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Nachbarn
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eBook362 Seiten4 Stunden

Nachbarn

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Über dieses E-Book

Die Erde im Jahr 2320. Giftige Luft und verheerende Stürme haben die Menschheit unter gläserne Kuppeln getrieben. Im Gedränge der Stadt sucht die siebzehnjährige Bren ihre Schwester Cay. Dabei hört sie Gerüchte von Entführungen, einem mysteriösen Club und uralten Legenden. Bren schenkt ihnen keine Beachtung. Doch dann taucht Cay wieder auf – und sie ist nicht mehr dieselbe.
SpracheDeutsch
HerausgeberTalawah Verlag
Erscheinungsdatum21. Feb. 2020
ISBN9783947550562
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    Buchvorschau

    Nachbarn - Nele Sickel

    www.talawah-verlag.de

    Besuchen Sie uns im Internet:

    www.talawah-verlag.de

    www.facebook.com/talawahverlag

    erschienen im Talawah Verlag

    1. Auflage 2020

    © Talawah Verlag

    Text: Nele Sickel

    Umschlaggestaltung: Jaqueline Kropmanns

    https://www.jaqueline-kropmanns.de/ -

    Lektorat & Korrektorat: Jessica Weber

    Satz: Svenja Hawkins

    unter Verwendung von:

    © Depositphotos

    ISBN: 978-3-947550-562

    Für meine Schwestern

    Lilja, Dora und Kaja

    Als sie das Wummern hörte, richtete Bren sich auf und sah zur Seite. Neben ihr grub sich silberglänzender Stahl in die schwarze Erde. Viel zu schnell bewegte sich der Pflug in ihre Richtung. Wer zur Hölle hatte … Bren brachte nicht einmal den Gedanken zu Ende. Ehe sie sich’s versah, war sie auf den Beinen und sprintete los. Aufgewirbelter Staub machte ihren Hals trocken und brannte in ihren Augen. Erdbrocken streiften ihre Glieder. Am Rande ihres Sichtfelds funkelte bereits das Silber. Sie kniff die Augen zusammen, gefasst auf Blut und Schmerz, und machte gleichzeitig einen Hechtsprung nach vorn. Für eine Sekunde war da nichts, nur Luft. Dann prallte der Boden gegen ihren Brustkorb, Arme und Beine.

    Kurz harrte Bren so aus, der Länge nach hingestreckt, jede Faser ihres Körpers angespannt, aber sie blieb heil. Eine Sekunde, dann zwei. Immer noch Krach, kein Schmerz. Die mörderischen Klingen mussten an ihr vorbeigezogen sein.

    Da öffnete sie die Augen und kam wieder auf die Füße. In der Nähe lagen und standen andere Arbeiter, die genau wie sie die Flucht ergriffen hatten. Und der voll automatisierte Pflug wummerte immer noch ohne Ziel und ohne Fahrer über das Kartoffelfeld.

    Bren richtete ihren Blick auf die gläserne Kuppelwand, die sich am anderen Ende des Feldes gen Himmel streckte und so die Erde, die Pflanzen und vor allem die Menschen vor der tödlichen Marsatmosphäre schützte. Wenn der Pflug nicht anhielt, würde er dagegen prallen, und Bren bezweifelte, dass das Glas das aushalten würde. Sie mussten etwas tun. Um sie herum starrten Menschen fassungslos auf das eigensinnige Fahrzeug. Niemand war in Bewegung, anscheinend erkannte niemand, was geschehen würde.

    Also rannte Bren los. Für ein so schweres Arbeitsgerät hatte der Pflug ein beachtliches Tempo drauf. Die aufgewühlte Erde brach immer wieder unter ihren Füßen weg. Ihre Knöchel bogen sich. Die Staubwolke wurde dichter. Stimmen. Hinter ihr begann jemand zu schreien. Bren strauchelte, raffte sich auf, warf sich weiter vorwärts. Sie hustete heftig, aber sie holte auf.

