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A Witching Tale: Die Träume vom Belvoir Castle
A Witching Tale: Die Träume vom Belvoir Castle
A Witching Tale: Die Träume vom Belvoir Castle
eBook306 Seiten3 Stunden

A Witching Tale: Die Träume vom Belvoir Castle

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Über dieses E-Book

"Sie spürte, dass sie alles verloren hatte, nicht aber ihren unbändigen Willen zu leben!"

Nach dem Tod ihrer Zwillingsschwester Marsha kehrt Gwen auf den Familiensitz Belvoir Castle zurück. Dort erfährt sie, dass Marsha von unheimlichen Albträumen geplagt wurde. Im Zimmer ihrer Schwester macht sie dann die nächste merkwürdige Entdeckung: Das Gemälde einer Frau, die ihnen verblüffend ähnlich sieht, daneben ein uraltes Tagebuch.

Als Gwen darin zu lesen beginnt, wird auch sie von unheimlichen Träumen heimgesucht. Ein lang gehütetes Geheimnis drängt mit aller Macht an die Oberfläche. Und allmählich wird Gwen klar, wie wenig Zeit ihr noch bleibt …
SpracheDeutsch
HerausgeberISEGRIM
Erscheinungsdatum15. Mai 2020
ISBN9783954528240
A Witching Tale: Die Träume vom Belvoir Castle
Autor

Claudia Romes

Claudia Romes wurde am 02.10.1984 als Kind eines belgischen Malers in Bonn geboren. Sie war schon immer eine begeisterte Leserin und liebte es, in fremde Welten einzutauchen. Mit neun Jahren begann sie, ihre eigenen Geschichten zu erzählen und fasste den Entschluss, eines Tages Schriftstellerin zu werden. Heute lebt die Autorin mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in einem kleinen Dorf in der Vulkaneifel.

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    Buchvorschau

    A Witching Tale - Claudia Romes

    Prolog 

    Zuerst war es nicht mehr als ein zartes Flüstern, das stetig lauter wurde. Gwen setzte sich im Bett auf und lauschte dem Lockruf eines aufgeregten Kindes. Es war die Stimme ihrer Schwester Marsha, die sie veranlasste aus dem Bett zu steigen.

    »Komm mit«, wisperte sie und Gwen sah, wie ihr Ebenbild zur Tür hinaus verschwand. Sie folgte ihr über den endlos wirkenden Flur des westlichen Flügels. Ihre Schritte waren lautlos, ihr Haar schwang im Wind, der durch die geöffneten Fenster drang. Das Kichern ihrer Schwester hallte in ihren Ohren. Gwen beschleunigte ihren Gang. Sie wollte Marsha einholen, neben ihr laufen, aber Marsha war schon immer die Schnellere von ihnen beiden gewesen. Erste Sonnenstrahlen verkündeten einen neuen Tag. Sie fielen auf den blutroten Teppich, der im Flur ausgelegt war. Marsha lief vor ihrer Schwester davon. Immer wieder blickte sie sich um und forderte sie auf, ihr zu folgen. Gwens Beine bewegten sich selbstständig vorwärts. Fast glaubte sie zu schweben. Am Ende des Flurs angekommen hielt Marsha inne. Gwen sah, wie sie durch die zweiflügelige Tür in den Ballsaal spazierte, die sich vor ihr geöffnet hatte. Geigenspiel drang aus dem Raum. Ein eiskalter Windhauch strömte Gwen entgegen, als sie ihrer Schwester in den Saal folgte, der voller Menschen war, die in aufwendigen Roben ausgelassen tanzten. Niemand schien auch nur Notiz von den beiden Mädchen zu nehmen, die sich munter an den Händen hielten und zu der Musik im Kreis drehten. Für einen Augenblick teilte sich die Menge und gab die Sicht auf eine Tür frei, deren Umrisse weiß leuchteten. Marsha hielt einen Moment inne, rannte dann fasziniert darauf zu, blieb davor stehen und winkte Gwen zu sich. Aber ihre Schwester zögerte. Die Menge schloss sich wieder und verbarg Marsha und die seltsame Tür. Gwen war wie erstarrt. Allein traute sie sich nicht an den Menschen vorbei, die eine unheimliche Ausstrahlung besaßen. Sie wirkten fremd und bedrohlich. Gwen stand abwartend da und stierte in Richtung der leuchtenden Tür. Endlich konnte sie einen weiteren Blick darauf erhaschen. Sie sah, wie sich die Tür öffnete und ein weißes, gleißendes Licht daraus drang.

