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Quell des Lebens
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eBook307 Seiten4 Stunden

Quell des Lebens

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Über dieses E-Book

An der nördlichsten Küste Islands entspringt eine Quelle, die Überlieferungen zufolge über geheimnisvolle Heilkräfte verfügt. Als ein heftiger Vulkanausbruch Island – damals eine dänische Kolonie – im 18. Jh. verwüstet, wird im fernen Kopenhagen die Zwangsdeportation der Bevölkerung geplant. Der junge Wissenschafter Magnús Egede wird auf die Insel geschickt, um die Umsetzung dieses Plans zu betreiben – stattdessen jedoch verfällt er der Faszination der rauen Landschaft, ihrer Archaik und der Schönheit von Sesselja, einem stummen Mädchen aus den Westfjorden. Als Magnús von einem Eisbären schwer verletzt wird, ist es das Wasser aus dem Quell des Lebens am Rande der bewohnbaren Welt, mit dem Sesselja ihn heilt – nur um ihn wieder zu verlieren…
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum18. Feb. 2020
ISBN9783701746286
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    Buchvorschau

    Quell des Lebens - Bergsveinn Birgisson

    I.

    Es war in jenen Tagen, als das Leben des isländischen Volkes an einem seidenen Faden hing. Zu Johannis des Jahres 1783 unseres Herrn riss die Erdkruste am Skaftárjökull westlich des mächtigen Vatnajökull, sodass die nahe liegenden Siedlungen von glühenden Lavaschlämmen überschwemmt wurden, und aus der Feuerwunde schoss ein Sturm aus Bimsstein und Asche, der die Sonne verfinsterte. Die flammenden Zungen streckten sich hoch in den Himmel, und es wird gesagt, dass man das Feuer schon sechs oder sieben Tagesreisen weit sehen konnte, obwohl alles von Aschedunst durchdrungen war. Und weil der Ausbruch die Luft mit glühender Asche erfüllte, wurde dieses Ereignis von allen die »Not des Dunstes« genannt. Eine andere Besonderheit war die beispiellose Dauer des Vulkanausbruchs, die Erde setzte fast ein Jahr lang fort, Feuer und Asche zu speien, sodass mit der Zeit viele glaubten, das Feuer würde niemals erlöschen.

    Gelber Schneeharsch und eine kupferfarbene Kruste legten sich über das Land und hemmten in den südlichen Bezirken weithin den Graswuchs, im Osten kämpften die Menschen mit Feuer und Steinschlag, während im Nordland bei vorherrschenden Südwinden Bimsstein und Asche niedergingen und den Pflanzenwuchs erstickten; die Menschen gingen in Rauch gehüllt. In den nächsten Jahreszeiten blieb die Witterung kalt, der Sonnenschein schwarz, wie es in einem alten Gedicht heißt.

    Und doch war es nicht so, dass ein solcher Vulkanausbruch hierzulande noch nie dagewesen wäre – als die Katastrophe begann, murmelten die Leute viel eher die verwunderte Frage vor sich hin, ob es nun auch »dort zu brennen begonnen hätte«. Denn Anfang dieses selben Jahrhunderts hatte es so gewaltige Vulkanausbrüche in den Grímsvötn, dann in den Ostgletschern gegeben, dass die Erde schwarzen Sand über die Þingeyjarsýsla und den Eyjafjörður spie mit Wetterdunkel und Krachen. Vier Jahre später kam es zu gewaltigen Eruptionen am Gletscherschlund der Katlaspalte mit Ascheschwaden, dichtem Rauch, Feuerdämpfen und einer gewaltigen Wasserflut über den Mýrdalssandur, die großen Schaden und Not brachten. Drei Jahre danach brach die Krabla aus, wie man sie damals schrieb, der Mývatn trocknete fast vollständig aus, und lange dauerte das Wüten des Feuers an, sei es in der Krabla, dem Leirhnjúkur oder im Bjarnarflag.

