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Frühblüher schneidet man später. Ein München-Krimi
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eBook568 Seiten8 Stunden

Frühblüher schneidet man später. Ein München-Krimi

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Über dieses E-Book

James wäre wirklich ein schrecklicher Name. Für Stefan Bond stand schon früh fest: "Ich werde Detektiv." Schließlich hat er es bereits im zarten Alter von 8 Jahren mit Raffinesse und Mut fertig gebracht, den dubiosen Gesprächspartner seiner Mutter zu entlarven, der ihr jeden Sonntag für Kinderohren unverständliche Dinge ins Telefon säuselte. Nun, im Alter von 41 Jahren, sieht er - mittlerweile Kriminalhauptkommissar in München - sich mit einer Mordserie konfrontiert. Die vorhandenen Tatortspuren hätten normalerweise für ein Dutzend Fälle ausgereicht. Trotzdem ist es ihm in diesem Fall nicht möglich, eine Verbindung zwischen der unbekannten 16-Jährigen, der ermordeten Prostituierten aus der SM-Szene und dem schwulen Banker herzustellen. Doch nicht nur der Job schlägt dem Kommissar stark aufs Gemüt, sondern auch die Frauen seines privaten Umfeldes, mit denen er sich täglich auseinandersetzen muss. Da wäre seine Mutter, die seit neuestem zusammen mit seiner besten Freundin eine ungebetene Schnüffeltour durch sein Privatleben veranstaltet, seine Ex-Frau, die der festen Ansicht ist, er müsse als Mister Allzuständig gerade mal nebenbei die verschwundene Tochter ihrer Freundin finden, und seine Männer verschleißende Schwester, die ihm auch immer wieder Probleme bereitet. Und dann ist da noch diese eine Frau, die ihn am allermeisten beschäftigt: Seine kürzlich wieder gefundene große Jugendliebe, die im Begriff ist, sein Herz ein zweites Mal zu brechen.
SpracheDeutsch
Herausgeberacabus Verlag
Erscheinungsdatum4. Juli 2011
ISBN9783862820054
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    Buchvorschau

    Frühblüher schneidet man später. Ein München-Krimi - Jochen Geißel

    KAPITEL 1 – FREITAG, 9. MAI

    ∞ 01:30 Uhr ∞

    Langsam drang dieses Geräusch in sein Bewusstsein, störend, schrill und absolut fehl am Platze. Er wollte es ignorieren, aber das Klingeln war so nervtötend, dass er gezwungenermaßen aus den Tiefen seines kurzen, komatösen Schlafes auftauchte und irgendwann dann auch erkannte, dass es das verdammte Telefon neben seinem Bett war, das ihn um den Verstand zu bringen drohte.

    Er drehte sich zur Seite, öffnete mühsam seine Augen, die sich zunächst einmal aus purem Protest gegen weitere Überstunden weigern wollten, überhaupt irgendetwas zu erkennen, geschweige denn die aktuelle Uhrzeit. Letztendlich kamen sie damit bei ihm aber nicht durch und er registrierte auf seinem Wecker, dass es erst halb zwei in der Nacht war. Mehr als eine Stunde hatte er bislang noch nicht geschlafen.

    „Scheiße, welcher Idiot ruft denn um diese Zeit an?"

    Hierauf gab ihm natürlich niemand eine Antwort. Leider auch nicht die kühle Blonde vom Vorabend in Mikes Kneipe, die unverständlicherweise am Ende dann doch gekniffen und keinen richtigen Drang mehr gehabt hatte, ihn auf sein heimisches Bärenfell zu begleiten. Dabei schien er ihr eigentlich ganz gut gefallen zu haben, denn sie war nach dem ersten Bekanntwerden an der Theke den ganzen Abend nicht mehr von seiner Seite gewichen und hatte förmlich mit den Augen an seinen Lippen geklebt. Da schienen die Hoffnungen gar nicht so unberechtigt, dass es später nicht nur bei den Augen bleiben würde. Vielleicht hatte er aber auch in ihrem Beisein auf die Schnelle zu viel von diesem klaren Zeug runtergekippt und sie damit für den Rest dieser Nacht abgeschreckt. Letztendlich war das für ihn momentan wohl auch ganz gut so, denn vermutlich wollte er in seinem gegenwärtigen Zustand überhaupt nicht mit so einem Häschen ins Bett. Oder doch?

    Das Telefon ließ sich durch seine unkoordinierten Gedankengänge nicht irritieren und klingelte aus lauter Bosheit einfach penetrant weiter. Entweder er ging jetzt endlich mal dran oder ihm würde in Kürze der Kopf platzen. Also griff er sich den Hörer, schaute erst gar nicht auf die Nummer im Display, sondern raunzte so bedrohlich wie es ihm in dieser Situation überhaupt nur möglich war: „Wer auch immer du bist, ich hoffe, du hast einen guten Grund!"

    „Hallo Stefan, sagte eine Stimme, die ihm früher sehr vertraut gewesen war und an deren Klang er sich zeitweise nicht hatte satt hören können. Das war jedoch lange her. In letzter Zeit hatte er wenig Kontakt mit Eva gehabt. Und jetzt wartete er darauf, dass sie weitersprach, doch als sie viel zu lange schwieg, fragte er einfach: „Liebling, du kennst doch noch die Uhr, oder?

    „Stefan, es tut mir leid, sagte sie, plötzlich außer Atem und es hatte eine Zeit gegeben, da hätte er sich noch gerne für einen Moment eingeredet, dass er der Grund für diese Seufzer gewesen wäre. „Wir brauchen deine Hilfe. Ich würde dich nicht um diese Uhrzeit anrufen, wenn es nicht wirklich dringend wäre.

    „Na was denn, knurrte er jetzt eher bissig ins Telefon, „hat sich dein Adam beim Bleistiftspitzen verletzt und ihr braucht deshalb gerade mal jemanden zum Heben? Eigentlich konnte er Evas Mann, der im wirklichen Leben Thomas Steffens hieß, ganz gut leiden, aber nachts um diese Unzeit und unter seinem aktuellen Leidensdruck musste er es mit dem Liebhaben ja nun wirklich nicht übertreiben.

    „Mann Stefan, jetzt rede bitte keinen Mist! Wir brauchen wirklich dringend deine Hilfe. Du musst herkommen, sonst dreht uns Maria noch durch."

    ‚Wer ist Maria?‘, wollte er im ersten Moment noch fragen, aber ihm war trotz des heftigen Gewitters in seiner vorderen Hirnhälfte schnell klar, dass es ihre Freundin aus dem „Flamingo" war, diesem billigen Tanzschuppen, in dem sich auch Eva früher einmal zeitweilig ihre Kröten verdient hatte.

    „Was ist denn mit Maria?", fragte er daher schon weniger aggressiv, obwohl er die Antwort eigentlich überhaupt nicht hören wollte. Aber ihm blieb ja ohnehin keine Wahl.