    »Marsha!«, rief sie, als ihre Schwester weiter darauf zuging.

    »Warte!« Angetrieben von der Befürchtung, sie aus den Augen zu verlieren, nahm Gwen all ihren Mut zusammen und manövrierte sich durch die Menge.

    »Geh nicht hinein!«, flehte sie, während sie sich ihren Weg durch die stetig größer werdende Menge bahnte. Sie kämpfte sich voran, doch immer mehr Menschen schoben sich vor sie, streckten ihre Hände nach ihr aus und erdrückten sie beinahe. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

    »Marsha!«, schrie sie noch einmal, dann sank sie keuchend auf den Boden. Die Menschen verschwanden. An ihre Stelle trat eine einnehmende Finsternis, die sie verschluckte. Marsha war unerreichbar für sie geworden.

    Eins 

    Belvoir Castle, Leicestershire – Gegenwart 

    Gwen schlug die Augen auf, als das Taxi vor dem schmiedeeisernen Tor hielt. Es war nicht dem Jetlag zu verdanken, dass sie auf der Fahrt vom Flughafen eingenickt war, sondern vielmehr dem Schichtdienst der vergangenen Wochen, der ihr in den Gliedern steckte und dem schmerzvollen Umstand, der sie hergeführt hatte.

    Sie wusste nicht, warum sie diesen Traum aus ihrer Kindheit erneut geträumt hatte. Nach so vielen Jahren war er noch immer fest in ihrem Unterbewusstsein verankert, ohne dass sie je seine Bedeutung verstanden hatte.

    Müde rieb sie sich die Augen und stieg aus dem Wagen. Sie nahm ihren Koffer vom Taxifahrer entgegen, drückte ihm seinen Lohn in die Hand und sah zu, wie er davonrauschte. Zögerlich wandte Gwen sich daraufhin dem Familienanwesen zu, über dem graue Wolken schnell hinwegzogen. Zweifellos war es ein Märchenschloss. Majestätisch schön lag Belvoir Castle auf einem Hügel, umringt von einem parkähnlichen Garten. Doch die harmonische Fassade war trügerisch. Gwen schauderte bei dem Gedanken daran, was sie im Inneren erwartete. Noch immer konnte sie nicht begreifen, warum sie hier war. Nie wieder würde sie das Haus, in dem sie aufgewachsen war, so glanzvoll sehen können, wie früher. Wie versteinert stand sie da. Sie erblickte die Wiese, die zu beiden Seiten die Auffahrt säumte und unwillkürlich stieg die Erinnerung an eine unbeschwerte Zeit in ihr auf. Der Rasen war gepflegt wie eh und je, trotzdem schoben sich Gänseblümchen zwischen den gekürzten Grashalmen hindurch. Gwen spürte, wie die Traurigkeit sie übermannte. Sie wandte den Blick ab und unter ihren geschlossenen Lidern quollen Tränen hervor. Sie fühlte eine Leere in sich, die überwältigend war, denn ihre Schwester, ihr Gegenstück, ihre innigste Vertraute war tot. Sie würde sie nie wiedersehen. Diese Tatsache, die beiden Worte ›nie wieder‹ versetzten sie in eine Starre. Jedes Mal, wenn sie von der erschütternden Wahrheit eingeholt wurde, fügte es ihr einen Schmerz zu, von dem sie nicht wusste, ob sie ihm gewachsen war.