    Und während dies geschah, barst auch der Öræfajökull mit entsetzlicher Heftigkeit, sodass Gletscherblöcke, kleinen Bergen gleich, über das Unterland rollten, gefolgt vom Speien glühender Asche. Diese Heimsuchungen setzten in der Mitte des Jahrhunderts erneut ein, als der Mýrdalsjökull mit gewaltigen Überschwemmungen eiskalten Wassers und Giftgaswolken aus dem Maul der Katla abermals explodierte. Dem folgten Erschütterungen, ein Bersten der Erde, Landbeben und loderndes Feuer aus einer Spalte, aus der glühende Steine auf die Bezirke ringsherum herniederschlugen. Zehn Jahre später, genauer 1766, begann dann die Hekla zu brennen und es ging wie mit der Katla – Ländereien mussten aufgegeben werden, Mensch und Vieh fielen auf der bimsstaubbedeckten Erde tot nieder, sobald der Berg kleine Wolken ausstieß, die Sonne schien blutrot durch den Staub und die aschegeschwängerte Nebelluft. Der Schaden war am ärgsten in den Bezirken Húnavatnssýsla und Skagafjarðarsýsla, denn dorthin trug der Südwind den meisten Aschenregen. Draußen vor Reykjanes begann es im selben Jahr auch zu brennen und eine Zeit der Not hob an. Da wölbte sich eine Insel aus dem Meer, die unser König Christian VII ohne Umschweife Nýey, neue Insel, taufte. Es ist ein königlicher Beschluss erhalten, in dem Kammerherr Levetzow und Magnús Stephensen aufgefordert werden, eine Landung zu versuchen und »dem König die Insel zuzueignen«, aber das war unmöglich wegen der andauernden Lavaeruptionen, und so bleibt es das einzige Beispiel dafür, dass ein Dänenkönig sein Hoheitsgebiet ohne den geringsten Krieg vergrößerte. Einige Zeit später brachen die bereits erwähnten Skaftárfeuer aus. Man wunderte sich weithin, dass »es auch dort zu brennen begonnen hätte« – aber was niemand im Vorhinein ahnen konnte, waren Ausmaß und Dauer dieser Naturkatastrophe, die alle früheren in den Schatten stellte.

    Man darf auch nicht glauben, dass dieser Vulkanausbruch das einzige Übel gewesen wäre, das die Isländer in dieser Epoche heimgesucht hätte. Eher wäre die Redensart angebracht, dass ein Unglück selten allein kommt. Gewaltige Fluten wälzten sich bis zu fünfzehnhundert Klafter weit auf trockene, niedrig liegende Gebiete, Treibeis suchte das Land den Großteil des Winters über heim, und die Kälte war so klirrend, dass das Meer gefror – es wurde zum mare concretum, wie die Alten das Eismeer nannten. Die Leute gingen trockenen Fußes von Reykjavík direkt nach Akranes und genauso zwischen den Inseln im Breiðarfjörður umher. Das führte zu einem völligen Ausfall des Fischfangs von der September-Kreuzmesse 1783 weit bis ins nächste Jahr hinein, zusätzlich zu dem großen Viehsterben. Es gibt verblüffend genaue Aufzeichnungen der Wissenschaftler dieser Zeit über Bevölkerungsschwund und Viehtod. Grasmangel führte dazu, dass Pferde andere verendete Pferde fraßen, so wie auch Wände, Gebälk und das Bretterwerk aufgegebener Höfe, und die Schafe fraßen ihre Wolle – worauf sowohl die einen wie die anderen siech wurden und verreckten. Auch die Menschen aßen alte Pferdekadaver, wurden krank und starben, während die Rinder an Unterernährung und inneren Krankheiten oder verstopften Atemwegen eingingen. Mancherorts, wie etwa an der Skaftá, wird in der Lebensbeichte eines Pfarrers, der nicht aus dem Gebiet geflohen war, berichtet, dass in den Siedlungen die Leichen ohne Sarg in Massengräbern gestapelt wurden und man darüber Erde schaufelte.

    Das nannte man Menschen einerden.

    Die Zahlen sprechen für sich. Im Jahr 1784 wurde die Bevölkerung in Island um 4289 reduziert, die Pferde wurden um 28 000 weniger, das Rindvieh um 11 461, das Schafvieh um 190 488. Das sind beachtlich genaue Zahlen, und es ist höchst eindrucksvoll, wie viel wir angesichts des Ausmaßes der Katastrophe über den Tod und seine Opfer wissen.