    Der Pflug musste schon zwei Drittel seiner Strecke bis zur Kuppel zurückgelegt haben, da erreichte sie ihn endlich. Sie presste die Zähne zusammen und stürzte sich ein letztes Mal nach vorn. Mit beiden Händen packte sie die Fahrzeugverstrebung. Sie riss die Arme an ihre Brust, zog sich hoch. Ihre Füße fanden Halt auf den Stufen vor der Fahrertür. Dort klammerte Bren sich fest. Mit dem Unterarm rieb sie sich hektisch den Staub aus den Augen, dann blickte sie durch die Scheibe in der Tür ins Fahrzeuginnere.

    Der Knopf für die Bremse war der blaue ganz links. Sie musste herankommen. Nur wie? Bren rüttelte an der Tür, fand sie aber wie erwartet verschlossen. Und eine Zugangsberechtigung hatte sie als Pflanzarbeiterin nicht. Ein Blick nach vorn bestätigte ihr, was das stete Rattern der Räder und die lauter werdenden Schreie in ihrem Rücken längst verraten hatten: Keine Zeit mehr für einen Plan B.

    Kurzentschlossen löste Bren eine ihrer Hände von der Fahrzeugverstrebung. Sie winkelte den Ellenbogen an und stieß ihn kräftig gegen die Scheibe. Es knackte. Stechender Schmerz fuhr ihren Oberarm hinauf bis in die Schulter. Ihr wurde schwindlig, aber das Glas blieb heil. Also kniff sie Augen und Lippen zusammen und stieß erneut zu. Der Schmerz kehrte umso heftiger zurück und diesmal klirrte es.

    Eilig riss Bren die Augen wieder auf, lehnte sich nach vorn, streckte den Arm in die von Scherben gerahmte Öffnung und angelte nach dem blauen Knopf. Sie hatte ihn fast, rutschte ab, streckte sich noch einmal. Dann presste sie mit aller Kraft dagegen.

    Der Pflug schnaufte laut. Er zitterte. Seine Räder schrien. Das Wummern erstarb. Ein kräftiger Ruck ging durch das gesamte Fahrzeug. Seine Wucht warf Bren über Bord und zum zweiten Mal an diesem Tage knallte sie der Länge nach auf den Boden.

    Stille.

    Bren spürte ihren Arm ziehen und pochen, spürte den dumpfen Schmerz, der ankündigte, dass sie sich bei ihrer Landung etliche blaue Flecken zugezogen hatte, spürte die Nässe der Erde in ihrem Gesicht. Sie rollte sich auf die Seite und hörte sich selbst stöhnen, ehe sie ihre Augen wieder aufzwang. Keine zwei Meter von ihr fing sich Scheinwerferlicht in der Oberfläche der Glaskuppel. Sie war so nah, dass Bren die Linien und Muster im roten Sand dahinter ausmachen konnte.

    In der Kuppel selbst gab es keine Linien oder Muster zu entdecken. Keine Risse. Sie war heil geblieben.

    »Das kann nicht dein Ernst sein. Ich muss arbeiten, Rik!« Bren stand im Büro ihres Supervisors, hielt den professionell verbundenen rechten Arm an ihren Oberkörper gepresst und funkelte ihr Gegenüber auf seinem protzigen Drehstuhl entgeistert an.

    »Vergiss es!« Rik schüttelte den Kopf und fuhr sich mit einer Hand durch sein dünnes, blondes Haar. »Der Bruch und die Schnittwunden heilen auch so. Ich genehmige keine teure Operation, um zu richten, was von allein abheilt.«

    »So kann ich aber nicht arbeiten.«

    »Da sind wir einer Meinung.« Er beugte sich nach vorn und über sein Personal-Pad. Damit rief er einige Daten ab, ehe er wieder zu Bren aufsah. »Du bist drei Monate und zwei Tage hier. Deine Schicht endet ohnehin in einem Monat. Diesmal nimmst du dir einfach ein paar Wochen mehr Urlaub und kehrst dann frisch und erholt zu uns zurück.« Er lächelte. Es war weder aufrichtig noch unfreundlich.

