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Der Legende dunkles Herz
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eBook668 Seiten8 Stunden

Der Legende dunkles Herz

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Über dieses E-Book

»Sie glaubten, eine Macht in die Knie zwingen zu können, die älter ist als jeder Untertan es jemals werden wird. Sie glaubten, sie hätten gesiegt. Nun glauben sie, ich sei zurück. Sie irren sich. Ich bin nicht zurück. Ich war niemals fort.«

Ein verheerender Krieg zwischen Eismagiern und Feuermagiern beendete die Herrschaft des Dunklen Königs. Längst sind die Geschichten über ihn zu Legenden verblasst. Legenden, deren grausamer Funken Wahrheit Epheles und Nuala am eigenen Leib erfahren. Vor ihren Augen wird Nualas Verlobter von den Schergen des Dunklen Königs entführt. Dieser begehrt die in Epheles‘ schlummernde Feuermagie, um wieder auf den Thron zu gelangen. Nuala eilt zu seiner Rettung quer durch das Königreich. Denn Magier werden gejagt. Doch die größte Gefahr kommt nicht von außen, sondern lauert in Nuala selbst.
SpracheDeutsch
HerausgeberEisermann Verlag
Erscheinungsdatum8. Apr. 2020
ISBN9783961731923
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    Buchvorschau

    Der Legende dunkles Herz - Laura Lehmann

    Kämpferinnen.

    Kapitel 1

    »Yle, lass das!«, rief Nuala. Feine Schneekörner knirschten zwischen ihren dicken Fellstiefeln und der Eisfläche. Der Schneesturm in der Nacht hatte den glitzernden Staub wie ein dünnes Tuch über den zugefrorenen See ausgebreitet.

    »Yle! Weg da!«, fauchte Nuala energisch die Kreatur an, die mit ihrem zerzausten Fell an ein junges Eulenküken erinnerte. Das niedliche Aussehen wurde durch ein fratzenhaftes Gesicht und knorrige Krallenhände zerschlagen. Auf allen vieren hielt Yle sich am Eis fest und beugte sich wagemutig über das Loch. Leicht schlitternd kam Nuala neben ihr zum Stehen.

    »Was bist du denn so ängstlich?« Faring, einer der beiden Männer, die auf umgedrehten Holzkisten an dem Eisloch saßen, sah belustigt zu ihr herüber.

    Nuala nahm ihren eigenen Korb von ihren Schultern. Sie schob Yle mit dem Fuß beiseite, was diese mit einem empörten Laut kommentierte.

    Garon, der andere Mann am Eisloch, legte seine Angel beiseite und trat auf Nuala zu.

    Sie sah zu ihm auf. »Sie wäre gestern fast ertrunken«, sagte Nuala und blickte zu Yle, die ihr nicht mal bis zum Knie reichte. »Die anderen Laryx sind gute Schwimmer, aber sie hat keine Ahnung, wie man sich über Wasser hält.«

    Die kleinen Wesen mit ihren spitzen und harten Zähnen waren nicht nur hervorragende Eisnager, im Wasser bewegten sie sich flink und trieben die Fischschwärme direkt unter die Löcher der Angler.

    »Wir haben trotzdem einen guten Fang gemacht. Verhungern werden wir heute Abend also nicht«, sagte Faring. »Wir sind auch nicht die Einzigen, die fischen.«

    Nuala hob den Kopf. Auf dem zugefrorenen See zeichneten sich in der Ferne mehrere dunkle Silhouetten ab.

    »Heute Abend vielleicht nicht, aber bis dahin ist noch viel Zeit«, sagte Garon und beäugte interessiert den Korb. »Du bist doch nicht nur gekommen, um deinem Vater beim Angeln zuzusehen?«, fragte er schmunzelnd.

    »Du kennst mich doch«, sagte Nuala. Sie holte zwei runde Schüsseln aus dem Korb, jede mit einem hölzernen Deckel verschlossen. »Eintopf.«

    »Danke, meine Tochter.« Garon nahm ihr eine Schüssel ab und reichte sie an Faring weiter. »Was täte ich nur ohne dich?«

    »Das kannst du ab nächstem Vollmond herausfinden«, sagte Faring.

    »Erinnere mich nicht daran«, erwiderte Nualas Vater mit gespielter Entrüstung.

    Nuala verdrehte die Augen. Je näher ihre Hochzeit rückte, umso mehr neckte Garon sie. Vielleicht hätten Epheles und sie sich nicht letztes Jahr beim Sonnenwendfest näherkommen sollen, vor den Augen aller Dorfbewohner.

    Nuala beugte sich über den Fang in dem Fischerkorb, der zwischen den beiden Kisten stand. Silberbauchige Fische schimmerten darin und füllten ihn bis zum Rand.

    »Bring ihn zum Räucherhaus. Wir bleiben noch etwas hier«, sagte Garon mit vollem Mund.

    »Wie laufen die Vorbereitungen?«, fragte Faring.

    »Wir kommen gut voran. Bis heute Abend wird alles bereit sein«, antwortete Nuala. Sie hockte sich hin und schnallte die Riemen des Fischerkorbes enger. »Wenn Thivka weiterhin alle durch die Gegend scheucht, sogar noch eher.«

    »Es wird ein großes Fest werden. Eine wahre Ehre für die Götter«, sagte Garon und nickte bekräftigend. Faring brummte leise. Die Götter mochten für ihn noch verständlich sein, aber über die Feste und Rituale schüttelte er seit jeher den Kopf.

    Nuala schob die dicken Ärmel ihres Kaninchenfellmantels durch die Riemen und hievte sich den Korb auf den Rücken. »Wir sehen uns heute Abend«, sagte sie, strich sich die langen dunkelbraunen Haare aus dem Gesicht und befreite die Strähnen, die zwischen Schulter und Schnallen klemmten. »Yle, komm!« Die Laryx hob den Kopf und eilte Nuala nach.

    Sie lieferte die Fische im Räucherhaus am Ufer des Sees ab. Vor den hölzernen Hütten im Dorf herrschte reges Treiben. Jedes Haus wurde geputzt, die geschnitzten Türrahmen und Fensterläden mit Symbolen für Glück und ein gutes Leben geschliffen und die Äste der Dächer mit Zweigen, Windspielen und Girlanden geschmückt. Die fröhliche Hektik sprang auf Nuala über, und sie beschleunigte ihren Schritt. Yle hüpfte aufgeregt vor ihr her und sah sich neugierig um.

    Hinter einem Tisch voll gestapelter und staubiger Schüsseln, Tellern und Pfannen und inmitten schnatternder Frauen entdeckte Nuala Trosvir. Missmutig starrte der junge Mann auf das Geschirr und steckte die Hände tief in den Bottich mit Waschwasser. Seit einem Jahr nun schon bemühte Trosvir sich, endlich im Dorf Anschluss zu finden. Er zeigte unerschütterlichen Ehrgeiz, doch angesichts seines fehlenden handwerklichen Geschicks erschöpfte sich allmählich die Geduld der Dorfbewohner. Das Gerücht, er trage immer eine Flasche Alkohol bei sich, trug auch nicht zu seiner Beliebtheit bei. Lediglich beim Anbandeln mit den jungen Frauen der Dörfer hatte Trosvir Erfolg. Seine Schwärmereien über die fremde Stadt, aus der er angeblich stammte, zogen sie in seinen Bann. Nuala hatte für die Angeberei nur ein müdes Lächeln übrig.