    „Du kannst dich doch noch erinnern, dass Maria damals eine dreijährige Tochter hatte, die kleine Steffi. Die ist mittlerweile sechzehn und heute Abend nicht nach Hause gekommen, obwohl sie versprochen hatte, spätestens um elf da zu sein."

    Klar konnte er sich an den Dreikäsehoch erinnern, den seine Mutter häufig in den Laden mitgebracht hatte, weil sie keinen Babysitter auftreiben oder bezahlen konnte. Die Mädels im Club hatten sich alle rührend um die Kleine gekümmert, aber der richtige Aufenthaltsort war das dadurch für das Gör trotzdem nicht geworden.

    Weder das dumpfe Dröhnen in seinem Schädel noch der schale Geschmack in seinem Mund konnten sein Gesicht davon abhalten, sich von ganz alleine und ohne sein weiteres Zutun zu einer genervten Grimasse zu verziehen. Nein, darauf hatte er jetzt aber absolut keinen Bock.

    „Liebes, da braucht man doch nun wirklich nicht wie du jahrelang mit einem Polizisten zusammen gewesen zu sein, um zu wissen, dass sechzehnjährige Mädchen abends auch mal nach der verabredeten Zeit nach Hause kommen. Und es sind ja auch erst zweieinhalb Stunden drüber. Nun macht mal bitte keine übermäßige Panik!"

    „Das weiß ich auch alles, Herr Oberlehrer, fauchte sie ihn plötzlich ungewohnt scharf an. „Aber Maria hat gegen halb zwölf ’ne SMS von Steffi bekommen, in der es nur hieß: ‚Mama, ich weiß nicht, wie das alles so gekommen ist, aber ich ertrage es nicht mehr und muss irgendwie aus diesem Gefängnis heraus‘. Maria hat natürlich sofort zurückgerufen, aber das Handy ist offensichtlich abgestellt. Sie hat sich dann ins Auto gesetzt und kam auf direktem Wege zu uns. Du kannst dir doch vorstellen, dass Maria verständlicherweise völlig verzweifelt ist. Und deshalb rufe ich dich jetzt an, damit du auch sofort herkommst.

    „Mensch Eva, was erwartest du eigentlich von mir?, fragte er, mittlerweile schon ziemlich genervt, aber auch schon ziemlich wach. „Soll ich etwa alleine einen Streifzug durch Schwabing und den Englischen Garten machen und nach einer Sechzehnjährigen Ausschau halten, die Probleme mit der Uhrzeit und ihrem Handy-Akku hat? Wenn ihr euch aber wirklich nicht bremsen könnt, dann fahrt doch zur nächsten Dienststelle und gebt eine Vermisstenanzeige auf. Und nehmt das Handy mit der SMS mit. Die Kollegen werden dann schon das Richtige tun! Kaum hatte er es gesagt, wusste er bereits, dass es falsch gewesen war.

    „Zur nächsten Polizeidienststelle? Er konnte ihren ungläubigen Blick und den darin liegenden Vorwurf quasi durch das Telefon hören und wusste schon, was jetzt kommen würde: „Aber DU bist doch die Polizei!!

    Scheiße, eigentlich war ihm von Anfang an klar gewesen, worauf die Sache letztendlich hinauslaufen würde und dass er sich vor ein paar Minuten besser mal die Alternative mit dem Kopfplatzer hätte aussuchen sollen. Aber das half ihm jetzt auch nicht mehr weiter.

    ∞ 02:30 Uhr ∞

    Eva – Stefan war für eine kurze Episode von zwei Jahren mit ihr verheiratet gewesen. Sie hatten sich kennengelernt, als er im Zusammenhang mit einem Ermittlungsverfahren gegen einen Münchner Zuhälter des Öfteren das zweitklassige Lokal aufsuchen musste, in dem sie sich fast allabendlich als Tabledancer an der Stange räkelte. Die hübsche, hoch gewachsene Blonde hatte wirklich alles, was das Männerauge verlangte und war ihm schon beim ersten Mal aufgefallen. Es fiel ihm Zusehens schwerer, sich auf seinen eigentlichen Auftrag zu konzentrieren, wenn sie an der Stange turnte, obwohl er im Grunde überhaupt kein Fan dieser Art von Vergnügen war. Gegen Ende der Ermittlungen, als sie den Luden schon richtig am Sack hatten, richtete er es dann geschickter Weise so ein, dass er ihre Vernehmung durchführen und die Zeugenaussage aufnehmen konnte. Dabei stellte er fest, dass er kein blondes Häschen mit vielen, äußerst ansprechenden Rundungen und wenig Hirn vor sich hatte, sondern eine intelligente junge Frau, die sich neben ihrem Studium der Sozialwissenschaften mit dem Tanzen noch ein paar Mark dazu verdiente.

    Gehirn war jetzt nicht der erste Gedanke, der einem Mann kam, wenn er Eva Steffens betrachtete, und auch Stefan hatte das damals nicht unmittelbar als Grundvoraussetzung dafür angesehen, sich ernsthaft weiter um sie zu bemühen. Da standen ganz andere, naturgegebene Attribute im Vordergrund, die sein Interesse an dieser Frau auch nach Abschluss des Falles nicht erlahmen ließen.

    Glücklicherweise hatte sie aber wirklich richtig was auf dem Kasten. Erst viel später erfuhr er dann, und das war ein ziemlicher Niederschlag für sein männliches Ego gewesen, dass nicht er sie mit seiner brillanten Anmache rumgekriegt hatte, sondern ihr schon ziemlich früh klar gewesen war, dass sie sich mit diesem recht gut aussehenden, charmanten jungen Polizisten einlassen wollte. Zu diesem Zeitpunkt war ihm noch lange nicht bewusst, dass er am Ende siegreich vom Felde ziehen würde. Sie ließ ihn auch weiterhin zappeln und genoss es offenkundig, wenn er sich für sie zum Affen machte.

    Einer heftigen aber nicht allzu langen Flirtphase folgte ziemlich schnell eine noch heißere Bettphase, in der beide im guten sportlichen Sinne alles gaben. Für Stefan war das aus sexueller Sicht ein regelrechter Kulturschock gewesen, denn diese Frau war ein richtiger Knaller im Bett. Dennoch kam es für das gesamte Familien- und Bekanntenumfeld, und letztendlich auch für die beiden Hauptakteure selbst, ziemlich überraschend, dass sie sich im jugendlichen Alter von gerade mal 24 Jahren und sage und schreibe drei Monate nach Beginn ihrer Beziehung eines Dienstag Morgens in Raum 135 des Standesamtes München II unter Ausschluss der Öffentlichkeit und nur mit Mike und Renan als Trauzeugen das Ja-Wort gaben.