    Marshas Tod kam plötzlich – wie ein Schlag ins Gesicht, auf den man nicht gefasst ist. Der einem die Luft zum Atmen raubt, die Sinne betäubt und einen verstört zurücklässt. Das alles kam ihr immer noch wie ein wahrgewordener Albtraum vor.

    Vor einer Woche war Gwen mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen worden. Halb wach hatte sie den Hörer abgenommen. Verwirrt hatte sie nur wenige Minuten später aufgelegt. Eine fremde Stimme hatte sie über Marshas tödlichen Autounfall in Kenntnis gesetzt, doch sie glaubte ihr kein Wort. Aufgrund der aufrüttelnden Nachricht war der Anrufer für Gwen nebensächlich gewesen. Eine unverschämte Lüge und Das ist unmöglich, waren ihre ersten Gedanken gewesen und an diesen hielt sie fest. Auch jetzt noch. Obwohl sie inzwischen mit Miranda, Belvoirs Hausdame, und dem Bestatter telefoniert hatte, der mit der Beerdigung ihrer Schwester beauftragt worden war. Sie weigerte sich Marshas Tod zu akzeptieren. War es, weil sie sie nicht mehr gesehen hatte? In den wenigen Momenten, in denen ihr Verstand die Oberhand über ihr Gefühlsleben gewann, glaubte sie den Grund für ihren inneren Widerstand gegen Marshas Tod zu kennen. Bei dem Unfall hatte Marsha schwerste Kopfverletzungen davongetragen, weshalb ihr der Bestatter davon abgeraten hatte, sie ein letztes Mal zu sehen. Gwen hatte es nicht über sich gebracht, ihm zu widersprechen. Allein der Gedanke an ihre tote Zwillingsschwester schnürte ihr die Luft ab. Deshalb hielt sie es für klüger, sie so in Erinnerung zu behalten, wie sie gewesen war.

    Der Himmel war in ein dunkles Grau getaucht. Sicher würde der Regen nicht mehr lange auf sich warten lassen. Gwen holte noch einmal tief Luft, bevor sie ihren Gang Richtung Haupthaus fortsetzte. Mit jedem Schritt kam sie der Realität ein wenig näher. Marsha hatte das Schloss geliebt, jeden einzelnen Stein. Sie war die Bessere von ihnen gewesen, nicht nur wenn es nach Gwen ging. So hatten viele gedacht, selbst Tante Kate, in deren Obhut beide aufgewachsen waren. Marsha war immer die liebenswertere gewesen, die mit dem aufopfernden Wesen. Neben ihr hatte sich Gwen manchmal unbeachtet gefühlt. Nicht zuletzt war sie auch deswegen von Belvoir geflohen. Sie hatte das Nest verlassen, um anders zu sein. Sie wollte glänzen wie Marsha, aber auf ihre eigene, individuelle Art und Weise. Gwen hatte sich für Amerika und eine Karriere als Chirurgin entschieden. Ein Weg, der sie erfüllte. Doch am Ende war es genau dieser Weg gewesen, der ihr die Möglichkeit genommen hatte, ihre Schwester regelmäßig zu sehen. Im vergangenen Jahr hatte sie Marsha immer wieder enttäuscht. Und das obwohl diese von einer Überraschung gesprochen hatte, etwas, das sie unbedingt mit ihr hatte teilen wollen. Gwens Mailbox war voll gewesen mit Marshas euphorisch klingenden Nachrichten, denen sie kaum Beachtung geschenkt hatte, weil sie zu dem Zeitpunkt bis zum Hals in Arbeit steckte. Gwen hatte versprochen zu kommen, sobald ihr Terminkalender es zulassen würde. Drei Mal sagte sie aus zeitlichen Gründen ab und drei Mal hatte sie mitangehört, wie die Stimme ihrer Schwester am Telefon weiter an Freude verloren hatte. Auch das hatte sie nicht veranlasst, einzulenken. Dafür hasste sie sich nun. Immer wieder holten sie die vergangenen Monate ein.

