Treppe hinab und ins Freie. Es goss wie aus Eimern, doch darum konnte ich mich jetzt nicht kümmern. Ich musste zur anderen Seite des Hauses, und als ich um die Ecke bog, fand mein suchender Blick den Schirm hoch im Geäst des Ahorns, dessen Zweige wild rudernd gegen den Sturm ankämpften. Etwas traf mein Gesicht wie Nadelstiche. Es hagelte. Kleine, feine Hagelkörner prasselten vom beinahe schwarzen Himmel herab und vielleicht waren sie es, die den Schirm aus den Fängen des Ahorns befreiten. Ich schöpfte Hoffnung. Wenn er jetzt zu Boden fiele …

    Der Hagel war so plötzlich zu Ende, wie er begonnen hatte. Dafür zerrte eine Sturmbö an mir, am Ahorn und am Sonnenschirm, riss ihn hoch über den Baum hinweg und über die Begrenzungsmauer des direkt neben unserem Haus befindlichen Friedhofs. Nun gut – musste ich eben ins Friedhofsgelände. Ich wandte mich um und sah meine Liebste auf dem Balkon. Sie hielt ihre Kamera vor ihr Gesicht und ich ahnte, dass sie ein paar interessante Fotos vorzuzeigen haben würde, vielleicht sogar ein Video. Auch darum konnte ich mich jetzt nicht kümmern. Ich sprintete los. Der Eingang zum Friedhof war etwa drei oder vierhundert Meter entfernt und ich keuchte ordentlich, als ich ihn erreichte. Ich wandte mich nach rechts, strebte der Gegend zu, in der ich den Entführten vermutete, ließ meine Blicke schweifen, und dann sah ich ihn!

    Er hing aufgespießt an dem metallenen Kreuz, das eine der Grabstätten zierte, und sah erbärmlich aus. Der Stoff hatte einige Risse abbekommen, Fetzen hingen an der weißen Stange herab.

    Er war nicht mehr zu retten, das war eindeutig, doch auch wenn dies hier ein Friedhof war, konnte ich den Sonnenschirm hier nicht zur ewigen Ruhe betten. Also zerrte ich ihn von dem Kreuz herab, brachte es trotz des völlig verbogenen Gestänges zustande, ihn zusammenzufalten, und trat den Rückweg an. Vor dem Friedhofstor standen große Müllbehälter. Ich hinterließ die traurigen Überreste in einem von ihnen, dann trabte ich heimwärts. Erst jetzt spürte ich die Nässe und die Kälte so richtig. Ich hatte mir bestimmt einen Schnupfen geholt, doch das war es mir Wert.

    Als ich eben am Haustor läuten wollte – ich war ja ohne Hausschlüssel weggerannt –, wurde es von innen geöffnet. Unsere Nachbarn, mitsamt Besuch, kamen heraus. Ich grüßte, sie sahen mich alle sechs oder sieben mit großen Augen an, dann rannte ich die Treppe hoch. Hinter mir hörte ich ein Kichern, dann lautes Lachen. Meine Liebste öffnete die Tür.

    »Du bist ja echt nicht normal«, sagte sie und lachte los, als hätte ich eine rote Pappnase im Gesicht und einen lustigen Hut auf dem Kopf.

    »Nun ja, ich dachte, ich könnte den Sonnenschirm retten.«

    »Schon klar, aber … nur in Shirt und Unterhosen?«

    Ich nieste. Dann sah ich an mir hinunter.

    Und wenn schon …

    »Mein Held!«, flüsterte meine Liebste und küsste mich.

    Ja, so mag ich das …

    Sonntagsausflug

    Der Oktober neigt sich dem Ende zu und es ist erstaunlich warm für diese Jahreszeit. Seit Tagen liegt am Morgen Nebel über den Niederungen, der sich am Vormittag auflöst und prächtigem Sonnenschein Platz macht. An den vergangenen Wochenenden ist immer etwas dazwischengekommen, doch heute ist Sonntag, heute scheint die Sonne, und heute will ich endlich einen kleinen Sonntagsausflug machen. Seit dem Urlaub im August, also seit mehr als zwei Monaten, habe ich mich nicht mehr bewegt, so scheint es mir. Wenn ich nicht bald etwas unternehme, werde ich mit dem Sofa verwachsen und nie wieder davon loskommen!