    Seine Mutter Hedwig, die zum eigenen Bedauern leider nur angeheiratete Frau von Stranz, hatte das am gleichen Abend noch einem schnellen Herztod ziemlich nahe gebracht, wobei gerade sie bis heute auf fünf verflossene Ehemänner zurückschauen konnte, denen vor der Hochzeit auch keine überwältigend lange Überlegenszeit eingeräumt worden war. Einzig Toni, seine um 38 Minuten jüngere Zwillingsschwester, fand diese Aktion damals aber so richtig cool.

    Leider stellte sich dann aber viel zu schnell heraus, dass Eva und er im wahren Leben gar nicht so viele Gemeinsamkeiten hatten und der einmalige, supertolle Wahnsinnssex das auf Dauer auch nicht übertünchen konnte. Die Trennung und spätere Scheidung verliefen in beiderseitigem, freundschaftlichem Einvernehmen und hinterließen keinerlei dauerhafte Narben. Heute sahen sie sich weiterhin regelmäßig, aber nicht mehr so oft – doch wenn, dann noch immer mit viel Zuneigung. Für ihn würde sie allzeit zu seiner Familie gehören, auch wenn sie seit einigen Jahren glücklich mit Thomas verheiratet, mittlerweile Mutter einer süßen dreijährigen Tochter war, die ihn Onkel Stefan nannte, und in einem gemütlichen Einfamilienhäuschen in Schwabing West wohnte.

    Und genau in dessen Einfahrt hatte er vor wenigen Momenten sein Auto abgestellt. Und das musste als reines Glück bezeichnet werden. Man konnte es drehen und wenden wie man wollte, Saufen und Autofahren hatten auf Dauer echt keine Zukunft. Da hatte ihm doch gerade vor fünf Minuten und nur zwei Straßen weiter ein kleiner bunter Mini ganz brutal die Vorfahrt genommen und war dann viel zu schnell Richtung Innenstadt davon gerauscht. Die Nummer hatte er in der Hektik nicht mehr erkennen können. Es war alles zu schnell gegangen und außerdem war die hintere Kennzeichenbeleuchtung des Wagens ausgefallen. Er wäre ganz zweifellos und einwandfrei nicht an diesem Unfall schuld gewesen, aber mit dem Restalkohol vom Vorabend im Blut hätte er sich trotzdem eine für den Monat Mai völlig unpassende Bescherung eingehandelt.

    Innerlich noch wie unter Starkstrom stehend, hastete er über den kleinen Verbindungsweg Richtung Haustür. Zwei durch Bewegungsmelder aktivierte Leuchten gingen an und er sah rechts und links das Glänzen des nächtlichen Taus auf den dunkelgrünen Blättern der sorgfältig gestutzten Allerweltskirschlorbeerhecke, die den Weg mannshoch säumte. In diesem Jahr hatte der Winter einen langen Atem gehabt und selbst Anfang Mai waren die Nächte noch immer ziemlich kühl. Vielleicht lag es aber auch nur an den heftigen Nachbeben seiner ersten Nachthälfte, die ihn frieren ließen. Oh wie sehr freute er sich doch auf sommerliche Wärme.

    An der Haustür erwartete ihn bereits Thomas, der seinen Wagen gehört haben musste. „Grüß dich Alter, komm rein", sagte er nur, für diese Uhrzeit noch recht frisch wirkend, drehte sich elegant auf dem Absatz seiner mit viel Liebe von Schwiegermutter fürs letzte Weihnachtsfest gestrickten Laufsocken um und ging ansonsten wortlos voran. Auf halbem Weg kam Stefan dann auch schon seine Verflossene entgegen und umarmte und küsste ihn wie immer auf die Wangen. Sie sagte nichts zu seinem offensichtlichen Zustand, sondern wies lediglich über ihre Schulter auf die hinter ihr liegende Tür zum Wohnzimmer.

    Und dort auf der Couch saß Maria, bleich, mit großen rot verweinten, aber dennoch hoffnungsvollen Augen – wahrlich kein schöner Anblick.

    ∞ 02:25 Uhr ∞

    „Wo kam der denn gerade her? Entsetzt schaute er durch das Rückfenster, in dem das Auto immer kleiner wurde, mit dem sie vor Sekunden fast volle Kanne zusammengestoßen wären. Noch immer schlug ihm das Herz fast bis zum Hals. „Mensch war das knapp. Kannst du nicht ein bisschen langsamer fahren, Paul? Um diese Uhrzeit schläft die ganze Stadt und du knallst hier draußen beinahe mit dem einzigen Auto zusammen, das außer uns in München noch unterwegs ist.

    Der Mann auf dem Beifahrersitz schaute zum Fahrer des Wagens hinüber und merkte, dass dieser bis zur Grenze des Erträglichen angespannt war und seine Bemerkungen überhaupt nicht wahrnahm. Die Augen zu kleinen Schlitzen zusammengekniffen, mit einem im ständigen Rhythmus mahlenden Kiefer und einer dick auf der Schläfe pulsierenden Hauptschlagader. Kein Wunder, nach dem, was sich noch vor zehn Minuten unweit von hier ereignet hatte. Er musste jetzt in erster Linie dafür sorgen, dass sie sich schnellstens aus dieser Gegend entfernten und dabei keinen Unfall bauten. Und dann musste er irgendwie sicherstellen, dass sein Kumpel nicht die Nerven verlor und überschnappte.

    Dem kleinen Flittchen hatten sie es beide aber ordentlich gegeben. Gut, anfangs war es natürlich nicht vorgesehen gewesen, dass die Kleine das Zeitliche segnete. Aber musste sie denn irgendwann anfangen, auf unschuldig zu machen, sich wehren und rumschreien? Und das, nachdem sie vorher regelrecht darum gebettelt hatte, von beiden Männern richtig bedient zu werden. Letztendlich war es wohl so am allerbesten, denn dann konnte sie auch nichts mehr ausplaudern. Da ansonsten niemand von ihrem zufälligen nächtlichen Zusammentreffen wusste, waren sie absolut in Sicherheit. Aber natürlich nur, wenn sie jetzt auf dem Rückweg nicht noch auffielen und von der Polizei angehalten wurden. Dann würde Paul sicherlich durchdrehen.

    Sei’s drum, die Sache hatte er jedenfalls ganz effektiv erledigt. Seine Erregung ließ langsam nach, aber das wilde Pochen in seinen Adern war noch immer vorhanden. Zurück blieb eine wohlige Erinnerung. Und jetzt war er einfach müde und freute sich eigentlich nur noch auf sein Bett. Kein einziger Gedanke des Bedauerns über das, was gerade eben passiert war. Warum auch?