    Gwen nahm einen tiefen Atemzug. Sie schluckte den Kloß hinunter, der sich, wie jedes Mal, wenn sie die Schuldgefühle überkamen, in ihrem Hals festzusetzen versuchte und zog ihre Sonnenbrille auf, obwohl der Himmel sich weiter verdunkelt hatte. Es war seltsam, aber das Schloss verunsicherte sie nach wie vor. Nach all den Jahren fühlte sie sich hier immer noch klein, unscheinbar und … beobachtet. Unmerklich schüttelte sie sich. Die teuren Psychotherapiestunden, die sie wegen ihrer Kindheit auf dem Schloss genommen hatte, sollten nicht umsonst gewesen sein. Gwen zog ihren Koffer über den Kiesweg vor dem Haupteingang hinter sich her. Er war nicht besonders schwer, beinhaltete nur das Nötigste. Schließlich hatte sie nicht vor zu bleiben. Ihr Aufenthalt würde nur so lange dauern, bis die Beerdigung vorbei und die weitere Versorgung ihrer Tante sichergestellt war.

    Vor dem Säuleneingang verharrte sie. Der Türklopfer in Form eines Löwenkopfes schaute ihr mit weit aufgerissenem Maul entgegen. Alles in ihr wehrte sich hier zu sein. Zaghaft legte sie die Hand auf den Klopfer, doch noch bevor sie ihn betätigen konnte, öffnete jemand die Tür.

    »Miss Collins?« Miranda blickte ihr zweifelnd entgegen. Sie war alt geworden. Graue Haarsträhnen blitzten unter ihrer Haube hervor, ihr Gesicht wirkte zerknittert.

    Mit zittriger Hand nahm Gwen die Sonnenbrille ab und drehte sie am Bügel nervös zwischen ihren Fingern.

    »Guten Tag, Miranda.« Mehr als diese kühle Begrüßung brachte sie nicht heraus.

    »Bitte kommen Sie rein.« Sie ließ Gwen eintreten. »Es tut mir so leid, was passiert ist.« Sie schluchzte, kramte ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und tupfte sich die Augen trocken.

    »Mir auch«, würgte Gwen mit gesenktem Kopf hervor. Miranda schnäuzte sich so laut, dass es in der weiten Eingangshalle widerhallte. Halt suchend festigte Gwen den Griff um ihren Koffer. Jetzt, da sie im Schloss war, hatte sie das Gefühl, die Macht über Körper und Psyche endgültig zu verlieren. Ihr Herz machte einen Aussetzer, ihr Atem stand still. Die Trauer war im Begriff sie niederzudrücken.

    »Sie hat das Schloss mit so viel Liebe erfüllt«, unterbrach Miranda Gwens aufkommende Panikattacke. »Es ist nicht zu glauben, dass sie fort ist.« Damit rief sie ihr die unausweichliche Tatsache erneut ins Gedächtnis – als könnte sie diese je vergessen. Gwen konnte nichts darauf erwidern.

    Ihre Kehle war staubtrocken. Sie war jetzt allein und für einen Zwilling war das Alleinsein gleichgesetzt mit Unvollkommenheit.

    »Ich habe Ihnen Ihr altes Zimmer hergerichtet,« erklärte Miranda zwischen zwei Seufzern.

    »Danke. Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

    Für einen Moment blieb Gwen im Vestibül stehen und schaute die große Freitreppe hinauf. Es beschlich sie erneut das seltsame Gefühl, dass jemand von oben auf sie herabsah und sie beobachtete.

    »Sie müssen erschöpft sein, von der Reise«, sagte Miranda. Gwen verdrängte ihr merkwürdiges Gefühl und folgte ihr in den ersten Stock.