    Bren stöhnte frustriert. »Scheiß auf den Urlaub, Rik! Ich komme hier gut klar. Besser als manch anderer und das weißt du. Wir stünden überhaupt nicht hier, wenn nicht irgendein Vollidiot den Pflug falsch abgestellt hätte. Ich habe mir den Arm nicht gebrochen, weil ich dumm oder tollpatschig wäre. Ich habe da unter der Glasglocke einer Menge Leute den Arsch gerettet!«

    Rik nickte. »Und wir alle sind dir sehr dankbar dafür. Wolltest du das hören?«

    »Nein, verdammt! Ich will die OP. Ich kann nicht auf die Erde zurück, ich brauche das Geld.«

    »Du verdienst in der nächsten Schicht wieder welches. Das hier ist kein Rauswurf, du musst nur erst fit werden.« Er lächelte und diesmal glaubte Bren, dass es väterlich aussehen sollte.

    »Ihr schuldet mir was«, knurrte sie. »Ich hab das für alle getan, ihr schuldet mir was!«

    Darauf änderte sich Riks Miene. Die geduldige Herablassung verschwand und machte einem Anflug von Ärger Platz. Rik richtete sich in seinem Stuhl zu voller Größe auf. Er straffte seine Schultern, legte beide Handflächen vor sich auf der Tischplatte ab und sah Bren direkt in die Augen.

    »Du vergisst wohl, dass wir dich genau dafür bezahlen. Der Weltraum ist gefährlich, Liebes, und deshalb muss jeder, ich wiederhole: jeder, der hier oben arbeitet, auch ganz besondere Risiken eingehen. Für nichts anderes verdient ihr euch hier eine goldene Nase, von der jeder Erntehelfer unten in der guten alten Heimat nicht einmal zu träumen wagt. Wir schulden dir gar nichts, Bren. Du hast getan, wofür du bezahlt wirst. Gut gemacht! Jetzt geh nach Hause und komm zurück, wenn du wieder arbeiten kannst.«

    Bren holte tief Luft. Ihr war danach, ihren Frust herauszuschreien, doch sie war nicht dumm genug, es tatsächlich zu tun. Sie öffnete den Mund, wollte diskutieren, doch es kam nichts heraus. Die Argumente waren ausgetauscht, die Standpunkte waren klar. Und sie konnte nicht gewinnen.

    »Dein letztes Wort?«, fragte sie bloß. Anspannung und Ärger schwangen deutlich in ihrer Stimme mit.

    Rik lehnte sich zurück und nickte. »Mein letztes Wort. Es tut mir leid, dass du verletzt wurdest, Bren, aber ich bin froh, dass du getan hast, was du getan hast, und du solltest froh sein, dass dir nichts Schlimmeres passiert ist. Wir sehen uns in neun Wochen.«

    Einen letzten Moment lang starrte Bren ihren Supervisor zornig an, dann drehte sie sich um und hastete durch die Bürotür nach draußen, ehe sie etwas sagen oder tun konnte, das ihre Rückkehr zum Mars gefährdet hätte. Es half nichts. Auch wenn Rik ein Arsch sein konnte, sie durfte es sich unter keinen Umständen mit ihm verscherzen. Sie brauchte diesen Job.

    Wenig später kniete Bren in ihrer Schlafnische und sammelte, so gut es ohne die rechte Hand ging, ihre wenigen Habseligkeiten zusammen. Etwas Unterwäsche und ihr Personal-Pad. Mehr war es nicht. Das alles verschwand in einer kompakten Umhängetasche.

    Kaum war das erledigt, rollte Bren sich auf den Rücken. Sie nestelte mit der linken Hand am Reißverschluss ihres Arbeitsoveralls und ärgerte sich darüber, wie furchtbar kompliziert ihre Verletzung selbst die einfachsten Dinge machte. Drei Anläufe brauchte sie, ehe sie den Reißverschluss ganz geöffnet hatte und damit beginnen konnte, sich ungeschickt aus den Stoffschichten zu befreien.