    Vor der Hütte des Zimmermanns fand Nuala, wen sie suchte.

    »Welch Glanz in meiner Hütte!«, rief Norith, als er Nuala erblickte. Er winkte ihr mit einem Bündel Nadelzweige zu, ehe er dieses zu den anderen in einen Handkarren warf.

    »Übertreib nicht. Wir sind vor deiner Hütte«, sagte Epheles schmunzelnd. Er trat auf Nuala zu, zog sie in eine Umarmung und küsste sie. »Und das hier, das ist mein Glanz.«

    Seine warme Stimme ließ Hitze in Nualas Wangen steigen.

    Seit einem Jahr waren sie zusammen und noch immer schaffte es Epheles, ihr durch Blicke, Gesten oder Worte die Röte ins Gesicht zu zaubern.

    »Was verschafft mir die Ehre?«, fragte Epheles und löste sich von ihr.

    »Die Ehre, mit mir Zweige sammeln zu gehen«, antwortete Nuala. »Thivka braucht für die Zeremonie Zweige der Weißen Esche.«

    Fragend runzelte Epheles die Stirn. »Werden die sonst nicht einen Tag vor der Zeremonie gesammelt?«

    »Das stimmt. Nur sie hat die falsche Person gebeten, die Zweige zu schneiden. Es gab wohl ein Missverständnis.«

    »Trosvir?«, fragte Norith. Als Nuala nickte, lachte der junge Mann auf. »Deswegen also wäscht er das Geschirr!«

    »Was hat sie sich bloß dabei gedacht?« Epheles schüttelte den Kopf und fuhr sich durch das Haar, das ihm wie schwarzes Wasser über die Schultern fiel.

    »Wahrscheinlich waren wir anderen beschäftigt.« Nur so konnte Nuala sich erklären, warum die Schamanin Trosvir mit dieser wichtigen Aufgabe betraut hatte. Trotzdem tat er ihr leid. »Er gibt sich Mühe.«

    »Er bemüht sich seit einem Jahr«, sagte Epheles verächtlich und trat zu der Holzbank, auf der sein Messer lag. »Ich komme mit dir.«

    »Aber bleibt nicht zu lange weg«, sagte Norith und wedelte Yle mit einem Zweig vor der Schnauze herum, nach dem die Laryx verspielt schnappte. »Das Essen ist bald fertig. Ihr seid herzlich eingeladen.«

    »Bis zur Esche ist es ja nicht weit.« Epheles schob das lange Messer in seinen Gürtel und hielt inne. Als er sich zu Nuala umwandte, waren seine Züge angespannt und die Mundwinkel grimmig verzogen. »Sanjana. Diese vorlaute Magierin hat mir verboten, in den Wald zu gehen.«

    »Verboten?«, fragte Nuala.

    »Nicht bloß als gut gemeinten Rat. Es war eindeutig ein Befehl«, sagte Epheles bitter.

    Norith schüttelte den Kopf. »Als wäre sie deine Mutter.«

    Epheles warf seinen Freund einen grimmigen Blick zu.

    »Warum macht sie das?«

    »Wenn ich das wüsste, wäre ich besser gelaunt«, gab Epheles ärgerlich zurück.

    »Hat Kelin sie beauftragt?«

    Epheles schnaubte. »Du glaubst doch nicht, dass er mir ehrliche Antworten gibt.«

    Nuala warf Norith einen warnenden Blick zu. Manchmal erkannte er zu spät, wann es besser war, den Mund zu halten. Epheles’ Vater war ein hitziges Thema.

    Norith fing ihren Blick auf. Er fuhr sich nachdenklich über den hellbraunen Bart. Dann stand er auf und warf Yle einen Zweig hin, die sich sogleich darauf stürzte. Norith trat an Nuala vorbei und sah zum Dach seiner Hütte hinauf. Nuala folgte seinem Blick.

    »So wichtig scheint Sanjana deine Aufsicht nicht zu sein, wenn ihr Rabe dich nicht bewacht«, sagte Norith und wandte sich an Epheles. »Verschwindet schon. Wenn sie nach dir fragt, werde ich ihr höflich Auskunft geben.«

    Epheles zögerte. Nuala berührte ihn sacht am Arm. Sie verstand ihn. In der letzten Zeit hatte er häufig Streit mit Sanjana geführt. Wie Epheles verstand Nuala bei bestem Willen nicht, warum Sanjana sich so plötzlich übertrieben um ihn sorgte. Die Magierin weigerte sich, es näher zu erklären. Und Nualas Geduld mit ihrem Gebaren neigte sich langsam dem Ende.

    Epheles legte seine Hand auf ihre. »Danke«, sagte er zu Norith, wandte sich um und zog Nuala mit sich.

    Sie beeilten sich, in den Wald zu gelangen. Yle hoppelte hinter ihnen her. Ihr Weg führte an der Hütte der Schamanin vorbei. Aus dem Schornstein stieg dichter, grünlicher Rauch auf, begleitet von einem scharfen, würzigen Duft. Thivka bereitete sich also schon mit ihrer rituellen Reinigung auf die Begegnung mit der Waldgöttin Leshy vor.

    Auf dem Festplatz am Waldrand herrschte reges Treiben. Alles wurde für die Gäste und die Göttin vorbereitet. Gerade begannen die Männer, Holzscheite für das große Feuer zu stapeln. Niemand achtete auf sie.

    Nuala hielt nach Sanjana Ausschau. Sie war nicht zu sehen.

    Auf dem Weg zur Weißen Esche hüllte Epheles sich in düsteres Schweigen. Er stapfte neben Nuala durch den Schnee, die Hände in den Taschen seines Mantels vergraben, die Augen verkniffen. Sanjanas Anweisung ließ ihm wohl keine Ruhe.

    Die Überwachung dauerte schon vier Vollmonde an. Sie selbst hatte einige Male erlebt, dass die Magierin plötzlich vor ihnen auftauchte oder ihr Rabe Kronja ihnen folgte. Nuala war fürchterlich erschrocken, gerade in den Augenblicken, in denen sie und Epheles sich Zweisamkeit und Nähe schenkten. Epheles wurde zunehmend gereizter und Nuala fühlte sich machtlos. Wenn Sanjana nur sein einziges Problem wäre!

    Die Weiße Esche blühte auf einer Anhöhe, umgeben von dunklen Tannen. Der einzige blühende Baum weit und breit. Die Schamanen achteten ihn als heilig, als Verheißung dafür, dass der Winter nicht ewig währte. Zu den Zeremonien und Festen, die den Göttern gewidmet waren, wurden Zweige des heiligen Baumes geopfert.

    Nuala zückte ihr kleines Messer und näherte sich behutsam dem schlanken Geäst. »Bleib weg!«, wies sie Yle scharf an. Doch Yle zeigte kein Interesse an dem Baum, sie flatterte eine Tanne hinauf und verschwand zwischen den dunklen Nadeln.

    Vorsichtig und mit Bedacht wählte Nuala die Zweige aus und schnitt sie ab. Ein weiteres Jahr war nun vergangen, in dem die Menschen geduldig in der Kälte harrten. Sechzig Jahre dauerte der Winter an. Sechzig Jahre lang herrschte ein erbitterter Streit zwischen Morzana, der Göttin des Winters, und Udane, der Göttin des Sommers. Das war die Erklärung der Schamanen, die in Verbindung mit den Göttern standen und ihr Handeln kannten. Eine Erklärung, die Nuala nicht zufriedenstellte. Die anderen Götter mussten Morzana und Udane doch zur Vernunft bringen können. Ihre Launenhaftigkeit war Nuala bekannt, aber wenn die Götter stur blieben, dann würden sie und andere niemals einen Sommer erleben.