    Um das Maß der Zerstörung vollzumachen, grassierte eine der schlimmsten Pockenepidemien aller Zeiten, wie auch die Amöbenruhr, Skorbut, Mumps, und die Kleinkinder starben vor allem an Atemnot, Husten und Syphilis, Magenkrämpfen und Masern. Dazu kamen noch Rippenfellentzündungen als Folge der Pocken. Die Zahl der Leprakranken wuchs stark an, nach Meinung unseres Landesphysicus Bjarni Pálsson vor allem aus Unachtsamkeit und mangelnder Hygiene. All diese Plagen kamen mit ausländischen Schiffen in die Häfen des Landes; auch wenn deren Beladung viele vor dem Hungertod bewahrt hat, so töteten sie in Wirklichkeit noch mehr.

    Man darf nicht vergessen, dass das gemeine Volk in seinem Elend schon im Jahr 1781 gezwungen war, von der Compagnie der Zinskammer billigere Gerste zu kaufen. Diese war verpflichtet, das sogenannte Notkorn zu liefern. Aber aus Hungerwahn und Nahrungsknappheit sowie aufgrund des allgemeinen Mangels an Aufklärung durch den Königlichen Handelsverein verabsäumten die Menschen, Grannen und Schalen der Gerste auszusieben und aßen das ganze Getreide, was in weiten Landstrichen zu Ruhr und Magenkrankheiten führte und die Menschen reihenweise niederstreckte. Zügelloser Genuss von Haifischfleisch tötete sodann viele im westlichen Teil des Landes und im Nordwesten – vor allem wegen des Mangels an Brennivín, des Schnapses, der ein zu dieser Speise notwendiger Trunk ist, vor allem wenn in Hungersnöten direkt von den Haufen Haifischfleisch, das in der Erde reift, gegessen wird. Zudem wurde die wenige Vegetation, die unter Asche und Bimsstaub des Jahres 1784 zu sprießen vermochte, von Würmern befallen, sodass die Birken abstarben. Obstbäume gingen ein. Versuche, Korn anzubauen, zeitigten keinen Erfolg, und niemand kümmerte sich um die Tabakbäume, die das einzige zu sein schienen, das sich in Asche und Rauch behauptete. Gestrandete Wale brachten nur kurze Erleichterung, denn die Kadaver heizen sich im Innern auf, wenn die Fäulnis einsetzt, die Gedärme explodieren, sodass Kot das Fleisch vergiftet, und so fielen den gestrandeten Walen manch gute Leute zum Opfer, die gedacht hatten, ihr Leben sei fürs Erste gerettet.

    Während es die allgemeine Not und die Naturkatastrophen waren, die die meisten Armen und Nutzlosen dahinrafften, die hinfälligen Alten, unnötiges Drecksgesindel, Gierschlunde und Kranke, Rossfresser, Faulsäcke und Landstreicher, kümmerten sich die Seuchen um die besten Menschen in der Blüte ihrer Jugend, um Menschen, die am stärksten waren und die ärgsten Katastrophen überstanden hatten.

    Leben war das keines.

    Es war nicht möglich – zu leben.

    Berichte über den Zustand unseres kleinen Landes erlangten Berühmtheit und wurden auch in jenen Ländern debattiert, die ebenfalls die Auswirkungen der dunklen Aschewolke spürten, die sich von Sibirien bis Alaska über die nördliche Hemisphäre gelegt hatte und gen Süden bis Italien, wo die Weintrauben in der Kälte nicht zu reifen vermochten. Von den allgemeinen Ernteausfällen auf der nördlichen Halbkugel behaupten manche, sie seien der Ursprung großer Revolutionen gewesen.