    Der Urlaub. Viel Bewegung hat es auch da nicht gegeben. Es ist viel zu heiß gewesen, ständig zwischen fünfunddreißig und vierzig Grad im Schatten – wie soll man sich da bewegen? Mehr als ein paar kleine Spaziergänge haben wir nicht geschafft, von einem einzigen Ausflug einmal abgesehen. In die Altenbachklamm in der allersüdlichsten Steiermark, wo die Drosseln bereits Slowenisch spotten. Bach und Klamm, da denkt man an kühles Wasser, das tobend und brausend in Katarakten zu Tal stürzt, an schäumende Gischt, deren Nebel die erhitzten Gesichter der Wanderer belebend benetzt, doch weit gefehlt! Ein kümmerliches Rinnsal hat sich den Berg hinab gequält und meine Herzallerliebste und ich uns daneben schwitzend und keuchend hinauf. Ein Fiasko. Die zweite geplante Begehung einer Klamm weiter nördlich haben wir dann doch lieber abgesagt, und so ist Woche um Woche bewegungslos dahin gegangen. Bis heute.

    »Schatz, heute machen wir einen Ausflug«, verkünde ich beim Frühstück.

    »Mhm.«

    »Etwas mehr Begeisterung, bitte. Wir müssen wirklich an die frische Luft, ein wenig Bewegung machen.«

    »Wohin willst du denn?«

    »Ich dachte an den Wienerwald«, sage ich vorsichtig. Bloß nicht weit mit dem Auto fahren.

    »Wo im Wienerwald?«

    Immer diese Details! Wald ist Wald.

    »Vielleicht zur Wienerhütte. Dort gibt es einen großen Parkplatz und man ist gleich im Wald. Und weit zu fahren ist es auch nicht.«

    »Heute ist Sonntag, da wird es nur so von Leuten wimmeln.«

    Das ist wahr, denke ich. Dann habe ich eine geniale Idee.

    »Lainzer Tiergarten!«, schlage ich vor.

    »Oh ja! Der Lainzer Tiergarten. Da war ich zuletzt, als ich noch ein Kind war. Wahrscheinlich war es ein Schulausflug. Oder vielleicht war ich doch schon älter? Ein Firmenausflug? Ich weiß nicht mehr.«

    »Na, wenn du schon ewig nicht mehr dort warst, passt es ja. Aber waren wir nicht schon gemeinsam dort?«

    »Nein, bestimmt nicht. Das wüsste ich.«

    »Also gut, dann auf in den Lainzer Tiergarten!«

    Die Sache ist beschlossen, und ich hole meine nagelneuen Wanderschuhe aus dem Karton.

    »Dort brauchen wir aber eigentlich keine Wanderschuhe – sind doch schöne Wege dort.«

    »Egal. Wozu habe ich die Wanderschuhe. Heute will ich sie endlich einweihen.«

    In der Altenbachklamm bin ich noch mit Halbschuhen über Stock und Stein und Baumwurzeln und gefühlte eintausendfünfhundert Leitersprossen geklettert. Das soll mir nicht noch einmal passieren!

    Ich bin beinahe euphorisch, als wir wenig später tatsächlich im Auto sitzen und losfahren. Die Euphorie lässt ein wenig nach, als wir uns dem Ziel, dem Lainzer Tor, nähern. Der Verkehr wird immer dichter und die Straße, die zum Tor führt, ist beiderseits verparkt – schon seit ein paar Hundert Metern.

    »Die sind alle im Lainzer Tiergarten«, sagt meine Herzallerliebste.

    »Unsinn, die parken hier, weil sie hier wohnen«, behaupte ich. Vor uns fahren mehr und mehr Autos in einer Kolonne, die immer langsamer wird.

    »Die suchen einen Parkplatz«, meint meine Beifahrerin, die keine Ahnung hat.

    Zwei Autos mit polnischen Kennzeichen biegen rechts ab.

    »Siehst du – die wollen dort oben irgendwo jemanden besuchen«, triumphiere ich, die geschätzten vierzig Fahrzeuge vor uns ignorierend, die auf den Parkplatz vor dem Tor zusteuern. Ich biege links ab.

    »Meinst du, dass es hier besser ist?«, fragt mein Schatz.

    »Sieht nicht so aus«, muss ich zugeben.

    Wir fahren etwa einen

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