    »Wie geht es Tante Kate?«, fragte sie, um sich auf andere Gedanken zu bringen.

    Miranda schüttelte hastig den Kopf. »Oh, seit Marshas Tod hat sie schwer abgebaut.« Auf halbem Weg blieb sie stehen und wandte sich um. »Ich wage es kaum auszusprechen, aber ich befürchte, dass sie diesen Herbst nicht überleben wird. Es geht ihr nicht gut.« Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen. Gwen nickte mitleidsvoll.

    »Sie hat die Fähigkeit zu sprechen fast vollständig eingebüßt«, fuhr Miranda fort. »Vielleicht wartet sie nur noch auf Sie, um zu …«, sie schnappte nach Luft, zog ihr Taschentuch erneut aus ihrem Ärmel hervor und winkte ab. »Sie wissen schon. Miss Marsha hat stets eine belebende Wirkung auf ihre Tante gehabt. Die beiden hatten eine sehr enge Bindung.« Sie schluchzte. »Ich denke, Sie erinnern sich noch, wo das Zimmer Ihrer Tante ist?«

    Gwen krallte sich Hilfe suchend am Treppengeländer fest. Hatte Miranda soeben eine Anspielung auf ihre mangelnde Fürsorge ihrer Tante gegenüber gemacht? Unglaublich, wie schnell ihr mühsam aufgebautes Selbstwertgefühl an diesem Ort schwand. Im weit entfernten Chicago war sie eine angesehene Ärztin, die schon unzähligen Menschen das Leben gerettet hatte. Hier hatte das für niemanden eine Bedeutung. Sie blieb die Schwester, die sich gegen ein Leben auf dem Schloss entschieden, die sich ihren Familienpflichten entzogen hatte. Könnte ihre Tante noch sprechen, würde sie ihr wahrscheinlich sagen, dass sie lieber sie als Marsha unter der Erde gesehen hätte. Katelyn Collins-Rutland hatte Gwens kühle Art schon immer verurteilt. Jetzt war sie die einzige noch lebende Verwandte, die nach dem Tod ihres Sohnes und dem von Marsha übrig war.

    Oben angekommen passierte Gwen Marshas Zimmertür und ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken. Ihr war, als spüre sie dahinter immer noch die Anwesenheit ihrer Schwester. Es war unheimlich. Direkt daneben befand sich Gwens altes Zimmer, in dem sich nichts verändert hatte. Weder das Himmelbett mit den blauen Seidenvorhängen noch die Kommode vor dem Fenster, auf der die Waschschüssel mit Blütenornamenten stand.

    Neben dem Kleiderschrank war sogar noch ihre, mit einem großen G versehene Spielzeugtruhe. Gedankenverloren klappte Gwen den Deckel auf. Aus dem Inneren blickten sie die freundlichen Knopfaugen eines braunen Teddybären an. Gwen nahm das alte Plüschtier hoch und strich mit einem wehmütigen Lächeln über dessen flauschig-braunen Pelz.

    »Wie Sie sehen ist hier alles beim Alten geblieben.« Miranda steckte ihren Kopf durch die Tür. »Ich lasse Sie jetzt allein, damit Sie in Ruhe auspacken können.«

    Gwen nickte ihr dankend zu. Den Bär noch in der Hand, ließ sich Gwen seufzend auf die Bettkante sinken. Sie schloss für einen Moment die Augen und sog den vertrauten Geruch ihres alten Kinderzimmers ein. Ihre Gedanken kreisten um längst vergangene, unbekümmerte Tage. Wie oft hatte Marsha sie bei Sonnenaufgang aus dem Bett geholt. Gemeinsam hatten sie dann das Schloss erkundet und dabei zugesehen, wie es langsam erwachte. Es hatte viele schöne Momente gegeben. Gwen fragte sich, warum ausgerechnet die negativen Erfahrungen in ihr überwogen. War sie zu wenig wertschätzend? Hatte sie das Glück nicht sehen wollen, das sie umgeben hatte? Im Gegensatz zu Marsha war sie stets unzufrieden, fordernd und rebellisch gewesen. Erst recht in ihrer Teenagerzeit. Wahrscheinlich hatte ihre Tante, die damals schon über sechzig gewesen war, sie deshalb als anstrengend empfunden.