    ∞ 04:00 Uhr ∞

    Irgendwie hatten sie es letztendlich dann doch noch geschafft, unfallfrei und ohne auffällig zu werden in der um diese Uhrzeit fast ausgestorbenen Innenstadt anzukommen. Paul war total mit den Nerven am Ende gewesen und er hatte ihn zuerst einmal mit zu sich nach Hause genommen. Nach drei Bier und ein paar Klaren löste sich jedoch so langsam die Anspannung und sie konnten einigermaßen ruhig über das Geschehene reden.

    Es gab keinen Grund, beunruhigt zu sein, denn es bestand nicht eine einzige nachvollziehbare Verbindung zwischen ihnen und dem Mädchen, das sie erst eine viertel Stunde vorher auf der Straße aufgelesen hatten.

    Sie mussten jetzt nur die Ruhe bewahren, dann konnte ihnen überhaupt nichts passieren! Sicher, es war nicht möglich gewesen, keinerlei Spuren zu hinterlassen, aber andererseits waren sie bislang noch niemals polizeilich aufgefallen und brauchten sich daher keine Gedanken zu machen. Auch wenn sich Paul momentan im Griff zu haben schien, stellte das Sensibelchen jedoch einen ziemlichen Unsicherheitsfaktor dar. Es hatte ihn sehr mitgenommen, das Mädchen tot im Gebüsch liegen zu sehen, obwohl er noch fünf Minuten vorher keine Probleme damit zu haben schien, als er sie gegen ihren Willen genommen und dann auf sie abgespritzt hatte. Natürlich musste auch er zugeben, dass es ihm im ersten Moment nicht leicht gefallen war, der Kleinen den Hahn abzudrehen, aber warum musste sie auch plötzlich einfach laut losschreien?

    Niemals hätte er sich aber in seinen kühnsten Träumen vorstellen können, dass ihn eine Frau mal so hätte anmachen können – und wenn es auch erst im Moment ihres gewaltsamen Todes gewesen war. Das war ja tausendmal besser gewesen als der mit der Zeit doch ziemlich einseitige Sex mit Paul oder auch sonst einem Lover. Je nachdem, wie der sich jetzt künftig benahm, würde er sich vielleicht viel öfter mal ’ne Frau gönnen. Nachdem Paul zwischenzeitlich einigermaßen gefasst gegangen war, musste er sich nur noch an seiner rechten Hand und dem Unterarm verarzten. Da hatte ihn die Kleine in ihrer Panik gekratzt, als sie merkte, dass es dem Ende zuging. Er musste höllisch aufpassen, dass er sich da morgen keine Entzündung holte, wenn sie an der Gartenanlage am Olympia-Park weiterarbeiteten.

    Nein, nein, er machte sich keine Gedanken. Sie waren sicher, nichts konnte ihnen geschehen – solange Paul nur durchhielt und kein übermäßiges Problem mit seinem Gewissen bekam.

    ∞ Vergangenheit ∞

    Sein Name war BOND – Stefan Bond!

    Und damit hatte er sich nach nunmehr einundvierzig Jahren auch durchaus arrangiert. Früher hatte er diesen Namen gehasst, doch schließlich hätte es aus heutiger Sicht auch noch entschieden schlimmer kommen können, denn zur Überraschung ihres Umfeldes hatte sich seine Mutter erst ziemlich spät gegen „James" entschieden.

    Manchmal rief sie ihn so, einfach nur um ihn zu ärgern, denn bei aller nach außen so gerne praktizierten Vornehmheit war Hedwig in ihrem Innersten eine der glühendsten Verehrerinnen des englischen Geheimagenten mit der berühmten Nummer 007. Sie kannte alle Filme und konnte die Dialoge fast auswendig aufsagen. Nur mit diesem neuen Darsteller konnte sie sich nicht so richtig anfreunden. Natürlich war es ihm nicht erspart geblieben, alle James Bond-Filme mehrfach sehen zu müssen, und es hatte eine, wenn auch nur kurze Zeitspanne in seinem Leben gegeben, da wäre er auch gerne so ein Actionheld geworden – nur nicht in dieser Reinkultur und nur nicht wie Roger Moore, denn der war nie sein Fall gewesen.

    Viel lieber wäre er natürlich eine ziemlich bizarre Mischung aus Hellboy und Indianer Jones mit einer detektivischen Spur von Philip Marlowe und dem galaktischen Weitblick von Perry Rhodan geworden, also ein unkaputtbarer Abenteurer mit coolen Sprüchen und der Aura eines Superhelden, dem natürlich alle Frauen nachgelaufen wären. Leider hatte die Umsetzung dieser Fantasie in der Wirklichkeit dann aber irgendwie nicht so geklappt. Letztendlich war aus dieser Zeit nur das Kürzel „008" übrig geblieben, das ihm sein bester Freund Mike schon in der Penne verpasst und das es sogar heute noch bis auf seinen persönlichen Spind in der Dienststelle geschafft hatte.

    Aber besser „008 als „Steffi, wie er auch für eine kurze Zeit in der Schule gerufen worden war, als er Ende der siebziger Jahre wie viele andere seiner Kumpels die Haare mal schulterlang getragen hatte. Ein paar gut gesetzte Fausttreffer hatten bei dem Verursacher aber zu einem baldigen Meinungsumschwung geführt – und danach hieß er überall nur noch „008".

    Stefan war mittlerweile 41 Jahre alt und 1,85 m groß, hatte eine sportliche Figur ohne jegliche Fettansätze und wirkte noch immer ziemlich durchtrainiert. Hierfür quälte er sich auch mindestens dreimal wöchentlich auf der Bahn, im Schwimmbecken oder im Fitnessraum des Präsidiums. Sein mittelblondes Haar trug er inzwischen kurz. Mittlerweile war es leicht mit ersten grauen Härchen durchsetzt, was ihn aber nicht wirklich störte und eigentlich bei der Damenwelt auch eher gut ankam.

    Wer ihm in sein markantes Gesicht schaute, wurde sofort durch ein Paar dunkelblauer Augen gefangen genommen. Je nach Stimmung blitzen sie wie zwei Sterne in der ewigen Nacht des unendlichen Universums, kalt, unnahbar und abweisend. Wenn er aber unter Freunden war, wirkten sie oft hell und leuchtend und konnten jeden erwärmen, den sein Blick traf.

    Und wenn er dann noch aus vollem Herzen lachte oder auch nur zurückhaltend jungenhaft lächelte, verfielen weibliche Wesen jeden Alters seinem Charme innerhalb von Sekunden; und nur zu gerne flüchteten sie sich dann für eine kurze Zeit in seine kräftigen Arme – und nur zu gerne hielt er sie darin auch fest!