    Die Menschen waren sich nicht einig, ob hier Gott oder der Teufel am Werk sei, oder ob es sich vielleicht gar um deren Zusammenarbeit handle, als hätte der eine beschlossen, wegen der schlechten Lebensführung der Menschen die Segel der Gnade zu streichen und dem anderen so die Gelegenheit zu geben, sich nach Lust und Laune auszutoben. Dennoch meldeten sich jetzt auch Leute zu Wort, die meinten, dass weder der eine noch der andere dahinterstehe – Männer, die schrieben, dass Kirchen, die davongeweht worden oder unter der Lava verschwunden waren, »unnötig« gewesen seien, und die diese Zerstörung nicht betrauerten. Das waren die Männer der neuen Zeit, die wie ein frischer Wind durch unseren Teil der Welt brauste, es war der neue Mensch, der die Natur mit der harten Hand der Wissenschaft besiegen und mit seinem Verstand und seinem Einblick in die Gesetze von Gottes Räder werk zähmen wollte. Alles konnte man messen, verstehen und in passenden Paradigmen ordnen, und wenn jedem Ding die richtige Nische zugewiesen war, dann bestand, wie der große Wissenschaftsrevolutionär Descartes lehrte, die Aufgabe der Wissenschaft darin, das Wesen des Dings an sich zu erforschen, allderings nicht mehr in Verbindung mit anderen Dingen, denn die überlieferte »Signaturenlehre« wurde jetzt als veralteter Mönchsirrtum bezeichnet. Ihr hingen jene an, die nach den Zeichen Gottes in der Schöpfung suchten, die Gesetze dahinter aber nicht verstanden und Mittel gegen Kopfschmerzen aus Walnüssen herstellten, weil diese dem menschlichen Gehirn ähnelten. Nichts sollten die Menschen glauben, bevor es nicht empirisch nachgewiesen war, sie sollten alles Alte anzweifeln, dem die Leute bisher gedankenlos gefolgt waren. Die neuen Menschen meinten, dass die, die nicht dachten oder zweifelten, nicht existierten.

    Diese neuen Menschen sagten: Es ist weder Gott noch der Teufel am Werk, sondern die Katastrophen einer blinden Natur! Vulkanologen sagten, die Welt werde durch innere Spannung aufgerissen und die Lavaströme schössen daher wie Blut aus einer tiefen Wunde, tief darunter sei einzig lodernder Magmaschlamm. Auf der Hekla gäbe es keinen Höllenschlund, sondern ein Loch hinab bis eben zu diesem Feuer, das dort lebte und durch die Schründe der Erdkruste ausbrach. Das seien Natur und Gesetz der Erde, deren blinde Kräfte keinen Unterschied machten zwischen den Menschen. Oder wie sollte man erklären, dass Unserer Lieben Frau Kirche in Kopenhagen bis auf die Grundmauern abbrannte, während das Hurenhaus unversehrt danebenstand? Armut und Übel waren Schuld des Menschen selbst, Katastrophen die einer blinden Natur. Gott hatte mit diesen Dingen nichts zu tun.

    Wo war ich noch einmal?

    Ja, doch, es schien in diesen Tagen, als sei das Leben, um es geradeheraus zu sagen, nicht möglich. Und es waren nicht nur die Isländer selbst, die sich dessen bewusst waren, auch andere hatten über gewisse Vorkehrungen nachzudenken begonnen, damit die Einwohner des Landes nicht für immer ausgelöscht würden.

    II.

    Pferdekutschen rattern geräuschvoll, jede aus ihrer Richtung, über gepflasterte Straßen zum Schloss Christiansborg, Kopenhagen. Die Stadt ist zur Abwehr gegen die Schweden von mächtigen Wällen und Kanälen umgeben, die sich wie Bordüren und Posamenten auf den Gewändern der Menschen schlängeln. Manche der Wägen kommen vom Westtor dieses Walls, dem sogenannten Vesterport, andere von den anderen Toren. Als sie an den fein herausgeputzten Freudenmädchen vorbeirasen, die unter den hohen, aus dem Schloss herausragenden Arkaden elegant gekleidete Männer charmieren, erinnern die Kutschen an Drachen, wenn bei Nieselregen die Sicht schlecht ist. Dort hängen Lebertranlaternen wie Sonnen im Nebel, grau an den Rändern, und die Hufschläge hallen in den Gängen wider.

    Die meisten Männer haben während der Fahrt ihre Perücken abgenommen und entweder auf ihren Schoß gelegt oder an einen Haken im Wagenfond gehängt. Sie beginnen mit dem Aufsetzen ihrer Haarpracht erst, wenn das Gefährt in die Slotsholmsgade einbiegt. Entlang der Straße verläuft ein Wassergraben, der zum Schlossplatz vor Christiansborg hin, dem kleinen Viereck vor dem rötlichen Gebäude mit dem gewaltigen Relief über seinem Eingang, breiter wird. Christian IV. thront in der Mitte des Reliefs, umgeben von Waffen und Flaggen, Ankern, Tonnen und allem möglichen Plunder. Dies ist das berühmte Kanzleigebäude, worin sich die Königliche Zinskammer befindet.