    Nach einer Weile fiel der Overall endlich von ihr ab. Sie öffnete ihre Schuhe und schlüpfte gänzlich aus ihrer Kleidung. Dann trat sie den Overall mit den Füßen aus der viel zu engen Schlafkoje und zog umständlich ihre Reisekleidung über. Als sie fertig war, legte Bren sich den Riemen ihrer Tasche über die Schulter und kletterte, so vorsichtig es ging, aus ihrer Nische heraus.

    Von ihrem Bett aus ging es etwa einen Meter in die Tiefe. Sie ließ die Beine über den Rand baumeln, richtete sich auf – wobei sie den Kopf einziehen musste, um aufrecht in der Nische Platz zu haben – und stieß sich ab. Die Landung war nicht graziös, aber sie gelang. Bren wandte sich um und sah noch einmal die Wand entlang und hinauf, in die mehrere hundert Schlafnischen eingelassen waren. Sie konnte von Glück sagen, dass sie eine der tieferen abbekommen hatte und jetzt nicht auf die Leiter angewiesen war.

    Glück … Na ja, was man so Glück nannte … Bren beugte sich nach unten und hob ihren Overall auf. Sie wollte ihn schon in den Wäscheschacht am Ende des Raums werfen, hielt jedoch inne. Er war zu schwer.

    Rasch ließ sie ihn wieder auf den Boden fallen und kontrollierte seine Taschen. Tatsächlich: In der linken Beintasche war noch etwas. Sie zog das Ding heraus und es entpuppte sich als handliche Laser-Hacke. Es war das Werkzeug, mit der sie auf dem Feld letzte Steine beseitigt hatte, die dem Pflug entgangen waren. Sie hätte das Ding nach Abschluss ihrer Arbeit wieder abgeben sollen, aber das war in dem Tumult dieses Tages schlicht untergegangen. Jetzt, da sie es gefunden hatte, sollte sie es zu Rik zurückbringen.

    Sollte … Bren zögerte. Sie hob den Kopf und vergewisserte sich, dass sie allein auf dem Gang war, dann ließ sie die Laser-Hacke in ihre Umhängetasche gleiten. Der Tag hatte ihr so viel Unglück eingebracht, dass sie jetzt durchaus einen kleinen Bonus einstreichen konnte. Sie musste immerhin Geld verdienen und vielleicht ließ sich auf der Erde eher jemand davon überzeugen, sie trotz ihres Arms einzustellen, wenn sie ihr eigenes Werkzeug mitbrachte. Egal wie Rik dazu stand: Wenigstens das war man ihr hier schuldig.

    Die Türen des Transport-Rovers schlossen sich zischend. Bren festigte den Griff um den Riemen ihrer Tasche und blickte hinauf zu dem Kuppeldach über ihr. Irgendwo da oben musste sie sein, die Erde. Doch die umliegenden Scheinwerfer leuchteten zu hell, um im Himmel irgendetwas anderes auszumachen als Schwärze.

    Bren richtete ihre Aufmerksamkeit auf die graue Linie, die sich einmal von links nach rechts komplett über den Himmel zog. Nach über einem Jahr des Pendelns zwischen Mars und Erde hatte sie sich immer noch nicht an den Anblick gewöhnt. Kuppeln, die aufklappen konnten, machten ihr Angst. Natürlich waren sie notwendig, das war ihr klar. Wäre die Kuppel dauerhaft verschlossen, hätte das Spaceshuttle, das nun auf sie wartete, schwerlich landen und wieder starten können.

    Trotzdem war es unheimlich.

    Langsam setzte Bren sich in Bewegung. Trockener Stein knarzte leise unter ihren Füßen. Vor ihr hatten ihre Mitreisenden bereits die Türen des Shuttles erreicht und kletterten einer nach dem anderen in sein Inneres. Bren wusste, sie sollte sich beeilen, wenn sie noch einen der unteren Schlafplätze abbekommen wollte. Dennoch behielt sie ihr Tempo bei und wandte den Kopf im Laufen nach links, wo sie das ferne Licht der ersten Stadt auf dem roten Planeten erahnen konnte. Tradition war Tradition.