    Nach seiner Scheidung hatte es immer nur oberflächliche Beziehungen gegeben, die nie länger als ein paar Monate hielten. Zumeist scheiterten sie regelmäßig daran, dass die aktuelle Frau seines Herzens über kurz oder lang nur ein eingeschränktes Verständnis dafür aufbrachte, hinter seinem Beruf zurückstehen zu müssen. Das war letztendlich auch mit einer der Gründe gewesen, weshalb es mit Eva nicht länger funktioniert hatte. Das konnte er natürlich nachvollziehen, hatte bislang für sich aber noch kein Rezept gefunden, diesen Konflikt zu lösen. Vielleicht strebte er in seinem Unterbewusstsein derzeit aber auch überhaupt keine endgültige Klärung dieser Prioritätenfrage an, da ihm bisher noch keine Frau über die Füße gestolpert war, für die sich ein ernsthaftes Nachdenken wirklich gelohnt hätte.

    Aber „bisher" galt überraschenderweise auf einmal nicht mehr, denn seit wenigen Wochen gab es da wieder jemanden, für den er sogar freiwillig sein Leben auch vollständig auf den Kopf gestellt hätte. Niemand aus seinem Umfeld wusste davon, nicht einmal Renan und Mike oder gar seine Mutter – nur seine Schwester Toni war eingeweiht und sie fand es riesig.

    ∞ Rückblick ∞

    Freitag, 31.03.1967

    Es ist ein Tag mit denkwürdigen Ereignissen.

    In Nürnberg gibt die Bundesanstalt für Arbeit einen Rückgang der Arbeitslosenzahlen auf 623.000 an, was nahezu Vollbeschäftigung bedeutet, bei der WM in Wien schlägt die Ostzonenmannschaft das westdeutsche Eishockeynationalteam mit 8:1 Toren, die ZEIT berichtet über die Erfolgsgeschichte der Anti-Baby-Pille, zu der Abend für Abend nahezu 10 Millionen Frauen weltweit greifen und Menschen wie Al Gore, Christopher Walken und Volker Schlöndorff feiern Geburtstag – und in München wird Stefan Bond geboren.

    Seine Mutter liebte es, in ihrem Frauenkränzchen, aber auch bei sonstigen Gelegenheiten fortgesetzt zu erzählen, und die Geschichte wurde tatsächlich mit jedem Mal spannender, dass sie an jenem Abend gerade noch die Nachrichten im Fernsehen gesehen hatte. Wie alle Welt war auch Sie entsetzt über die erste große Ölkatastrophe vor einer europäischen Küste. Sie sah gerade die Bilder des in der Nähe von Cornwall auf ein Riff aufgelaufenen Supertankers „Torrey Canyon", als die ersten heftigen Wehen einsetzten. In Begleitung ihrer Cousine und besten Freundin Anita, einen Mann gab es zu diesem Zeitpunkt Gott sei Dank gerade mal nicht in Hedwigs Leben, fuhr sie noch im Taxi in die Kinderklinik Schwabing, wo Stefan relativ schnell und ohne weitere Komplikationen exakt um 23:15 Uhr das Licht der Welt erblickte.

    Soweit so gut – und damit hätte es für sie dann auch ohne Weiteres sein Bewenden haben können. Aber nachdem sie nun sowohl die abendlichen Nachrichten mit den unschönen Bildern als auch seine Geburt relativ schadlos überstanden hatte, kündigten einige Minuten danach erneute Wehen an, dass sie tatsächlich auch noch ein weiteres, bislang nicht erwartetes und erst recht nicht geplantes Baby zur Welt bringen sollte.

    Wer seine Mutter kannte, wusste, dass sie bei Bedarf kalt wie ein Eiszapfen und herrisch bis zum Erbrechen sein konnte, und sowohl die anwesende Hebamme als auch der junge Assistenzarzt sollten Hedwig nun genau von dieser Seite kennen und lieben lernen. Sie hatte nämlich mit einem Blick auf die runde Uhr des Kreißsaales erkannt, dass es kurz vor Datumswechsel war und für sie stand völlig außer Frage, dass sie keine Zwillinge mit unterschiedlichen Geburtsdaten bekam, einen davon auch noch am 1. April. So etwas stand ja überhaupt nicht zur Debatte! Sie machte den beiden medizinischen Fachkräften Stress hoch zehn, so dass diese Alles gaben, um die Geburt des kleinen Mädchens noch vor Mitternacht über die Bühne zu bringen, was ihnen wie bei einer Punktlandung im Fallschirmspringen um 23:53 Uhr auch vorzüglich gelang.

    Und erst danach hatte Hedwig endlich Ruhe gegeben.

    Toni und er hatten in ihrer Kindheit die gleichen Probleme, die auch andere Geschwister üblicherweise miteinander austrugen – sie fanden sich regelmäßig zum Kotzen und gingen dem anderen grundsätzlich und mit viel Freude auf den Keks. Dies änderte sich allerdings unverhofft und völlig, als beide ihre Pubertät hinter sich gelassen hatten. Als hätten sich die Synapsen in ihren Köpfen vollkommen neu geschaltet, verband beide seitdem ein starkes Gefühl innerer Zusammengehörigkeit und Zuneigung. Wann immer der eine bisher ein wirkliches Problem zu lösen hatte, erfolgte dies niemals ohne die maßgebliche Mitwirkung des anderen. Das schloss auch regelmäßig Gesundheits-, Partnerschafts- und Sexualprobleme ein und Stefan hatte seiner „kleinen" Schwester früher nicht nur einmal auf die Schnelle mit ein paar Kondomen aushelfen müssen, damit das für den Abend geplante Date auch einen zufriedenstellenden Ausgang nehmen konnte.

    Nach einem Super-Abi gab es für Toni überhaupt keine Probleme mit dem Numerus clausus. Sie fand unmittelbar an der Ludwig-Maximilians-Universität in München einen Studienplatz für Medizin und absolvierte alle Studiengänge, Prüfungen und Staatsexamen in kürzester Zeit und mit Bravour. Heute war sie als Frau Doktor med. Antonia Bond anerkannte Chirurgin in genau der Uniklinik, in der sie auch studiert hatte.

    Männer waren für sie nur ein durchlaufender Posten, so eine Art Entspannungsübung – und wie im Sport vertrat sie auch hierbei die Ansicht, dass man zum Schutze vor einseitiger Belastung und zur Vermeidung von Langeweile jegliche Betätigung öfter mal wechseln sollte. Außerdem war ihre Zeit viel zu kostbar, um sie über einen angemessenen Rahmen hinaus an Männer zu verschwenden.

    Zum Missfallen ihrer Mutter, die ähnliche Hoffnungen bei Stefan längst aufgegeben hatte, hatte Toni mit ihren 41 Jahren konkrete Pläne für ein eigenes Kind längst begraben. Sie hätte sich zu früheren Zeiten schon vorstellen können, Mutter zu werden, hatte hierfür aber nicht den richtigen Kerl gefunden, den sie in jedem Falle mit dem erfolgreichen Eintritt der Schwangerschaft in die Wüste geschickt hätte. Was hätte der denn auch mit ihrem Kind zu tun gehabt? Dieser klare, analytische Gedankengang war selbst ihrer Mutter zu viel, die in ihrem Leben immerhin fünf gestandene Männer verschlissen hatte. Stefan dagegen fand dieses Denken seiner Schwester einfach nur konsequent und logisch.