    Manchmal fragte sich Nuala, ob der Sommer wohl so warm sein konnte wie das Herdfeuer. Sie stellte sich die Wälder ohne schneebedeckte Tannen vor, die Hütten ohne glitzernde Dächer und den See ohne glatte Fläche. Sie musste zugeben, dass es ihr schwerfiel.

    Schweigend nahm Epheles die Zweige entgegen. »Nur noch einmal Vollmond, dann bist du zumindest ein Ärgernis los«, sagte Nuala nach einer Weile. Epheles hatte die Angewohnheit, zu sehr in düsteres Schweigen abzugleiten. Sie hatte Geduld lernen müssen, ehe Epheles sich ihr gegenüber öffnete. Aber wenn Epheles so verbissen schwieg, brodelte es in ihm.

    »Ach ja? Da bin ich mir seit gestern Nacht nicht mehr so sicher«, sagte Epheles düster. »Kelin wird irgendeinen Weg finden, wie er mich weiterhin wie Dreck behandeln kann.«

    »Was war denn gestern Nacht?«, fragte Nuala, schnitt einen weiteren Zweig ab, drehte sich um und reichte ihn Epheles.

    »Das willst du nicht wissen.« Seine Stimme war eisig vor unterdrückter Wut. Unter dem Mantel lief es Nuala kalt über den Rücken.

    »Doch«, sagte sie.

    Epheles’ Augen weiteten sich. Nuala schob ihr kleines Messer zurück in ihre Tasche und berührte ihn am Arm. »Epheles, was ist los? Was bedrückt dich? Rede mit mir.«

    »Tu mir das nicht an«, sagte Epheles leise. »Ich bitte dich, verlange nicht von mir, seine Worte zu wiederholen. Nur dieses eine Mal!«

    Nualas Wangen fühlten sich taub an, und das nicht wegen der Kälte. In Epheles’ Augen spiegelte sich ein Flehen, ihn nicht weiter zu drängen, das ihr mitten ins Herz fuhr. Rasch glitt Nualas Blick über seine unbedeckte Haut und suchte nach blauen Flecken. War seine Haltung aufrecht, sein Gang schwankend gewesen? Sie konnte nichts Bedenkliches feststellen.

    Nuala atmete leise tief ein. »Gut«, sagte sie und strich Epheles sacht über den Arm. »Ich werde nicht mehr fragen. Versprochen.«

    Ich werde es dennoch herausfinden, dachte sie wütend. Kelin, was hast du deinem Sohn angetan? Nuala schluckte ihre Wut hinunter. Epheles brauchte jetzt kein Entsetzen und keine Wut von ihr. »Wir finden eine Lösung. Er wird dich nicht mehr belästigen.«

    Ein hohles Lachen kam über Epheles’ Lippen. »Das wird er spätestens dann nicht mehr, wenn er tot ist.«

    »Und wenn wir zu Sevon und Isain ins Dorf ziehen?«, fragte Nuala. »Thivka hätte Verständnis dafür. Und der Schamane aus ihrem Dorf sicherlich auch.«

    »Mein bester Freund wäre sicher erfreut.« Epheles lächelte. »Daran habe ich auch schon gedacht. Aber dann wärest du fort von Garon.«

    Nualas Mundwinkel zuckten. »Ich glaube, Garon ist der Letzte, der Einwände hat. Im Gegenteil, es wird Zeit, dass er ohne mich auskommt.«

    Sie strich über Epheles’ Hände, die noch immer die Zweige hielten. »Es geht um uns, Epheles. Und hier geht es ganz besonders um dich. Ich sehe doch, wie sehr du unter ihm leidest.«

    Epheles presste die Lippen zusammen und wandte den Blick ab. Unter den langen Wimpern schimmerten seine fast schwarzen Augen hindurch.

    »Ich denke, wenn wir den Bund schließen, sollen wir beide glücklich damit sein«, sagte Nuala und strich Epheles über die Finger. »Und wenn ich weiß, dass du es nicht bist, dann werde ich es auch nicht lange sein.«

    Epheles entzog Nuala seine Hände. Die Zweige fielen dumpf in den Schnee. Ein leises, überraschtes Keuchen entfuhr Nuala, als Epheles sie an sich zog.

    »Danke, Nuala«, flüsterte er. Nuala spürte, wie sein Kinn ihre Kopfhaut berührte. »Das bedeutet mir so viel. Du bedeutest mir so viel.« Seine Arme glitten über ihren Rücken, seine Hände ruhten auf ihren Schulterblättern.

    »Du mir auch«, murmelte sie.

    »Vielleicht erzähle ich es dir irgendwann. Aber nicht jetzt. Es tut mir leid, aber ich kann es jetzt einfach nicht.«

    »Es ist gut«, sagte Nuala. »Wirklich. Lass dir Zeit. Wir haben Zeit.«

    Die Wärme blieb an ihrem Körper haften, als Epheles sich von ihr löste. Er hielt sie an den Schultern, eine Hand lag warm in ihrem Nacken, seine Finger kreisten durch ihr dunkelbraunes Haar. »Ich liebe dich«, sagte er und beugte sich zu ihr.

    Nuala öffnete den Mund, um den Kuss zu erwidern. Seine Lippen umschlossen ihre. Sie schmeckte Fisch, fühlte die von der Kälte aufgeplatzten, rauen Lippen. Sein Geruch von Tannengrün drang in ihre Nase. Nuala keuchte leise auf, als sein Kuss fordernder wurde. Wohlige Hitze sammelte sich in ihrem Bauch und breitete sich aus, wanderte in ihre Glieder und in ihren Kopf. Unter ihren Stiefeln hörte sie ein Knacken, als sie auf die heiligen Eschenzweige trat. Es war unwichtig. Alles, was fern von ihren Körpern war, war unwichtig. Es konnte warten. Hier im Wald waren nur sie und der Schnee und das Flüstern des Windes in den Tannen. Hier war niemand, der sie störte, nicht einmal in ihren Gedanken.

    Nur das Krächzen des Raben.

    Kapitel 2

    Zuerst dachte Nuala, es wäre Sanjanas Rabe. Doch es war kein einsames Krächzen. Es mussten viele Raben sein. Sehr viele. Schwerfällig löste Nuala sich von Epheles.

    »Nuala«, murmelte er enttäuscht.

    »Ich will wissen, was da los ist.« Sie trat unter den Zweigen hervor und sah in den Himmel. Nuala klappte der Mund auf. Über den Wipfeln flogen Raben wie ein schwarzer Teppich.

    Und plötzlich stürzten sie auf sie nieder.

    »Runter!«, schrie Epheles. Er packte Nuala. Sie spürte einen Flügelschlag an der Wange, ehe Epheles sie in den Schnee warf und mit seinem Körper schützte. Nuala sah die Raben über ihm hinweg fliegen. Einige hackten im Flug nach Epheles und rissen an seinen Haaren. Er verzog das Gesicht, biss sich heftig auf die Lippe und unterdrückte einen Schrei. Einen Atemzug später entfernte sich das Rauschen und Krächzen. Über Epheles war wieder der klare Himmel zu sehen. Er zog Nuala auf die Beine.