    Die Perücken sind so umfangreich geworden, dass die Beamten sie sich bei jeder Gelegenheit vom Kopf reißen, sobald sie nicht in der Öffentlichkeit sind, denn man schwitzt darin, und außerdem nisten sich mehr denn je Läuse und Flöhe ein, denn die Zeit der weißen Perücken ist angebrochen, mit dazugehöriger Puderung und dem Dressieren von Mehl und Kalk auf dem talggefetteten Haar.

    Zitrusblütenduft und Lavendelgeruch steigen auf, wenn dieser Lebensraum, den eine Haarperücke darstellt, in Bewegung gerät. Die meisten tragen eine große Perruque de Campagne mit einem Schwall kolossaler Locken von der Stirn bis in den Rücken, oben zur Schmalzwelle frisiert und hinten zum Schweineschwanz gebunden, der bis zur Hüfte reicht. Die letzte Phase der Perücke dräut, und wenn sich etwas dem Ende zuneigt, wird es gern übertrieben, die Perruque de Campagne ist ein gutes Beispiel dafür.

    Andere, insbesondere die Jüngeren, widert der Aufputz an und sie sind zu einer Mischung aus Haar und Perücke übergegangen, dem Toupee, wie es in Kopenhagen heißt, denn das meiste, was Mode, Theater, Künste, Wissenschaften oder Literatur betrifft, wird mit französischen Wörtern bezeichnet. Briefe beginnen mit monfrere oder amice, und die Epoche wird von jener geldschweren Kaufleute-Elite, die es genießt, sich in affigem Putz auf den Straßen und Plätzen der Stadt zu zeigen, florissante, blühend, genannt. Die Männer beginnen zumeist damit, sich den Perückenpuder von der Hose zu klopfen, wenn sie vor der Treppe aus dem Wagen steigen.

    Sie fangen an, sich über die Witterung zu beschweren, über die beispiellose Kälte, eine Klage, in die so gut wie alle Europäer einstimmen könnten. Der Überzieherbedienstete nimmt Talare, Mäntel, Umhänge und Paletots in Empfang, aus denen sich die Männer wuchten. Gespräche kommen im Foyer in Gang, die Männer blicken weder auf die Rokokomalereien, die das Tor schmücken, noch auf die Skulpturen der Trinkhörner Christians VI., aus denen Goldstücke quellen. Es gibt so vieles zu besprechen. Die Männer lassen sich an Marmortischen mit vergoldeten Füßen nieder, ein Lakai steht mit Gewürzwein auf einem Tablett bereit. Einige diskutieren die Idee der Franzosen, von der neulich im Abendblatt berichtet wurde, Hunderte ausgehungerter Wölfe auf den britischen Inseln auszusetzen, um sie einen großen Teil der Bevölkerung fressen zu lassen.

    Es würde sicher verschiedenes in unserem Interesse Stehendes verändern, wenn dies geschähe. Die Männer nicken. Gewürzwein. Laute Stimmen ertönen von einem der Tische, so störend, dass die anderen ihr Geplauder unterbrechen. Ein Artikel in den Kopenhagener Post-Nachrichten vom Vortag hat eine heftige Debatte ausgelöst. Dort wurde ein Auszug aus den Schriften des Naturwissenschaftlers de Buffon ins Dänische übersetzt, worin behauptet wird, die Erde sei 168 000 Jahre alt! Was, wenn sich dieser Irrglaube im gemeinen Volk verbreitete! Wie die Pest! Was käme als nächstes?

    Bis jetzt war die Erde in einer Woche erschaffen worden, zweifellos inklusive Wochenende, und dies vor gerade dreitausendfünfhundert Jahren. Walknochen, die man auf einem Berg in Norwegen gefunden hatte, warfen ebenfalls Fragen auf, auf die es keine einstimmigen Antworten gab. Manche wollten diesen Fund als Zeichen deuten, dass die Welt älter als dreitausend Jahre sei, da die Auffaltung des Landes so langsam vonstattenging. Andere hielten an der Heiligen Schrift fest und fanden in dem bewussten Beispiel empirische Beweise für die Sintflut, der Wal war selbstverständlich eben über dem Berg geschwommen, als Gott das Wasser abdrehte und es zurückwich.