    Diese Toni allein war sein Anker und der einzige Mensch, von dem sich Stefan in seiner derzeitigen Situation Halt und Unterstützung erhoffte.

    ∞ 09:00 Uhr ∞

    ‚Oh Mann, was für eine Nacht!‘

    Nicht nur, dass er sich gestern Abend bei Mike viel zu viel zugemutet hatte, was sich jetzt mit heftigen Nachwehen an ihm rächte, er hatte insgesamt auch sage und schreibe eine ganze Stunde Schlaf gehabt und saß jetzt gegen neun Uhr schon wieder an seinem Schreibtisch im Präsidium. Er fühlte sich älter denn je und war es wahrscheinlich heute Nacht auch geworden.

    Maria hatte nicht nur scheiße ausgesehen, sondern war natürlich auch genauso drauf gewesen. Sie hatte ihm verklickert, dass ihre Tochter immer ein folgsames Mädchen gewesen sei – als würden Mütter das nicht ohnehin immer denken und ziemlich oft damit falsch liegen – und ihr nie Sorgen gemacht habe. Selbst die Pubertät hätten Mutter und Tochter ziemlich gut überstanden. Nur in den letzten Monaten seien sie immer öfter aneinander geraten. Natürlich sei ihr klar, dass Sechzehnjährige raus und das Leben erkunden wollten, sie war schließlich auch mal so alt gewesen und hatte damals schon weit mehr erlebt als Steffi heute. Aber genau deshalb wollte sie ja besser auf ihre Tochter aufpassen und ließ ihr bewusst nicht all die vielen Freiheiten, die andere bekamen. Das brachte natürlich neuerdings auch Spannungen und häufig Ärger. Erstaunlicherweise konnte Maria aber kaum Angaben darüber machen, mit wem sich ihre so beschützte Tochter in den letzten Monaten so traf, mit wem sie wegging, wer ihre Freundinnen waren oder ob sie gar einen Freund hatte. Woran lag das wohl? Irgendetwas war mit Steffi passiert, an dem sie ihre Mutter nicht mehr hatte teilnehmen lassen. Und jetzt kam sie nicht pünktlich nach Hause und verschickte nur komische Nachrichten, was Maria natürlich in Panik versetzte. Das lag doch klar auf der Hand, dass dem Kind etwas zugestoßen sein musste.

    Sicher, irgendetwas war passiert, aber möglicherweise völlig anders, als es sich die besorgte Mutter auf den ersten Blick vorstellen wollte. Stefan schloss für sich nicht aus, dass die Kleine tatsächlich ein aktuelles psychisches Problem hatte, das ihr innere Qualen verursachte. Vielleicht war mit dem Begriff Gefängnis aber auch nur die Beziehung zu ihrer reichlich zur Hysterie neigenden Mutter und ihrem freiheitsentziehenden Zuhause gemeint? Oder vielleicht steckte einfach nur ein Junge dahinter? Alt genug wäre sie ja dafür. Er war natürlich kein Psychologe, aber so ganz abwegig schien diese Sicht der Dinge beim Wortlaut der SMS nicht, erst recht wenn man Maria in ihrer aktuellen Verfassung kennengelernt hatte. Ein mögliches Verbrechen sah er jedenfalls auf den ersten Blick eher nicht.

    Natürlich konnte er sich mit diesem Gedanken weder bei der einem Nervenzusammenbruch nahen Mutter noch bei Eva durchsetzen. Sie beharrten beide vielmehr darauf, dass er jetzt sofort was unternehmen müsse. Auf seine genervte Frage, was sich Madame Neunmalklug denn da so vorstellen würde, fauchte Eva einfach nur schnippisch zurück: „Das weiß ich doch nicht, du bist doch schließlich der Polizist!" Sie sah zum Anbeißen aus, wenn sie sich so aufregte, hatte sie immer schon getan, aber das war jetzt der absolut falsche Moment, um darüber nachzudenken. Und außerdem hatte er das Anbeißen bei ihr unwiederbringlich hinter sich.

    Und natürlich hatte sie Recht, er war der Polizist; und nach seiner bescheidenen Selbsteinschätzung sogar ein ziemlich guter, der nur momentan unter dem Problem litt, dass seine Antriebsaggregate durch den falschen Sprit ziemlich verstopft waren und nur auf drei Töpfen liefen.

    Stefan hatte schon früh gewusst, dass er irgendwann einmal einen „ermittelnden Beruf ausüben wollte. Bereits im Alter von acht Jahren fühlte er sich dazu berufen, herauszufinden, mit wem seine damals alleinerziehende Mutter denn jeden Sonntagvormittag hinter verschlossener Schlafzimmertür so heftig telefonierte. Irgendwann stellte er dann endlich alle Sicherheitsgedanken hinten an und legte den Kippschalter am Telefon im Wohnzimmer um, wodurch das aktuelle Telefongespräch unmittelbar auf diesen Apparat umgeleitet wurde. Sofort hatte ihm eine sonore Männerstimme Dinge ins Ohr gesäuselt, die ein Achtjähriger aus gutem Hause glücklicherweise noch nicht verstehen konnte. Relativ schnell war ihm das Zuhören daher langweilig geworden, so dass er den Hörer auflegte, nicht ohne sich jedoch vorher noch von seinem verdutzten Gesprächspartner mit einem freundlichen „Arschloch verabschiedet zu haben. Keine Sekunde zu früh, wie sich im nächsten Moment herausstellen sollte, denn schon rauschte seine Mutter nur mit einem hochroten Kopf und einem lächerlich kurzen Hängerchen bekleidet ins Zimmer und wollte die Rolle eines Racheengels spielen, was ihr dann letztendlich auch sehr erfolgreich gelang. Voller Genugtuung hatte er aber feststellen können, dass seine detektivische Arbeit erfolgreich gewesen war, denn die Stimme des Unbekannten am Telefon hatte er sofort erkannt.

    Aus dem eher schmerzlichen Ausgang dieses Abenteuers lernte er, dass bei künftigen Unternehmungen – und es schlossen sich in den kommenden Jahren noch viele an – der Sicherheitsaspekt und die eigene Rückendeckung immer eine übergeordnete Stellung einzunehmen hatten, was auch heute noch für seine tägliche Arbeit galt. Denn er hatte aus dem vermeintlichen Hobby seinen Beruf gemacht und war heute Kriminalhauptkommissar beim Polizeipräsidium München – K11 – Tötungsdelikte!