    »Lass mal sehen«, sagte Nuala, als er seinen Hinterkopf betastete. Rotes Blut schimmerte auf Epheles’ schwarzem Haar.

    »Sie sind nicht fort.« Epheles griff nach Nualas Hand und deutete mit der anderen nach vorne. Zwischen den dichten grünen Tannen blitzten die schwarzen Vögel auf. »Sie beobachten uns«, sagte er leise.

    Nuala zuckte zusammen, als eine Tanne raschelte und etwas Gräuliches auf sie zu flatterte. Aufgeregt japsend landete Yle auf ihrer Schulter. Zitternd klammerte sich das kleine Tier an ihre Wange.

    »Warum tun sie das?«, fragte Nuala und hielt Yle mit einer Hand fest.

    »Ich weiß es nicht«, sagte Epheles grimmig. Sein Griff um Nualas Hand verstärkte sich. »Aber wir sollten verschwinden. Zurück ins Dorf.«

    Sie waren kaum zwei Schritte entfernt, als das Krächzen hinter ihnen anschwoll. Sie rannten schneller. Schnee stob unter ihren Füßen auf.

    Das Zetern der Raben rauschte in Nualas Ohren. Sie warf einen Blick über ihre Schulter. Die Raben flogen auf. Aus den Tannen erhob sich ein schwarz gefiederter Schwarm, mit blitzenden Schnäbeln und funkelnden Augen. Ihr Anblick jagte Furcht durch Nualas Innerstes. Sie rannte schneller. Ihre Stiefel verfingen sich an einer Wurzel. Nuala stolperte und landete halb im Schnee, aber Epheles zog sie rasch wieder auf die Füße. Dabei fing Nuala seinen Blick auf. Er fuhr ihr bis in die Knochen. Nie hatte Nuala solche Furcht in seinen Augen gesehen. Was hier vor sich ging, war nicht normal und Epheles hatte keine Ahnung, was er dagegen tun konnte.

    Epheles zog sie weiter. Nualas Lunge begann zu brennen. Das Krächzen und Zetern hämmerte in ihrem Kopf. Etwas riss an ihren Haaren. Nuala schrie erschrocken auf und schlug um sich. Sie spürte, wie etwas in ihre Hand schnitt. Nässe rann über ihren Handrücken. Plötzlich riss Epheles sie zur Seite. Nuala taumelte, fiel in den Schnee und rollte einen Hang hinunter. Über ihr ragten knorrige schwarze Bäume in den weißen Himmel.

    »Weiter! Komm, steh auf.« Epheles erschien über ihr. Nuala ergriff seinen Arm und rappelte sich auf.

    »Das sind nicht Morzanas Raben«, sagte sie. »Das sind nicht die Raben der Schutzgöttin.«

    »Nein«, sagte Epheles und schüttelte den Kopf. »Es ist irgendetwas anderes.«

    Aber was? Nuala klopfte sich den Schnee aus dem Mantel, während sie Epheles folgte. Nach wenigen Schritten prallte Nuala gegen ihn. »Epheles?«, fragte sie, nach Atem ringend.

    Epheles rührte sich nicht, sondern starrte stur geradeaus. Nuala folgte seinem Blick und keuchte erschrocken auf.

    Das Wesen, welches in einiger Entfernung zwischen den Bäumen stand, schien direkt aus dem Jenseits gekommen zu sein. Es war weiblich, wie Nuala an den Brüsten erkannte, die sich unter dem schwarzen Federkleid abzeichneten. Braune, struppige Haare fielen wild bis zu den Hüften hinab. Das Wesen öffnete den grauen, scharfen Schnabel. Ein kurzes, lautes Kreischen erklang. Yle schrie auf, sprang von Nualas Schulter und flog panisch davon.

    »Bleib hinter mir.« Mit einer Hand hielt Epheles Nuala zurück. Sie starrte auf die ungewöhnlich langen Arme des Wesens. Ein eisiger Schauer erfasste sie. Die Hände liefen in sichelförmigen Krallen aus. Sie bezweifelte, dass es in friedlicher Absicht erschienen war.

    »Wir gehen rückwärts«, sagte Epheles leise. »Vorsichtig.«

    Er hatte kaum den ersten Schritt getan, als das Wesen ihm auf seinen langen dürren Beinen folgte. Die schwarzen, glänzenden Augen, die über dem Schnabel saßen und die groteske Mischung zwischen Mensch und Tier verstärkten, richteten sich auf Epheles. Er hielt inne. Nuala hörte, wie er vor Anspannung Luft zwischen den Lippen hindurchpresste.

    »Nuala, lauf ins Dorf, so schnell du kannst.« Er zückte sein langes Messer.

    Nuala schluckte. Er würde nicht viel ausrichten können. Sie ärgerte sich, dass sie außer ihrem kleinen Messer selbst keine Waffe bei sich trug.

    Das Wesen stieß erneut einen kreischenden Laut aus. Die schwarzen Augen blitzten boshaft auf. Es sprang vor. Die mit Krallen bewehrten Füße hinterließen lange Furchen im Schnee. Mit einer Hand holte es aus. Ein hässliches Knirschen erklang, als die Krallen auf Epheles’ Klinge trafen.

    »Lauf, Nuala!«, brüllte er. »Verschwinde!«

    Nuala starrte ihn an und fühlte ihren Kopf nicken. Im nächsten Moment begriff sie, was Epheles gesagt hatte. Sie sollte davonlaufen und ihn allein lassen? Nuala öffnete den Mund, um zu sagen, dass sie genau dies nicht tun würde. Ein reißender Schmerz schoss ihr durch Schultern und Hüfte. Etwas Schweres drückte Nuala zu Boden. Der Aufprall presste ihr die Luft aus dem Brustkorb. Schnee drang in ihren Mund. Über Nuala zerriss ein Kreischen die Luft, gefolgt von einem zweiten. Epheles schrie. Nuala konnte nicht antworten. Glühende Messer steckten in ihrem Rücken, etwas Warmes sickerte durch ihre Kleidung. Nualas Sicht verschwamm.

    Nein! Nicht schlafen! Mit aller Kraft hob Nuala den Kopf, spuckte Schnee aus und rang nach Luft. Sie blinzelte die Tränen beiseite. Epheles’ Schemen kämpfte gegen das Wesen, sein Messer blitzte als Lichtstreifen auf. Verbissen verteidigte er sich gegen die tödlichen Krallen. Es ratschte, als sie ihr Ziel fanden. Rote Tropfen fielen wie Regen auf den weißen Schnee.

    »Epheles!«, schrie Nuala. Ihre Schultern brannten wie Feuer. Es raschelte über ihr und plötzlich begriff Nuala, welches Wesen sie niederdrückte.

    Das Wesen, gegen das Epheles kämpfte, stieß ein kurzes Kreischen aus. Über Nuala erklang die Antwort. Nuala fühlte den Ton, wie er als Zittern durch ihre Schultern ging. Sie wandte den Blick.

    Etwas Spitzes rauschte auf ihr Gesicht zu. Nuala riss so rasch den Kopf zur Seite, dass ihre Halswirbel drohend knackten. Lichtpunkte tanzten vor ihren Augen. Dazwischen bohrte sich ein Schnabel in den Schnee.