    Sie schaute dem Lichtfleck entgegen und flüsterte: »Ich komme wieder. Noch drei Schichten. Dann bringe ich Cay mit und wir erobern dich!«

    Der Lichtfleck nahm ihre Worte wie immer kommentarlos entgegen. Bren lächelte. Dann wandte sie den Blick wieder nach vorn und eilte zum Shuttle.

    Ausgestreckt auf ihrer Liege in der wenig beliebten zugigen Ecke direkt neben der Toilette starrte Bren auf ihr Personal-Pad. Jeden Moment war es so weit. Sie würden endlich in Empfangsreichweite kommen. Der äußerste Deep-Space-Satellit war nicht mehr weit von ihrer Position entfernt und sobald sie nah genug herangeflogen waren, würde sie endlich wieder von Cay hören.

    Es hatte ein paar Tage gedauert, aber nun, da sie den Weg zur Erde bereits halb hinter sich gebracht hatten, hatte Bren ihre schlechte Laune abgelegt. Ja, sie waren in finanziellen Schwierigkeiten. Ja, Bren würde zusehen müssen, so schnell wie möglich einen Übergangsjob zu bekommen. Doch dafür würde sie Cay wiedersehen und ganze fünf Wochen mit ihr haben. So lange hatte Bren ihre kleine Schwester nicht mehr an einem Stück gesehen, seit sie den Job auf den Marsfeldern angenommen hatte.

    Drei kurze Pieptöne kündeten davon, dass das P-Pad Kontakt zum irdischen Mailsystem aufgenommen hatte. Aufgeregt betätigte Bren das Nachrichtensymbol auf dem Bildschirm. Dreizehn ungelesene Nachrichten. Alle von Cay. Bren grinste. Bevor sie sich aber an die Lektüre machte, schickte sie zuerst ihre eigene Nachricht ab:

    Besorg Limonade! Schmeiß sämtliche ätzenden Typen aus der Wohnung! In einer Woche bin ich zu Hause, Schwesterchen!

    Senden. Schon öffnete Bren die erste Nachricht. Cay hatte sie wenige Stunden nach Brens letztem Aufbruch geschrieben.

    Es ist leer hier ohne dich, stand darin. Es ist jedes Mal leer hier ohne dich und diesmal bin ich kurz davor, Figuren an die Wand zu malen, damit ich nicht so allein bin. Oder technische Zeichnungen, wie wär’s damit? Wenn du wiederkommst, habe ich die neue Marsskyline an unsere Wände skizziert, und wenn ich mich dann endlich bewerben kann, laden wir die ganzen Planungstypen zu uns in die Wohnung ein, damit sie meine Arbeit bestaunen können. Das wär doch mal originell. – Komm ganz schnell wieder, sonst mach ich das wirklich!

    Mit einem wehmütigen Lächeln schloss Bren die Nachricht und öffnete die nächste.

    Je mehr Zeit verstrich, desto gefasster wurden Cays Botschaften. Bald ließen sie erkennen, wie viel Freude Cay in ihrem Alltag fand. Ihr Ingenieursstudium lief wie erwartet ausgezeichnet und auch der Nebenjob als Schreibkraft sorgte, wenn schon nicht für Erfüllung, offensichtlich doch immer wieder für Erheiterung. Keine Dramen, keine suspekten Männergeschichten, alles friedlich.

    Nachdem Bren die letzte Nachricht geschlossen hatte, schaute sie hoffnungsvoll auf den Posteingang und erwartete halb, dort schon die erste jubelnde Reaktion auf ihre verfrühte Heimkehr vorzufinden. Aber der Posteingang blieb leer.