    Eine Stimme auf dem Flur riss Gwen aus ihren Überlegungen. Sie schreckte hoch, denn sie glaubte die Stimme als die wiederzuerkennen, die ihr am Telefon vom Tod ihrer Schwester berichtet hatte. Ihr Puls schnellte in die Höhe. Verdrängte Fragen schoben sich in ihr Bewusstsein. Wer war dieser Mann überhaupt gewesen, der sie an jenem Morgen angerufen hatte und woher kannte er Marsha?

    Gwen blieb zunächst an der Tür stehen, dann trat sie auf den Flur und ging bis zur Treppe. Unten, in der Empfangshalle erblickte sie einen Mann, der sich mit Miranda unterhielt. Lautstark räusperte sie sich, um auf sich aufmerksam zu machen. Beide wandten sich ihr zu. Zunächst starrte der Mann sie ungläubig an, anschließend senkte er unsicher den Blick.

    »Entschuldigen Sie, Miss Collins. Wir hatten Sie nicht bemerkt.« Miranda wirkte leicht durcheinander.

    Gwen stieg die Treppe hinunter. Ratlos schaute sie zwischen dem Mann und Miranda hin und her.

    Der Mann sah sie an, als wäre sie eine Erscheinung. Auf Gwen wirkte es wie ein unverhohlenes Starren. Es war ihr unangenehm. Er blinzelte nicht ein einziges Mal, als er ihr seine Hand reichte.

    »Sie müssen Gwen sein. Gwendolin«, verbesserte er sich schnell.

    »Und Sie sind?« Ungeduldig ignorierte sie seinen Gruß.

    »Riley Jacobs.« Er ließ seine Hand sinken und führte sie hinter den Rücken, dabei sah er sie fortwährend an. Gwen blickte ihm entgegen, wartete darauf, dass er seiner Vorstellung noch etwas mehr hinzufügte.

    »Sagen Sie, Mr. Jacobs, pflegen Sie alle Frauen in England so anzustarren oder bin ich eine Ausnahme?«

    Verunsichert wandte er den Blick von ihr ab. »Es tut mir leid. Nein, für gewöhnlich starre ich Frauen nicht so an. Und ja, Sie sind die Ausnahme.«

    Gwen lächelte ein bisschen. »Dann darf ich mich wohl geschmeichelt fühlen.«

    Er seufzte tief. Auf einmal wirkte er sehr bedrückt.

    »Es ist ein wenig gewöhnungsbedürftig.« Er machte eine Pause und holte tief Luft. »Sie sehen ihr wirklich sehr ähnlich.«

    Gwen runzelte die Stirn.

    »Ich bin … ich war Marshas Verlobter«, erklärte er. »Wir haben telefoniert. Erinnern Sie sich?«

    Gwen stand da wie versteinert. Was hatte dieser Mann gerade behauptet? So lange sie zurückdenken konnte, hatte sie nie einen Freund ihrer Schwester kennengelernt und jetzt sollte sie sogar verlobt gewesen sein. Hatte Marsha ihr das die ganze Zeit über erzählen wollen?

    Gwen atmete schwer. »Ja, ich erinnere mich vage.«

    Er nickte beklommen. »Es war nicht leicht für mich Sie anzurufen, um Ihnen diese Nachricht zu übermitteln. Schließlich kennen wir uns nicht – zumindest nicht persönlich. Marsha hat mir viel über Sie erzählt. Deswegen habe ich irgendwie das Gefühl Sie zu kennen. Wenn Sie verstehen, was ich meine.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe gedacht, Sie würden es lieber von mir erfahren als von der Polizei. Marsha hat Ihnen ja sicher von mir erzählt.«

    »Ich nehme an, das hatte sie vor. Sie wollte es mir sagen …« Gwens Stimme brach ab.