    Allerdings waren zwischenzeitlich sein jugendlicher Elan und die Euphorie des Detektivspielens durch die krasse Realität des Lebens längst überholt worden. Er hatte in seinem Job schon mehr Scheiße sehen müssen, als die vier Superhelden seiner Fantasie jemals gemeinsam hätten wegräumen können.

    Letztendlich war ihm letzte Nacht, man hätte auch sagen können eben, nichts anderes übrig geblieben, als die beiden nervenden Damen und Thomas mit den heißen Laufsocken zur nächsten Polizeiinspektion zu begleiten, wo sie eine Vermisstenanzeige aufgaben. Zweifellos erhielt diese durch seine Anwesenheit vor Ort ein höheres Gewicht, wobei die Miene des aufnehmenden Kollegen aber ziemlich deutlich aussagte, was er gerade von ihm in diesem Zustand hielt. Das war so gegen fünf Uhr gewesen. Eva hatte sich dann mit einem tiefen Blick ihrer stahlblauen Augen verabschiedet, nicht ohne ihm jedoch das Versprechen abzunehmen, dass er sich weiter um die Sache kümmern würde. Na klar! Sonst noch was? Danach war er in seine Wohnung zurückgefahren und hatte krampfhaft mit Zähneputzen, Duschen, Rasieren und einem leichten Katerfrühstück versucht, irgendetwas Menschliches aus sich zu machen – und auch hierbei war er gnadenlos gescheitert.

    In der Dienststelle ging es zu wie in einem Bienenstock, überall summte und brummte es – genauso wie noch bis vor einer Stunde in seinem Schädel. Er musste dringend mal mit Mike reden. Das mit diesen Experimenten, für die er sich immer wieder als Versuchsperson zur Verfügung stellte, musste aufhören. Mike, der Besitzer des legendären „MIKES", war seit Menschen Gedenken sein Freund. Schon in der Schule hatte ihn Chemie am allermeisten fasziniert. Verschiedene Stoffe zusammen zu mischen und dann zu sehen, wie sie miteinander reagierten, fand er einfach nur spannend. Diese Leidenschaft hatte ihn bis heute nicht verlassen, nur dass er sich mittlerweile ausschließlich auf Flüssigkeiten spezialisiert hatte und an ihnen seine Experimentierfreude austobte.

    Es war absolut fantastisch gewesen, als er gestern Abend fünf unterschiedlich farbige Flüssigkeiten ineinander kippte und diese beim Umrühren plötzlich sämtliche Farben verloren. Gut – an schlechten Tagen explodiert dann halt so ein Zeug auch mal! Am Schluss war ein völlig durchsichtiges und klares Gebräu übrig geblieben, das wie Wasser aussah, aber nicht so schmeckte und erst recht nicht so wirkte. Und Stefan war so blöd gewesen und hatte sich auch dieses Mal wieder gerne als Testperson für das Experiment zur Verfügung gestellt und das Hexengebräu getrunken, das ihm sein Haus- und Hofchemiker anbot. Irgendwann musste das mal schlimm enden – ganz zu schweigen davon, dass es ihm gestern Abend diese blonde Schönheit vertrieben hatte und er nur deshalb eine solch beschissene Nacht verbringen musste. So, und damit hätten wir den Schuldigen für diese gesamte Misere auch schon ermittelt!

    Stefan hatte eben noch bei den Kollegen von 14 nachgehört, ob es in dieser Vermisstensache neue Erkenntnisse gebe, was aber erwartungsgemäß nicht der Fall war. Alleine hiermit konnte er Eva aber keineswegs unter die Augen treten. Soweit es seine mittlerweile abklingenden Kopfschmerzen zuließen, widmete er sich verschiedenen Vorgängen, die schon seit geraumer Zeit auf seinem Schreibtisch einer abschließenden Bearbeitung entgegensahen. Im Moment war glücklicherweise ziemliche Ruhe an der K11-Front und er konnte heute hoffentlich mal nur im Büro sitzen bleiben und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Aber das ging üblicherweise nie lange gut. Meistens kam es dann kurzfristig umso schlimmer.

    ‚Genieße es, solange du kannst‘, dachte er noch, als auch schon die Bürotür heftig aufschlug und seine Stellvertreterin Tanja Wiegand ins Zimmer gerauscht kam. „Komm, Freund des Bacchus, wir müssen los. Zirka sechzehnjährige Mädchenleiche im Luitpoldpark."

    Stefan wollte ihr gerade schon erklären, dass nach seinen bescheidenen Kreuzworträtselkenntnissen Bacchus die römische Entsprechung des griechischen Gottes Dionysos, des Gottes des Weines, nicht aber des Gottes der unbekannten Flüssigkeiten war. Andererseits wusste er allerdings nicht, welcher andere Gott hierfür zuständig sein könnte und ob Bacchus diesen fragwürdigen Job nicht mangels Masse einfach mitmachte. Bevor er allerdings einen entsprechend dummen Spruch loslassen konnte, wurde ihm plötzlich die Ernsthaftigkeit von Tanjas Nachricht bewusst. Er wurde sofort ernst und dachte nur noch laut: „Oh nein, tu mir das bloß nicht an!" Aber auch das half ihm letztendlich nicht weiter und er folgte seiner Kollegin ergeben zu ihrem Dienstwagen.

    ∞ 09:30 Uhr ∞

    Zu Ehren des 90. Geburtstags des Prinzregenten Luitpold von Bayern hatte die Stadt München zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts im Nordwesten von Schwabing einen kleinen Park mit 90 Linden anlegen lassen. Und genau auf dem Weg zu diesem Luitpoldpark waren Stefan und seine Kollegin, als sie mit schnellem Tempo von der Belgrad Straße Richtung Westen auf die Karl-Theodor-Straße abbogen. Schon von Weitem waren massenhaft blaue Blinklichter zu erkennen. Beim Näherkommen erkannten sie neben drei Streifenwagen der zuständigen PI 13 aus der nahe gelegenen Johann-Fichte-Straße auch schon den großen Kastenwagen der Spurensicherung. Daneben parkte ein Dienstwagen des Gerichtsmedizinischen Instituts und sogar das Fahrzeug eines Bestattungsunternehmens war bereits vor Ort. Jetzt fehlte nur noch der Staatsanwalt und der Morgen war nicht mehr zu retten.

    „Wie kann es eigentlich sein, dass wir die letzten am Tatort sind? Sogar die Geier haben’s schon vor uns geschafft", brummte Stefan mürrisch mit einem Kopfnicken zu zwei Übertragungswagen des örtlichen Kabelkanals und des Bayrischen Rundfunks hinüber.

    Von den drei südlichen Zugängen zum Park waren der mittlere und der südwestliche in der Nähe des Kreuzungsbereichs Brunnenstraße weiträumig mit Flatterband abgesperrt.