    Es kann sein, dass unsere Heilige Schrift nicht wortwörtlich zu nehmen ist, wenn sie von Tagen spricht, sagt ein Mann mit spitzer Nase, hoher Stirn, roten Wangen und Kinnfurche. Und wenn zehntausend Jahre in einem Tag wären, dann ist das Alter der Erde nach de Buffon nicht so weit entfernt. Es ist der junge ehrgeizige Reventlow, die Älteren quittieren dies mit Murren und Stöhnen.

    Ein Mann gesetzten Alters, mit Dreifachkinn unter dem kugeligen Kopf und mit mächtiger Perücke, antwortet mit heiserer Stimme: Und dann? Was kommt als Nächstes? Daran zweifeln, dass Gott existiert? Dass der Auszug Moseins Verheißene Land ein Märchen ist und die Speisung des Volkes mit zwei Fischen durch unseren Herrn Jesus Christus eine reine Volkssage? Gäbe es nicht überall diese Liederlichkeit, hätte man diesen Gotteslästerer de Buffon längst wie den Dominikanermönch da verbrannt, wie hieß er doch gleich …?

    Du meinst Bruno, sagt der Dritte, ein Mann mittleren Alters mit tiefer, gelassener Stimme und einer gewissen Ausstrahlung. Die Stickerei, die seine lange Jacke ziert, ist so gewaltig, dass es wohl Monate gebraucht hat, sie zu fertigen.

    Die Gruppe im Foyer der Königlichen Kanzlei bricht nun auf, man geht durch den schwarzweiß gekachelten Flur, vorbei an den Büros der Deutschen Kanzlei und anderer bedeutender Institutionen des Dänischen Reichs, hier wird das Schicksal der Völker entschieden – ein Machtspiel auf dem Schachbrett. Am Ende des Ganges, nachdem sie das Gemach der Geliebten Seiner Majestät passiert hat und schließlich durch den geschnitzten Türstock ihr Entrée im Kollegiumssaal der Königlichen Zinskammer macht, ist die Gruppe immer noch ins Gespräch vertieft.

    Beim Eintreten verneigen sich die meisten ein wenig vor dem Gemälde, das dort am Eingang an der Wand hängt. Es ist ihr höchster Herrscher: König Christian VII. Man kann sagen, dass einige verhalten grinsen oder sogar sanft durch die Nase seufzen, während sie den Kopf neigen. Auf den Straßen und Plätzen wird darüber geredet, dass der König in letzter Zeit miserabel geworden sei. Manche meinen, er sei schlicht und einfach dabei, sich in ein Tier zu verwandeln. Es gehe mit ihm bergab, seit Struensee wegen seiner Affäre mit der Königin enthauptet wurde. Er sei viel zu arg hinter dem weiblichen Geschlecht her und halte weder darin noch im Trinken Maß, und solches sei eines Königs unwürdig. Aus der Kanzlei hat man gehört, dass manche eine Gesetzesänderung befürworten, um ihn seiner Verpflichtungen zu entbinden und den jungen Kronprinzen Frederik an seiner statt einzusetzen.

    Wir, die wir von weniger eleganten Orten stammen, können es nicht lassen, in diesem Saal so viel Schönes zu bewundern, auch wenn die Männer es nicht mehr sehen. Französisch inspirierte Gipsstuckatur in drückendem Barockstil breitet sich in den Ecken aus, mit Flügeln und Weintrauben. Die Decke ist in starken Farben gemalt, es ist die göttliche Vorsehung, dargestellt als vollbusige Frau aus dem Volke, die zuoberst thront und auf einem blauen Ball sitzt, der Weltkugel, umkränzt von weißen Wolken, und es wimmelt von dicken, weißhäutigen Putten, die aus den Wolken stieben. Darunter sieht man viele Frauen, sogar ein völlig nacktes Frauenzimmer, das die Liebe symbolisiert, aber am unteren Rand des Bildes befindet sich Kronos, der ein kleines Kind frisst, er hat dessen Hand tief in seinem Mund – die Zeit frisst ihre Kinder.