    Sei nicht dumm!, ermahnte sie sich. Noch brauchten die Daten eine ganze Weile, um von hier zur Erde und wieder zurück zu wandern. Cay würde antworten. Mit diesem Gedanken zwang Bren sich, das P-Pad auszumachen und ein wenig zu schlafen. Wenn sie nur lange genug schlief, würde beim Aufwachen sicher eine Nachricht auf sie warten.

    Bren übersprang immer mehrere Stufen auf einmal, während sie die Treppe zur Oberfläche hinaufeilte. Oben angelangt, gönnte sie sich nicht wie sonst eine Minute, um an das SUB-Zeichen gelehnt zu verweilen und den Anblick der vertrauten Stadtkulisse unter der himmelhohen Kuppel zu genießen. Stattdessen eilte sie weiter und ließ die aus der Untergrundbahn strömenden Menschenmassen rasch hinter sich.

    Im Schatten der alten Betonklötze, die Bren ihr Viertel nannte, tummelten sich noch mehr Menschen und während sich Bren sonst über die vertraute Kulisse freute, ärgerte sie sich heute nur darüber, wie viele Passanten ihr gedankenlos in den Weg trampelten. Sie musste nach Hause!

    Cay hatte sich nicht gemeldet. In der gesamten letzten Woche kein Wort, kein Ton von ihr. Irgendetwas stimmte nicht. Ihre kleine Schwester war vielleicht in Schwierigkeiten, hatte schrecklichen Liebeskummer oder sonst etwas und Bren war nicht da. Das durfte nicht sein.

    Also drängte sie sich an Leuten vorbei, stieß sie zur Seite, ignorierte böse Blicke und garstige Kommentare, während sie auf den Eingang ihres Wohnblocks zusteuerte. Es war ein uralter Betonklotz, rissig, mit doppelt verglasten Fenstern in brüchigen Plastikrahmen und einem Skelett aus Stahlstreben, zusammengehalten nur noch von verblassten Graffiti, klebrigem Müll und dem Starrsinn des Denkmalschutzes. Aber er stand noch. Bren lief schneller.

    Endlich gelangte sie zur Tür. Sie kickte einen leeren Instant-Food-Container beiseite, dann hielt sie – so gut der Verband um den gebrochenen Arm es zuließ – ihr Handgelenk an den Sensor. Das Gerät erfasste ihren ID-Chip, erkannte sie als Bren und ließ sie ein.

    Drinnen war es menschenleer. Erleichtert, nun endlich ungestört voranzukommen, spurtete Bren den Korridor entlang, vorbei an dem seit Monaten blockierten Fahrstuhl, und die sieben Treppen hinauf zu ihrer Wohnung. Sie keuchte, als sie die oberste Stufe erklomm, und krampfte die unverletzte Hand um ihre Tasche, die ihr längst zu schwer geworden war. Trotzdem hielt sie nicht inne. Sie rannte zur dritten Tür, ließ abermals ihren ID-Chip scannen und stürzte in die Wohnung.

    Es sah alles aus wie immer. Brens Bett war noch so ordentlich gemacht wie bei ihrer Abreise. Nur ein paar Klamotten hatten sich inzwischen darauf angesammelt. Cays Bett auf der anderen Seite war zerwühlt und sah aus, als wäre es vor Kurzem erst verlassen worden. Einer der Sessel war nah ans Fenster gerückt und etwas Geschirr stand auf der Fensterbank. Daneben lag Cays Personal-Pad. Keine Geräusche aus der Kochnische oder dem Bad.

    »Cay?«

    Keine Antwort.

    Bren ging zum Fenster und betätigte den Start-Button des verwaisten P-Pads. Der Bildschirm erwachte flackernd zum Leben und zeigte neben dem tadelnden Akku-leer-Symbol die übliche Aufforderung, für weiteren Zugriff den ID-Chip vor den Scanner zu halten. Links oben war das Datum eingeblendet: 8. Mai 2320. Rechts daneben zeigte ein kleiner Briefumschlag an, dass es einundzwanzig neue Nachrichten zu lesen gab. Sonst war da nichts. Kein Eingabefeld, keine Abwesenheitsnotiz. Nichts.