    »Sie arbeiten viel.« Er nickte wissend. »Marsha hat das immer verstanden.«

    Gwen konnte ihre Tränen nicht zurückhalten. Hektisch kramte sie in ihrer Hosentasche nach einem Taschentuch.

    »Hier.« Er hielt ihr eines hin. »In diesen Tagen habe ich davon immer mehr als genug.«

    Reglos schaute Gwen auf das Taschentuch in seiner Hand. Sie wollte nicht, dass sie jemand weinen sah, erst recht nicht dieser Mann. Der, nach allem, was sie nun wusste, ihrer Schwester in den letzten Monaten nähergestanden hatte als sie. Widerwillig nahm sie dennoch an und wandte sich ab, während sie ihre Tränen trocknete.

    »Miranda, würden Sie uns bitte einen Tee machen«, bat er. Gwen drehte den Kopf in seine Richtung. Beide sahen zu wie die Hausdame seiner Anweisung folgte.

    »Entschuldigen Sie bitte. Aber, ich denke, das wäre wohl meine Aufgabe gewesen«, sagte Gwen stockend. Es kam ihr dumm vor, ihn darauf hinweisen zu müssen, dennoch hatte sie sich nicht zurückhalten können. Für gewöhnlich hielt sie nichts davon, dass sich die Leute strikt an Konventionen hielten, aber in diesem Fall fühlte sie sich übergangen.

    »Natürlich.« Er schaute sie irritiert an. »Verzeihung. Es ist wohl irgendwie zur Gewohnheit geworden.«

    Gwen zog die Nase hoch und verstaute das Taschentuch in ihrer Jacke. Seufzend richtete sie sich auf. »Ist schon in Ordnung. Ich reagiere wohl etwas über. Das kommt gerade häufiger vor. Ich weiß einfach nicht, wo mir der Kopf steht.«

    »Das ist doch nur verständlich. Sie müssen sich nicht entschuldigen.«

    »So traurig es auch klingen mag«, begann sie mit einem schwachen Lächeln. »Ich vermute, dass ich allen Grund dazu gegeben habe, dass man mich übergeht oder vergisst. Ich habe mich viel zu selten hier blicken lassen. Die Verantwortung für das Schloss, für Tante Kate … alles habe ich auf Marsha geladen und so getan, als würde es mich nichts angehen. Eigentlich kann ich es niemandem hier übelnehmen, wenn er an meine Anwesenheit nicht mehr gewöhnt ist. Da ändert es auch nichts, dass ich aussehe wie sie – wie Marsha.«

    Die Wahrheit tat weh. Gwen hatte nicht vorgehabt, sie vor ihm auszusprechen. Es war einer Beichte gleichgekommen, die die Last von ihr nahm, die sich die ganze Zeit über in ihr angestaut hatte. Verlegen sah er nun an ihr hinauf, als wüsste er nichts dazu zu sagen. Unabsichtlich hatte sie ihn in eine unangenehme Situation gebracht. Sie musste das peinliche Schweigen, das sie hinaufbeschworen hatte, durchbrechen.

    »Vergessen Sie einfach, was ich gesagt habe. Ich bin zurzeit einfach nicht ich selbst.« Sie biss sich auf die Unterlippe, um zu verhindern, dass sie noch mehr unvorsichtige Worte hinausjagte, die ihr Innerstes nur allzu gut widergaben. Er musste ja nicht wissen, wie emotional instabil sie war.

    »Ich sollte jetzt besser zu meiner Tante gehen«, erklärte sie nachdem er immer noch nichts gesagt hatte. »Sie erwartet mich sicher.« Sie wandte sich

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