    Wir wenden unsere Aufmerksamkeit zwei Männern zu, die ein wenig abseits der dänischen Herren stehen, an dem großen Kachelofen in der Ecke des Saales. Sie scheinen sich in einer anderen Sprache zu unterhalten als die Herren, wenngleich nicht frei von Wortfetzen in Latein, Dänisch und Französisch. Der eine der beiden steht kerzengerade und hell, mit roten Wangen wie ein Knabe, mit gelocktem Haar, einem weißen Seidentuch um den Hals und geklöppelter Hemdbrust, in einem eleganten Samtjackett, dessen Muster sich wie ein Relief von dem Stoff abhebt.

    Der andere. Nichts ist wahrscheinlicher, als dass er sich dafür schämt, so groß zu sein, er steht ganz gekrümmt da. Weite, gaffende Ärmel an den Jacken der Männer, aufgestreckt an den Säumen und aufwendig bestickt. An der Haltung des großen Mannes mit den gesenkten Schultern, dem kleinen Buckel und der eingefallenen Brust kann man sehen, dass er ein unglücklicher Mann ist. Sein Antlitz ist weit jünger als der Körper, auch wenn in dem eingefallenen Gesicht dunkle Ringe die schwarzen Augen umgeben. Mager ist er wie ein Fisch. Er schaut den jungen, hellen Seidentuchmann an. An den Schläfen ist er grau geworden, grau auch die Haut, dennoch hat er nicht das Gesicht eines Alten – auch wenn solche Behauptung nicht bewiesen werden kann. Manches kann nicht bewiesen werden, so wie Intuition oder Gefühl – dieses Zeug ist nicht in Mode. Die beiden stehen an dem großen Kachelofen, sprechen leiser.

    Als alle in den Saal gegangen sind, erblicken sie zwei lange Tafeln, die vor dem Rednerpult aus dunkler Eiche stehen, der Saal selbst ist holzvertäfelt bis zur mittleren Höhe der gekalkten Wand und Damast schmückt die Stühle und auch die Fenster. Noch mehr Herrscher mit Perücke prangen an der Wand, manche in grellen Farben gemalt, mit weiß gepuderten Wangen, roten Lippen, einem Muttermal auf dem Backenknochen. Das sind ältere Könige, wie Frederik der Dritte, der buchverliebte Antiquitätensammler, dann Christian der Dritte, der in Island den Lutherglauben und das Große Gericht einführte, Letzteres um zu erproben, ob strenge Zucht und Strafe wohl die Hurerei mindern und die Tugenden mehren könnten. Die harten Strafen scheinen den gegenteiligen Effekt gehabt zu haben, sie brachten wenig anderes hervor als einen ansehnlichen Anstieg der Zahl ertränkter isländischer Frauen und der Antlitze ausgesetzter Neugeborener am Fenster in Schlafliedern – aber jetzt schweifen wir ab. Wir waren dabei, die Versammlung in der Königlichen Zinskammer in der Dänischen Kanzlei in Kopenhagen im Winter 1784 zu schildern.

    Herr Kammerherr Levetzow betritt das Rednerpult. Er ist gerade von einer langen Reise nach Island zurückgekehrt, wo er unter anderem in einem Zelt nahe dem Vulkanfeuer im Osten weilte. Er spricht mit großem Gestus und lauter Stimme nach der Art eines Mächtigen. Seine Nase ist nach vornhin platt, eine Entennasenform nennt man das, und der Ehrfurcht gebietende Backenbart reicht bis unter das Kinn und umrahmt sein Marzipangesicht. Er spricht mit Überzeugung und wälzt seine Wortgewalt gleichmäßig in Richtung einer wohlüberlegten Konklusion. Er spart mit Ausschmückungen und sein Latein ist knapp bemessen, was zeigt, dass er kein Gelehrter ist, auch wenn er dies aufgrund seiner Position sein sollte. Bald wird er Stiftamtmann sein, Gouverneur unseres kleinen Landes, wir zitieren aus seiner Rede:

    62 000 Reichstaler, meine Herren, 62 000 Reichstaler, die unser König über der sogenannten neuen Gesellschaft von Skúli Magnússon, unserem Landvogt, ausgegossen hat – diese ganze Summe, um Manufacturen in Reykjavík aufzubauen, mit Färbereien und einer Walkmühle, und was hat es uns gebracht? Meine Herren, ich frage Sie: Wo ist jene Stofffabrik, die unserem König

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