    Tanja parkte den Wagen am nächstgelegenen mittleren Zugang und meldete sie bei der Zentrale ab. Danach bahnten sie sich den Weg durch die bereits dicht gedrängt stehenden Schaulustigen, die von uniformierten Kollegen hinter den Sperren gehalten wurden. Ein paar Reporter durchstreiften die Menge und suchten offensichtlich nach Augenzeugen, die ihnen wichtige Erkenntnisse in ihre Mikrofone offenbaren sollten.

    Ihre ernsten Gesichter und die hochgehaltenen Dienstausweise öffneten ihnen ohne Weiteres den Weg in die abgesperrte Zone. Auf dem markierten Trampelpfad gingen sie nördlich in Richtung des Obelisken und stiegen die große, achtstufige Treppe empor. Zirka 15 Meter weiter stießen sie auf den breiten Fußweg, der dieses südliche Parkende in einem Halbkreis von der Brunnenstraße im Westen bis zur östlich gelegenen Borschtallee durchzog. Jenseits des Wegs begann die weite Rasenfläche, auf der der Obelisk thronte. Im Kreuzungsbereich dieser beiden Zugangswege war auf der linken Seite unter zwei großen Linden Bewegung zu erkennen. Offensichtlich hatten die Kollegen der Spurensicherung bereits mit ihrer Arbeit begonnen, denn Stefan konnte zwei Personen in ihren typisch weißen Ganzkörperanzügen erkennen, die sich vorsichtig um einen auf der Erde liegenden Körper bewegten. Ein anderer Kollege machte Bilder aus den verschiedensten Perspektiven. Zehn Meter Richtung Westen waren zwei weitere Männer des Erkennungsdienstes dabei, einen Abdruck von Reifenspuren zu sichern.

    In sicherer Entfernung vor diesem Idyll und noch außerhalb des unmittelbaren Tatorts erkannte Stefan Dr. Jörg Urlau, offensichtlich der heute Dienst habende Pathologe der Gerichtsmedizin. Da die meisten Menschen bei seinem Namen an Urlaub oder auch Holiday dachten und er darüber hinaus in Insiderkreisen als anerkannter Fachmann guter alter Hollywoodfilme bekannt war, hatte ihm irgendwann einmal jemand in Anlehnung an eine Komödie aus den frühen Neunzigern den Spitznamen Doc Hollywood verpasst, den er seitdem mit Würde trug.

    „Hallo Doc Hollywood, was gibt’s Neues?, fragte Stefan, als er bei dem Arzt ankam. „Schon irgendwelche Erkenntnisse, die uns was über Todesart, -zeitpunkt und den Täter sagen würden?

    Der Arzt drehte sich um und erkannte die beiden Beamten. „Ah, da kommen 008 und Loreley. Ich grüße Sie an diesem schönen Frühlingsmorgen, der uns wieder mal so eine Scheißarbeit eingebrockt hat. Einen ersten groben Überblick habe ich tatsächlich schon gewinnen können. Offensichtlich handelt es sich um ein junges Mädchen, zwischen 14 und 18 Jahren alt. Wahrscheinlich wurde sie stranguliert, die Male am Hals deuten auf Erwürgen hin. Ich tippe mal als Todeszeitpunkt zwischen zwei und vier Uhr heute Nacht. Es sieht aus, als sei sie sexuell missbraucht worden. Näheres kann ich aber noch nicht sagen. Aber wie Sie ja wissen …"

    „Ja, diese schlechten Filme, in denen mittelmäßige Pathologen immer sagen, dass die ausführlichen Einzelheiten dem Obduktionsbericht entnommen werden könnten, kennen wir ja alle schon. Selten unhöflich mischte sich Tanja mit hochrotem Kopf und hektischen Flecken an ihrem Hals in das Gespräch ein, nachdem sie einen ersten Blick auf das tote Mädchen geworfen hatte. „Irgendwie stirbt die Hoffnung immer zuletzt, dass man irgendwann tatsächlich an einen Tatort kommen könnte und direkt mal brauchbare Antworten bekäme, sprach’s und ging erneut in Richtung des am Boden liegenden Körpers davon.

    „Hey, wie ist die denn heute drauf?, fragte Urlau mit hochgezogener Augenbraue, aber Stefan konnte bei dieser heftigen Reaktion seiner Kollegin auch nur mit den Achseln zucken. Er klopfte dem Pathologen auf die Schulter und folgte ihr in Richtung der Bäume. „Was ist denn mit dir los?, wollte er wissen, doch sie starrte ohne zu antworten auf die Mädchenleiche, die nur wenige Schritte von ihnen entfernt auf dem Boden lag. Stefan hatte es bislang vermieden, unmittelbaren Sichtkontakt mit dem Opfer aufzunehmen. Auch wenn er Stefanie Bauer nach den vielen Jahren sicherlich nicht wieder erkennen würde, fürchtete er sich doch vor dem ersten Moment, in dem er sie als Tote auf der Erde liegen sehen würde – wenn sie es denn war. Wie sollte er das dann nur ihrer Mutter erklären? Und auch Eva würde völlig aus dem Häuschen sein.

    Seit vielen Jahren war er im K11 mit Tötungsdelikten befasst, zuletzt als jüngster Chef dieser Einheit. Er hatte in dieser Zeit schon alles gesehen, was das Leben diesbezüglich zu bieten hatte. Sein anfängliches Entsetzen über die Vielzahl der von der Öffentlichkeit nur ungern zur Kenntnis genommenen unnatürlichen Todesfälle in München wich bald der Erkenntnis, dass die Polizei in vielen Fällen den Tätern maßlos hinterherhinkte und sich daher um so mehr anstrengen musste. Gleichzeitig wuchs aber auch seine Entschlossenheit, alles zu tun, um diese kranken Kreaturen hinter Schloss und Riegel zu bringen, die es billigend in Kauf nahmen oder sogar gezielt darauf anlegten, dass Menschen durch ihre Machenschaften ums Leben kamen. Mit der Zeit hatten die Schreckensbilder nachgelassen, die ihn nachts immer verfolgten, wenn er wieder der Obduktion eines Toten in der Pathologie beiwohnen musste. Das wäre auch auf Dauer nicht zu ertragen gewesen. Aber Bilder von getöteten Kindern – und dazu zählten für ihn auch noch sechzehnjährige Teenager – nahmen ihn selbst heute noch mit. Und wenn es dann sogar die Kinder von Bekannten waren …

    Letztendlich half alles nichts. Er war der Leiter der Mordkommission und musste sich zweifellos seinen Dämonen stellen. Er folgte Tanjas Blick und nahm erstmals bewusst das am Boden liegende Mädchen zur Kenntnis. Innerhalb von Sekundenbruchteilen brannte sich der gesamte Tatort und das dazugehörende Umfeld in seinem Kopf wie auf einer Festplatte ein. Größe, Lage, Kleidung, Haarfarbe und Gesichtsausdruck der Toten, mögliche Verletzungen, der

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