    »Morzana, hilf!«, flehte Nuala nach der Schutzgöttin. Dem nächsten Schlag wich sie zu langsam aus. Es dröhnte in ihrem Schädel, als die Schnabelspitze am Knochen entlang schrammte. Nuala schrie gellend auf. Blut lief ihr in die Augen. Sie blinzelte, sah den Schnabel erneut niederfahren und drehte sich zur Seite. Nuala versuchte, sich mit den Händen aufzustemmen, aber das Gewicht hielt sie fest am Boden.

    Dieses Mal fühlte es sich an, als würde ein Hammer ihr auf den Kopf fahren. Nuala riss den Kopf herum. Ärgerliches Fauchen drang in ihre Ohren. Ein grauenvoll blitzender Schmerz schüttelte sie. Sämtliche Kraft wich mit einem Schlag aus ihren Gliedern. Weich fühlte Nuala ihre Wange auf der weißen Decke liegen. Mit weit aufgerissenen Augen blickte sie hinauf, sah die Kratzer auf dem hornigen Schnabel, das graue Gesicht, faltig wie bei einer alten Frau. Nualas Entsetzen spiegelte sich in den schwarzen Abgründen.

    Panik erfasste Nuala. Sie würde sterben, jetzt, hier! Ein pulsierender, eisiger Schmerz durchdrang ihr Innerstes, ein Kribbeln betäubte sie so heftig, dass es Nuala den Atem raubte. Das Gesicht kam näher. Nuala öffnete den Mund, doch kein Ton drang über ihre Lippen. Stattdessen flammte der Schmerz so heftig auf, dass Blitze vor ihren Augen zuckten. Sie keuchte und packte ihren rechten, krampfhaft zuckenden Arm. Er fühlte sich an wie aus Eis. Eine Kälte, die rasend schnell durch ihren Körper drang, mit lautem Knistern aus ihrer Hand brach und die Welt in blendenden Schnee tauchte.

    Nuala kniff die Augen zusammen. Ihr Herz schlug hart gegen ihren Brustkorb.

    Nur langsam begriff sie, dass sie atmete. Sie lebte. Nuala riss die Augen so heftig auf, dass erneut Blitze zuckten. Das hässliche Gesicht stand immer noch so nah vor ihrem, dass Nuala die faltige Haut deutlich erkennen konnte. Ein gurgelndes Geräusch verließ die Kehle des Wesens. Etwas langes Weißes ragte wie eine polierte Lanze aus seiner Stirn. Aus den Tannen darüber erhoben sich schimpfend die Raben.

    Das ist nicht mein Blut! Nuala starrte auf die Tropfen, die aus der scheußlichen Wunde auf ihr Gesicht fielen. Leise hörte sie die Krallen über ihre Kleidung ratschen und Nuala fühlte, wie sie sich aus ihrem Fleisch lösten. Der Wald drehte sich vor ihren Augen. Sämtliche Kraft schien aus ihr herausgeschnitten. Das Kribbeln in Nualas Inneren war so aggressiv, dass es alles in ihr betäubte. Nur atmen konnte Nuala, ganz leise, ganz flach. Irgendwo ertönte in der Ferne ein Schrei.

    Epheles.

    Er rief ihren Namen.

    Kapitel 3

    Nuala wusste nicht, wie lange sie im Schnee gelegen hatte, bis sie sich wieder spürte. Der Schmerz schoss so unwirklich schnell durch ihren Körper, dass sie glaubte, er würde sie zerreißen. Nuala stöhnte auf. Die Krallen bohrten sich noch immer tief in sie.

    »Epheles«, keuchte Nuala. Sie rang nach Luft und hob den Kopf. Die Stille, die sie umgab, ließ Panik in ihr hinaufkriechen. Nuala stemmte sich hoch. Der Schmerz war unerträglich, als schnitten abertausende Messer in sie.

    Nuala versuchte, die Klauen von ihrer Schulter zu schieben. Erneut wurde ihr schwarz vor Augen. Jeder Atemzug kam ihr ungewöhnlich laut vor und ließ den Lärm, der vorher geherrscht hatte, wie einen Traum erscheinen.

    Epheles! Was war mit ihm? Ächzend stützte Nuala sich auf ihre Unterarme. Die Bewegung riss an ihrer Schulter. Sie presste die Lippen zusammen. Stück für Stück schob sie ihren Körper nach vorn. Als sie ihre Beine zur Hilfe nahm, zogen die Krallen an ihrer Hüfte.

    »Weiter!«, keuchte Nuala zu sich selbst. »Mach schon!« Immer weiter zog und schob sie sich unter dem Wesen hindurch.

    Der Stoff am Rücken riss, ein scheußliches wie befreiendes Geräusch. Erleichtert seufzte Nuala auf, als der Druck auf Schultern und Hüfte nachließ. Sie spürte die Krallen lose über das Fell ihres Mantels gleiten, stemmte ihre Füße in den Boden und drückte sich nach vorn. Es ratschte erneut, laut und protestierend. Eiskalte Luft schob sich durch die Fetzen ihrer Kleidung. Nuala warf sich herum auf den Rücken und krabbelte rückwärts. Nur weg! Weg! Weg!

    Kraftlos und wimmernd sank Nuala in den Schnee. Erst als sie glaubte, den Anblick wieder ertragen zu können, hob sie den Kopf.

    Gepfählt lag das Wesen im Schnee. Aufgespießt durch einen eisigen Pfahl, der aus dem Boden ragte. Die Wirbelsäule war zersplittert, Blut rann den Pfahl entlang und tropfte auf den Boden. Die ungewöhnlich langen Arme und die zwei glänzenden schwarzen Flügel hingen leblos herab.

    Nuala starrte auf die groteske Szenerie. Übelkeit drückte ihren Magen zusammen. Sie übergab sich, drehte sich zur Seite und lehnte ihre Stirn erschöpft auf den gefrorenen Boden. Der Geschmack von bitterer Galle füllte ihren Mund aus.

    Was, bei Schutzgöttin Morzana, war das? Plötzlich wurde Nuala sich wieder der Stille bewusst. Ruckartig hob sie den Kopf. Sie lag allein im Schnee, im Wald, unter den Bäumen.

    Keuchend erhob sie sich. Die Krallen schienen noch in ihrem Rücken zu stecken, doch Nuala biss die Zähne zusammen. Schwankend tat sie einige Schritte. Der Schnee war von den Spuren des Kampfes aufgewühlt. Nuala erkannte Epheles’ Stiefelabdrücke und die Vogelfüße des unheimlichen Wesens. Von Epheles selbst war nichts zu sehen.

    Nualas Magen zog sich erneut zusammen. Sie blickte sich um. »Epheles!«, rief sie mit kratziger Stimme.

    Keine Antwort. Kein einziges Geräusch. Es schien, als wäre alles Leben aus diesem Wald verschwunden. »Epheles!«, schrie sie, und fuhr vor Schreck über ihre eigene Stimme zusammen.

    Ihr Blick verharrte bei den wilden Fußspuren im Schnee.

    Nuala glaubte, ihr Herz würde zerspringen. Hunderte Splitter schienen sich von innen in ihren Brustkorb zu bohren. Hier hatte er gekämpft … gerade eben noch hatte Epheles gekämpft. Vielleicht war es ihm gelungen, zu fliehen und er hatte sich versteckt? Nuala schüttelte energisch den Kopf. Epheles hätte sie nie zurückgelassen. Was aber war dann …

    Nuala lief los. Ihre Schultern und Hüften brannten und bei jedem Schritt rollten Wellen des Schmerzes durch ihren Körper. Aber sie musste Hilfe holen! Irgendjemand musste ihr helfen.