    Mit einem frustrierten Knurren schaltete Bren das P-Pad aus, warf ihre Tasche auf den Boden und schaute sich im Rest der Wohnung um. Aber auch hier nirgendwo eine Nachricht. Das wenige Essen im Kühlschrank war noch gut, kein Schimmel auf dem benutzt zurückgelassenen Geschirr. So lange konnte Cay noch nicht weg sein. Wäre da nicht die wochenlange Funkstille gewesen, Bren hätte geglaubt, Cay wäre an diesem Tag einfach nur überhastet zur Arbeit aufgebrochen und hätte ihr P-Pad in der Wohnung vergessen. Aber so? Sie musste sie suchen.

    Nate!, war das Erste, was Bren in den Sinn kam. Ohne sich noch einmal umzusehen verließ sie die Wohnung, eilte die Treppen hinab ins Erdgeschoss, rannte über den Flur und klopfte an die Tür an seinem Ende.

    »Nate!«, rief sie, während sich ihr Klopfen in kräftige Faustschläge verwandelte. »Nate! Lass mich rein, verdammt!«

    Die Tür ging auf und der hochgewachsene, drahtige Dealer, der dahinter zum Vorschein kam, bedachte Bren mit einem amüsierten Lächeln. »Ah, Madame Wachhund, so früh wieder zurück? Ich dachte, wir würden noch etwas länger von dir verschont bleiben.«

    »Wo ist Cay?« Bren machte einen ungeduldigen Schritt auf ihn zu, sodass sie nun beinahe Brust an Brust standen.

    »Wenn du es nicht weißt …«, brummte Nate von oben herab.

    »Lass die Spielchen! Ist sie bei dir?«

    »Wonach sieht’s denn aus?«

    Damit trat er einen Schritt beiseite und verschaffte Bren freie Sicht auf seine alte Schlafcouch, den niedrigen Tisch, auf dem sich dreckiges Geschirr stapelte, die riesige Leinwand, die die ganze rechte Zimmerseite einnahm und die Berge von Kisten und anderen Behältnissen in den Zimmerecken, um deren Inhalt Bren sich lieber keine Gedanken machen wollte. Cay war nirgendwo zu sehen.

    »Okay, sie ist nicht hier«, räumte sie ein und richtete ihre Augen wieder auf Nate. »Aber hast du sie gesehen? Habt ihr wieder was miteinander?«

    Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich wüsste echt nicht, was dich das anginge.«

    »Nate, verdammt, das ist kein Spiel! Wir reden hier von Cay! Sie ist weg und ich muss wissen, wo sie ist, hörst du?«

    »Ja, ich höre.« Nate breitete seine Arme in einer beschwichtigenden Geste aus. »Und ich denke, du solltest erst mal wieder runterkommen. Ich weiß nicht, ob du es da oben auf dem Titan mitbekommen hast …«

    »Mars, du Supergenie! Eins ist ein Mond, das andere ein Planet.«

    »Was auch immer … Ich weiß nicht, ob du es mitbekommen hast, aber Cay ist sechzehn geworden, während du unterwegs warst. Sie ist jetzt erwachsen, Madame Wachhund. Volljährig. Genau wie du und ich. Und nebenbei bemerkt kaum ein Jahr jünger als du, oder? Du solltest vielleicht aufhören, dich wie ihre Mutter aufzuführen, und anfangen, zu akzeptieren, dass Cay ihr eigenes Leben lebt und dabei weder dir noch mir noch sonst wem Rechenschaft schuldig ist. Sie ist weg? Okay, ihr Ding. Sie taucht schon wieder auf.«

    Bren starrte Nate unverändert an. Wieder machte sie einen Schritt auf ihn zu, drang bewusst in seine persönliche Sphäre ein. »Es geht hier nicht um Rechenschaft. Es geht um die Frage, ob es ihr gut geht. Sie ist noch nie abgehauen, ohne sich zu melden. Ist etwas passiert? Nimmt sie irgendwas? Hast du ihr was gegeben? Habt ihr wieder mal Schluss gemacht?«