    »Epheles!« Nuala rief weiter nach ihm. Tränen ließen ihre Sicht verschwimmen, ihre Beine fühlten sich taub an, aber sie achtete nicht darauf. Nuala taumelte den Hang hinauf, den Epheles sie auf ihrer Flucht hinuntergestoßen hatte.

    Auf dem Hang war alles still. Niemand war zu sehen. Keine grotesken Wesen, keine Raben. Kein Epheles. Blind stolperte Nuala weiter, zurück ins Dorf.

    Ein lautes Krächzen ließ Nuala zusammenfahren. Wenige Schritte vor ihr landete ein Rabe von der Größe eines kräftigen Jagdhundes.

    »Kronja«, hauchte Nuala. Neben dem Raben der Magierin landete Yle. Ein besonders enger Eisengriff löste sich von Nualas Brust. Yle war in Panik geflohen und hatte Hilfe geholt. Die Rettung war in greifbarer Nähe.

    »Nuala!«, rief jemand. Zwischen den Bäumen lief Sanjana auf sie zu. Schwer atmend kam die Magierin vor Nuala zum Stehen. Wütend funkelte sie Nuala aus eisblauen Augen an. Schlagartig fiel Nuala ein, was Epheles ihr vor dem Aufbruch in den Wald erzählt hatte. Unter ihren Füßen begann der Boden zu schwanken.

    »Wo ist Epheles?«, fragte Sanjana streng.

    Nuala öffnete den Mund. Ja, wo war er?

    »Wo ist er?«, fragte Sanjana ungehalten. Ihre Wut fuhr Nuala durch die Knochen. Es war falsch gewesen, in den Wald zu gehen, aber wie hatte sie denn ahnen können, was geschehen würde?

    »Fort.« Das einzige Wort, das den Weg über Nualas Lippen fand.

    Sanjana nickte grimmig.

    »Wir … wir wurden angegriffen«, sagte Nuala mit bebender Stimme. In ihren Ohren erklang das Krächzen der Raben, das schauderhafte Kreischen des Wesens. Sie spürte die Krallen in ihrem Rücken. Hilflos blinzelte Nuala die andere durch ihre Tränen an. »Ich weiß nicht, was das für ein Wesen war, aber es hat …«

    Ein lautes Rufen ließ sie innehalten. Nuala schluckte. Faring rannte mit großen Schritten auf sie zu.

    »Bring sie nach Hause«, sagte Sanjana, kaum, dass Faring bei ihnen angekommen war. »Ich komme später nach. Und lass niemanden zu ihr. Auch nicht Garon.«

    »Warum?«, fragte Nuala verwirrt.

    Hinter Sanjanas Ärger erschien ein Ausdruck des Mitgefühls auf ihrem Gesicht. »Das erkläre ich dir, wenn ich zurück bin.« Die Magierin legte Nuala eine Hand auf die Schulter.

    Sofort stöhnte Nuala gequält auf. Verwundert zog Sanjana ihren Arm zurück und trat hinter Nuala. Sie stieß einen erschrockenen Laut aus.

    »Der Plan hat sich geändert«, sagte Sanjana energisch zu Faring. »Bring sie zu Thivka. Sie soll sich um sie kümmern. Aber lass niemanden zu Nuala. Ich komme, so schnell es geht.«

    Mit diesen Worten rückte Sanjana ihren Mantelkragen aus Eichhörnchenfell zurecht und schnalzte mit der Zunge. Kronja flatterte krächzend auf. Yle warf Nuala einen Blick zu, ehe sie ihre Flügel entfaltete und den beiden folgte.

    »Komm«, sagte Faring.

    Schweigend und so schnell es ging näherten sie sich dem Dorf. Nuala spürte Farings fragenden Seitenblick auf ihrem Gesicht brennen. Sie war ihm dankbar, dass er nicht das Wort an sie richtete. In ihr tobten Leere und Verwirrung zugleich, die sie weder greifen noch zu beschreiben vermochte.

    Auf dem Festplatz waren die Männer noch immer damit beschäftigt, den Scheiterhaufen zu errichten. Es sollte das größte Feuer werden, das bisher bei Leshy-Festen gebrannt hatte. Normalerweise wäre Nuala stehen geblieben, hätte den Aufbau bewundert und überlegt, wo ihre Girlanden gut zur Geltung kamen.

    »Die Girlanden!«, sagte sie leise. »Ich muss die Girlanden noch fertig machen.«

    »Hat Zeit«, sagte Faring und schob sie behutsam weiter. Nuala runzelte die Stirn, als sie auf Thivkas Hütte zuhielten. »Wohin willst du?«, fragte sie.

    »Zu Thivka. Sie soll sich deine Wunden ansehen.« Schwach erinnerte sich Nuala daran, dass Sanjana dies angeordnet hatte. Sie zuckte zusammen, als Faring energisch an die mit zahlreichen Runen verzierte Tür klopfte.

    »Nicht!«, rief Nuala erschrocken. »Wir dürfen Thivka nicht stören. Sie bereitet sich auf das Fest vor.«

    »Dann wird sie ihre Vorbereitung wohl unterbrechen müssen«, sagte Faring ungerührt.

    Nuala schüttelte den Kopf, was ein dumpfes Pochen in ihrem Kopf verursachte. »Aber das verzeihen die Götter uns nie! Thivka muss sich vorbereiten. Und ich muss noch die Girlanden …«

    Faring wirbelte zu ihr herum. Die Narbe, die sich von Farings linker Augenbraue bis zu seinem Mundwinkel zog wirkte, als wäre sein Gesicht in zwei Hälften geteilt. Ein Mann, der viel erlebt hatte, bevor er in ihr Dorf gekommen war.

    »Du bist bleich wie der Schnee, schwankst wie eine junge Tanne im Wind und dein Rücken ist ein Schlachtfeld!«, sagte er grimmig. »Sanjana und Garon reißen mir den Kopf ab, wenn ich nicht dafür sorge, dass man dich versorgt.«

    Er stieß die Tür auf.

    Grünlicher Rauch quoll Nuala aus dem Inneren entgegen, ein erschrockener Schrei folgte. Stickige Luft mit dem Duft nach würzigen Kräutern hüllte Nuala ein. Hustend trat sie über die Schwelle. Sogleich hatte sie das Gefühl, ihren Mantel ausziehen zu müssen. Das rituelle Feuer zur Reinigung ließ die Schamanin den ganzen Tag vor der Zeremonie brennen.

    »Bei Leshy und Morzana! Wer wagt es? Wer wagt es, die rituelle Reinigung zu stören?«, keifte Thivka irgendwo im Rauch. Einen Wimpernschlag später stand die Schamanin vor ihnen, in eine Decke gehüllt, die ihr von den Schultern rutschte. Ihre braunen Augen funkelten sie an.

    »Faring? Ich bin überrascht, aber du hattest noch nie Benehmen. Und … Nuala?« Verblüfft hob Thivka eine ihrer grauen Brauen. »Ich hätte mehr Respekt von dir erwartet! Jetzt muss ich das Ritual von vorn beginnen. Mir bleiben nicht mehr viele Stunden. Ist euch das eigentlich bewusst?«

    »Das hat Zeit«, entgegnete Faring.

    »Wie bitte?«, fauchte Thivka. »Ich höre wohl nicht recht.«

    Nuala schlug die Augen nieder. Respektloses Verhalten gegenüber den Schamanen bedeutete, respektlos zu den Göttern zu sein. Sie öffnete den Mund, um sich zu entschuldigen.

    »Sanjana schickt Nuala zu dir«, sagte Faring und legte Nuala eine Hand auf die Schulter. Nuala entwich ein Zischen. »Oh, Verzeihung.«

    »Und das konnte nicht warten?« Die kleine Frau gab sich keine Mühe, ihre Wut zu verbergen. Sie schien ihn mit ihren Blicken erdolchen zu wollen.

    »Ich denke nicht.« Mit diesen Worten drehte Faring Nuala herum und riss ihr den Mantel von den Schultern.

    »Bei den Göttern!« Thivka keuchte auf. »Welcher Zorn Wyndras hat hier gewütet?«

    »Das versucht Sanjana herauszufinden. Deshalb kann sie sich nicht selbst um Nuala kümmern.«

    »Gut, dass ihr sofort zu mir gekommen seid. Das muss sofort behandelt werden. Aber du wartest draußen«, sagte sie zu Faring. »Nicht, dass es noch jemandem einfällt, hier hereinzukommen.«

    Mit einem Nicken stapfte Faring an ihnen vorbei nach draußen. Nuala zuckte zusammen, als er die Tür kräftig hinter sich zuzog.

    »Rüpel«, knurrte Thivka ihm leise nach. Mit einem Lächeln wandte sie sich an Nuala, fasste sie sanft am Ellbogen und führte sie ans Feuer. »Das wird wieder heilen. Mach bitte deinen Rücken frei, damit ich es mir richtig ansehen und behandeln kann.«

    Das seltene Lächeln der Schamanin schürte Nualas schlechtes Gewissen.

    »Entschuldige den Rauch. Ich denke, es wird trotzdem gehen.«

    »Es tut mir leid«, sagte Nuala. »Wirklich, ich will keine Umstände machen.«

    »Nuala, das sollte kein Vorwurf sein«, sagte Thivka sanft.

    Nuala schüttelte den Kopf. »Das ist die Strafe der Götter. Bestimmt. Weil Epheles und ich …« Sie verstummte.

    Thivka sah sie aufmerksam an. »Weil Epheles und du?«

    Nuala wünschte sich, Zorn in ihrer Stimme zu hören. Oder wenigstens Argwohn. »Wir haben uns geküsst«, murmelte sie. »Das ganze Jahr über schon. Und wir sind noch weiter gegangen …« Sie stockte, als die Schamanin ihre runzligen Hände an Nualas Wangen legte.

    »Schau mich an, Nuala«, sagte Thivka. Langsam hob Nuala den Kopf. »Glaubst du, dass die Götter euch dafür bestrafen? Dass sie dieses Unglück zuließen, weil ihr beide vor dem Eintritt des Bundes ein paar Zärtlichkeiten mehr ausgetauscht habt?«

    Das war eine heftige Untertreibung. Nualas Gesicht glühte noch heißer als das Feuer im Kamin.

    Thivka seufzte und lächelte mild. »Warum sollten sich die Götter mit einer Strafe Zeit lassen, wenn ihr schon seit einem Jahr zusammen seid? Und warum ist allen anderen nicht gleiches widerfahren?«

    Nuala öffnete den Mund, doch Thivka hob die Hand und so verstummte sie. »Liebes, du brauchst die anderen nicht zu verteidigen. Es beschämt mich, dass alle glauben, ich wüsste nicht, wie heißblütig Verliebte sein können. Ich spreche mit den Göttern, aber ich lebe in dieser Welt.«

    »Es tut mir leid«, murmelte Nuala und wischte sich über die Wangen. Zugleich unterdrückte sie ein Lächeln. Dass Thivka genau wusste, wie Verliebte fühlten oder nacheinander verlangten, war ihr bisher nie in den Sinn gekommen. Es war sehr befremdlich.

    Aber es musste doch einen Grund geben! Waren die grausamen Wesen etwa aus dem Jenseits gekommen, um ihr Epheles zu nehmen? Aber warum, bei Wyndras Zorn?

    Die Gedanken flogen in ihrem Kopf umher und ließen sich nicht einfangen.

    »Ich habe die Zweige vergessen«, murmelte Nuala und befreite sich vorsichtig von ihrer Kleidung.

    »Wir werden schon noch rechtzeitig welche beschaffen«, sagte Thivka.

    Nuala biss die Zähne zusammen. Jede Bewegung tat weh. Die Krallen schienen noch immer in ihrem Fleisch zu stecken. Schließlich wies Thivka sie an, stillzuhalten und half ihr. Als Nualas Rücken frei von jeglichem Stoff war, füllte Thivka heißes Wasser vom Kessel in eine Schüssel und setzte sich auf einen Schemel hinter Nuala. »Ich wasche die Wunden aus. Danach werde ich sie mit einer Paste einreiben, die den Schmerz lindert und die Heilung beschleunigt.«

    Nuala presste die Lippen zusammen.

    »Ich werde auch noch abtasten, ob nicht eine Rippe gebrochen ist. Was immer es war, es muss sehr schwer gewesen sein.« Nuala zuckte zusammen, als Thivkas raue Hände flink über ihren Brustkorb fuhren. »Glück gehabt«, sagte die Schamanin. »Gebrochen ist nichts.« Sie zog ihre Hände zurück. »Hast du gesehen, was es war?«

    Nuala spürte eine nasse Wärme, die sanft über ihren Rücken strich. Thivka wusch ihre Wunden. »Nicht wirklich. Nein.« Sie schluckte, spürte ein Kratzen im Hals. »Wie … wie sehen die Wunden denn aus?«

    »Wie von einem Tier. Erst dachte ich an einen Vogel. Von der Form her könnte es passen, aber ich kenne keinen Vogel mit solch gewaltigen Krallen.«

    Nuala schloss die Augen. Die Bilder des Kampfes zischten an ihr vorbei. Zitternd atmete sie ein.

    »Sehr merkwürdig«, murmelte Thivka. »Ich werde heute Abend Niabi fragen. Sie wird ja wohl wissen, was da in ihren Wäldern herumschleicht und warum wir noch nichts davon wissen.«

    »Vielleicht weiß sie es selbst nicht«, murmelte Nuala.

    Thivka lachte rau. »Das will ich nicht hoffen. Für sie nicht und für uns alle nicht.«

    Nuala spürte, wie sie mit einem feuchten Tuch vorsichtig über ihren Rücken tupfte. Dann trat Thivka an Nuala vorbei zu dem Regal neben einem geschlossenen Fenster. Erst jetzt, als sie die Schamanin genau betrachtete, sah Nuala, dass Thivkas Strähnen an den Schläfen schon kunstvoll geflochten waren. Ihr Schädel glänzte frisch geschoren im feurigen Licht. Nachher, wenn die Schamanen aus den anderen Dörfern kamen, würden sie sich noch gegenseitig Symbole auf Hände, Arme, Kopf und Gesicht malen.