    »Das geht dich …«

    »Verdammt! Nate, bitte!«

    Er seufzte und schüttelte den Kopf. Dann sah er sie frustriert an. »Meinst du wirklich, ihr ist etwas passiert?«

    »Ja! Nein. Ich weiß es nicht. Genau deshalb muss ich sie finden. Nate, bitte!«

    »Sie war nicht hier«, gab er endlich zu. »Sie will nichts mehr von mir wissen, wie du dich vielleicht erinnerst. Daran hat sich nichts geändert. Ich hab keine Ahnung, wo sie ist, ehrlich.«

    Bren meinte, Bedauern aus seiner Stimme herauszuhören, und ihr Beschützerinstinkt drängte sie, ihm noch einmal einzubläuen, dass er sich von ihrer Schwester fernhalten sollte. Aber das hier war definitiv nicht der richtige Moment dafür.

    » Ich danke dir«, rang sie sich stattdessen ab. »Falls sie auftaucht, sag mir bitte Bescheid, ja?«

    »Wenn Cay es so will, sicher.«

    »Nicht nur … Ach, was auch immer.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und verschwand aus Nates Wohnung. »Man sieht sich.«

    »Nur, falls ich es nicht vermeiden kann«, nuschelte Nate, bevor er die Tür hinter ihr ins Schloss gleiten ließ.

    Bren blieb allein auf dem Korridor zurück. Sie sah zu den Reihen verschlossener Türen, die sich zu beiden Seiten den Gang hinunter zogen. Das hier war sicher nicht die liebenswerteste oder aufmerksamste Nachbarschaft, die man sich vorstellen konnte, aber es waren die Menschen, die tagein, tagaus mit Cay unter einem Dach lebten. Da musste doch irgendjemand wissen, was mit ihr war. Zumindest wissen, wann sie verschwunden war. Vielleicht würde das helfen. Vielleicht wusste ja sogar jemand mehr.

    Mit diesen Gedanken machte Bren sich daran, an eine Tür nach der anderen zu klopfen. Obwohl bereits früher Abend war und die meisten Bewohner schon seit einiger Zeit Feierabend haben mussten, machte keiner auf. Entweder sie waren tatsächlich aus oder sie weigerten sich schlicht, ihre Türen zu öffnen. So oder so: Als Bren das Ende des Korridors erreicht hatte, war sie mehr als nur ein bisschen frustriert. Trotzdem machte sie weiter. Sie nahm sich ein Stockwerk nach dem anderen vor und ließ keine Tür aus.

    Die erste, die sich ihr dann öffnete, befand sich im dritten Stock. Eine dunkelhaarige Frau in mittlerem Alter sah heraus. An ihr Bein gepresst stand ein kleines Mädchen und schaute aus großen, gleichgültigen Augen zu Bren auf. Bren kannte keine der beiden.

    »Ja?«, fragte die Frau abweisend.

    »Hallo, entschuldigen Sie. Ich suche meine Schwester. Sie heißt Cay und wohnt im siebten Stock. Ein bisschen größer als ich, zierlich, blond … Sie ist nicht zu Hause und ich mache mir Sorgen. Haben Sie sich vielleicht in letzter Zeit gesehen?«

    Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich kenne deine Schwester nicht«, meinte sie nur und betätigte den Türschalter.

    »Aber …«, begann Bren. Doch da hatte sich die Tür bereits geschlossen.

    Bren seufzte frustriert. Sie wandte sich von der Tür ab und mit grimmiger Entschlossenheit abermals den nächsten zu.

    Viel ergab ihre Suche auch in den nächsten beiden Etagen nicht. Gelegentlich öffnete jemand die Tür, aber kaum einer kannte Cay, und wer sie kannte, konnte sich nicht erinnern, ob und wann er sie zuletzt gesehen hatte. Bren wollte die Leute schütteln für so viel Gleichgültigkeit. Doch sie beherrschte sich und beschränkte sich stets auf ein verbissenes Danke,

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