    Mit einer verkorkten Tonflasche kam Thivka zu ihr zurück. »Willst du mir nicht erzählen, was mit dir geschehen ist? Ich werde die Götter um ihren Segen und um schnelle Heilung für dich bitten.«

    Nuala schüttelte den Kopf. »Ich darf nicht. Sanjana sagte, ich solle es ihr zuerst erzählen.«

    Ein harter Zug legte sich um den leicht faltigen Mund. »Wie du möchtest«, sagte Thivka. Ein enttäuschter Ton klang hörbar in ihrer Stimme mit.

    Nuala schluckte. Für gewöhnlich hätte sie Thivka davon erzählt. Als Schamanin wusste sie am besten über das Sinnen und den Willen der Götter Bescheid. Ihr Rat wurde hochgeschätzt, ein jeder im Dorf vertraute auf ihr Urteil. Dass Nuala sich ihr nicht anvertraute, schien sie zu verletzen.

    »Das brennt jetzt etwas.«

    Nuala biss die Zähne zusammen, als die Schamanin ihren Rücken einrieb. Sie glaubte, er würde in Flammen stehen.

    »Jetzt müssen wir eine Weile warten, bis das Mittel in die Haut gezogen ist.« Thivka drückte den Korken in den Flaschenhals und stellte sie zurück ins Regal. Sie trat an den Kamin und schöpfte aus einem zweiten, kleineren Kessel Flüssigkeit in einen Becher.

    »Trink das«, sagte sie und reichte den Becher Nuala. »Kräutersud. Darin ist ein Mittel, um die Nerven zu beruhigen.«

    Als Nuala den Tee kostete, schmeckte sie bittere Galle. Sie hatte sich erbrochen. Im Wald. Ein grauenvolles Wesen hatte sie angegriffen. Epheles hatte gekämpft. Epheles!

    Der Becher fiel Nuala aus den Händen. Dumpf schlug er auf. Thivka rief etwas, doch Nuala hörte sie nicht. Wie ein Hagelschauer prasselten die Bilder auf sie nieder. Der Kuss. Die Raben. Der Angriff. Ihre Flucht. Der aufstiebende Schnee. Der Sturz den Hang hinunter. Epheles, der mit gezücktem Messer vor sie sprang, sie vor dieser Kreatur beschützte. Wie sie fiel, mit diesem unerträglichen Gewicht auf den Schultern. Schemen, die verschwanden. Spuren im Schnee.

    Nuala vergrub den Kopf in den Händen. Heiße Tränen rannen ihre Wangen herab und Schluchzer ließen ihren Körper erzittern, ihre Hände, ihre Beine, alles. Sie spürte, wie etwas Warmes, Raues sich um sie legte.

    »Alles wird gut«, sagte Thivka ungewohnt sanft an ihr Ohr.

    »Das wird sich zeigen«, ertönte eine missmutige Stimme. Krachend fiel die Tür ins Schloss. Nuala schreckte auf.

    Sanjana trat mit großen Schritten auf sie zu. Ein graues, zerzaustes Knäuel flog an ihr vorbei und landete auf Nualas Schoß. Yle rieb ihren Kopf an Nualas Hand, schmiegte sich an sie und leckte ihr die Tränen vom Gesicht. Nualas Finger schlossen sich bebend um den dürren Körper der Laryx.

    »Du sollst anklopfen, wenn du meine Hütte betrittst«, fuhr Thivka Sanjana an.

    »Ich habe es eilig, sonst gerne«, entgegnete die Magierin.

    »Und schaff deinen Vogel hier raus!«

    »Kronja bleibt, weil ich hier bin. Und die Laryx ist wegen Nuala hier. Willst du Nuala hinauswerfen?«

    Nuala blinzelte und wischte sich die Tränen und feuchte Laryxspucke von den Wangen. Bisher hatte Freundschaft zwischen der Schamanin und der Magierin geherrscht. Zumindest hatte Nuala das angekommen. Ehe sie sich darüber weiter Gedanken machen konnte, zog Sanjana einen Schemel heran und nahm Nuala gegenüber Platz. Thivka stand hinter der Magierin und starrte sie empört an.

    Sanjana seufzte und ergriff Nualas Hände. Ihr schneeweißes Gesicht und ihre weißen Haare leuchteten in dieser schummrigen Hütte wie der Mond in der Nacht. Kronja flatterte vor Nuala auf den Boden. »Nuala, ich weiß, dass es dir schwerfällt, aber ich muss dich bitten, mir genau zu erzählen, was geschehen ist. Alles kann helfen, Epheles zu finden.«

    Etwas schnürte Nualas Kehle zu. »Ihr … ihr habt Epheles nicht gefunden?«

    Sanjana drückte ihre Finger. Ihre eisblauen Augen sahen Nuala entschlossen an. »Ich weiß, wo er sein könnte.«

    Nuala riss die Augen auf.

    »Was ist mit Epheles?«, fragte Thivka besorgt.

    Sanjana löste den Blick von Nuala und sah die Schamanin kühl an. »Wenn du Nuala noch versorgen musst, dann tu das. Aber ich wünsche, dass du sie nicht unterbrichst. Wenn jemand das tut, dann bin ich das.«

    Thivka schnappte nach Luft.

    »Wo ist er?«, hauchte Nuala. »Wo ist Epheles?«

    Sanjana schüttelte den Kopf. »Das erzähle ich dir später«, sagte sie sanft. »Zuerst bitte ich dich, mir zu berichten, was geschehen ist. Wenn du es jetzt nicht tust, verfangen sich deine Gedanken und die Erinnerungen vermischen sich. Ich habe eine Vermutung, wo Epheles genau ist. Aber ich brauche deine Hilfe. Je mehr ich weiß, umso mehr kann ich tun.«

    Nualas Mund war trocken. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sanjana konnte ihr helfen. Sie konnte Epheles finden. Bald würde sie ihn wiedersehen. »Ja«, sagte sie. Tränen sammelten sich in ihren Augen. »Finde ihn. Bitte.«

    »Dann«, Sanjana beugte sich vor und das Gesicht von Epheles, das sich vor Nualas Augen stahl, verschwand, »beginne.«

    Kapitel 4

    Sie rannte und rannte.

    Federn flogen neben ihr, kamen näher, ein scharfer Schnabel, kohlschwarze Augen. Der Rabe wuchs zu einer scheußlichen Frau im Federkleid und wirren grauen Haaren heran, die schrill kreischte und mit gebogenen Krallen nach ihr schlug. Plötzlich war sie auf ihr. Sie fiel und fiel, bis ihr Gewicht sie zu Boden drückte. Sie schrie. Krallen zerrissen ihr Schulter und Rücken, der Schnabel hämmerte auf ihren Schädel. Sie schrie weiter, in Todesangst, hörte jemanden ihren Namen rufen. Sie warf ihren Kopf hin und her, um dem Hämmern zu entkommen, doch sie konnte es nicht, schier zerdrückt von dem Gewicht, das auf ihr lastete …

    »Nuala!«

    … da war das Auge, so schwarz wie die Nacht und so kalt wie der Schnee. Ihr eigenes Gesicht spiegelte sich darin. Panik, Todesangst. Sie schrie auf …

    »Nuala, wach auf! Du bist in Sicherheit!« Die Stimme klang energisch und unnachgiebig. Etwas umschloss ihre Hände, drückte sie zurück in weichen Schnee. »Nein!«, schrie Nuala.

    »Nuala, mach die Augen auf. Ich bin es,

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