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Niemals ohne Lippenstift
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eBook295 Seiten3 Stunden

Niemals ohne Lippenstift

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Über dieses E-Book

"I bin do ned dement!" Für die immer lebenslustige und humorvolle Tante Elfie ist es absolut nicht einzusehen, dass sie plötzlich Hilfe im täglichen Leben brauchen soll. Sie liebt attraktive Männer, ihren Lippenstift und den Grünen Veltliner. Dass sie mittlerweile recht wunderlich geworden ist, bemerkt sie nicht.
Als letzte noch verbliebene Blutsverwandte verbringt ihre Großnichte im Laufe von einigen Jahren unzählige Stunden an der Seite der Tante Elfie; in guten, wie in schlechten Zeiten.
Humorvoll erzählt die Autorin über ihre manchmal skurrilen Erlebnisse mit der Tante und deren Demenzerkrankung und gibt dabei humorvolle Einblicke in ein langes und erfülltes Leben.

Dieses Buch ist Preisträger der Goldmedaille "Best Author 2017" des Karina Verlages.
SpracheDeutsch
HerausgeberKarina Verlag
Erscheinungsdatum20. Feb. 2019
ISBN9783966107600
Niemals ohne Lippenstift

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    Buchvorschau

    Niemals ohne Lippenstift - Karina Moebius

    Impressum

    Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Verlage, Herausgeber und Autor unzulässig undstrafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    www.karinaverlag.at

    Text: Karina Moebius

    Lektorat: Herta Bauer

    Covergestaltung: Detlef Klewer

    Layout: Bruno Moebius

    Fotos: Private Sammlung

    2019, KarinaVerlag, Vienna, Austria

    .

    Vorwort

    Das Schreiben dieses Buches war Herausforderung und Freude zugleich. Herausforderung, weil mich die mit meiner Tante Elfie erlebte Zeit über weite Strecken an die Grenze meiner Belastbarkeit führte und das tiefe Eintauchen in die Erinnerung an diese schwierige Phase meines Lebens noch Unverdautes zutage förderte. Andererseits gab es mir die Gelegenheit, auch die schönen und lustigen Erinnerungen aus dem Gedächtnispalast hervorzuholen und mich daran zu erfreuen. Dadurch ist es mir gelungen, Tante Elfie als die in meiner Erinnerung zu behalten, die sie war: Eine lebenslustige, humorvolle und unbescheidene Frau, die alles von ihrem Leben forderte.

    Einige von Ihnen werden sich beim Lesen ein bisschen mit mir identifizieren, denn so mancher hat in seiner Familie oder im Bekanntenkreis einen Menschen, dessen Geist langsam schwindet; sei es nun durch Alzheimer oder, wie im Fall der Tante Elfie, durch Demenz. Es ist nicht immer einfach, mit einer solchen Situation umzugehen, und oft hat man keine Ahnung, was das Beste für den Betroffenen wäre. Trotz aller Schwierigkeiten, mit denen Sie gerade kämpfen mögen, kann ich nur raten, den Humor nicht zu verlieren. Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie – falls Sie gerade bis zu den Ohren in solch einer Herausforderung stecken – nicht verzweifeln, sondern über vieles herzlich lachen können.

    Nach langer Überlegung, ob es Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, auch wirklich zumutbar sei, entschied ich mich letztlich doch dafür, die Sprache der Tante im Wiener Dialekt zu schreiben, weil sonst Essenzielles von ihrer Persönlichkeit verloren gegangen wäre. Um den Nichtwienern das Verständnis zu erleichtern, findet sich im Anhang eine kleine Einführung in den Wiener Dialekt und es könnte von Vorteil sein, diese zu lesen, bevor Sie sich an die eigentliche Geschichte heranmachen. Ich bin überzeugt, dass Sie so den Wiener Dialekt bereits nach ein paar Seiten gut lesen und verstehen können.

    Vergessen Sie nicht darauf: »Humor ist, wenn man trotzdem lacht!«

    Herzlichst

    Karina Moebius

    Was nun?

    »Wissen Sie, wo die Elfie ist?«, fragt mich Friedl am Telefon. Die Freundin der Tante Elfie, die seit gut einem halben Jahrhundert über die meisten wichtigen und unwichtigen Angelegenheiten der Tante bestens informiert ist, klingt besorgt.

    »Nein, ich habe keine Ahnung!« Seit drei oder vier Tagen rufe ich selbst erfolglos bei der Tante an, aber es gelingt mir nicht, ihrer habhaft zu werden. Ich bin leicht beunruhigt, aber trotzdem hoffnungsvoll, dass die Tante wie schon so oft, einfach nur auf der Walz ist und halt wieder einmal nicht Bescheid gesagt hat. Heute, am Montag, wollte ich es noch einmal versuchen. Doch die Friedl kam mir mit ihrer Frage zuvor.

    »Der Kowalski hat gesehen, dass sie von der Rettung abgeholt wurde!«, informiert mich Friedl, die wie meistens mehr als ich weiß. Herr Kowalski ist der Hausmeister und er ist, wie sich das für einen guten Hausmeister eben gehört, meistens auf dem Laufenden, was die Mieter des ihm anvertrauten Hauses betrifft.

    »Mit der Rettung? Um Himmels willen! Was ist denn passiert und in welchem Spital ist sie denn?«, entfährt es mir vor Schreck.

    »Na, das hat der Kowalski auch nicht gewusst. Deswegen rufe ich Sie ja an.«

    Ah ja, logisch. In meinem Gehirn beginnt es zu rattern und ich will mich auf die Suche nach der Tante Elfie machen und dann, sobald ich mehr weiß, die Friedl darüber informieren.

    Wie findet man heutzutage jemanden, der sich dem Hörensagen nach in irgendeinem Krankenhaus befindet? Richtig. Man fragt Herrn Google. Eine Liste mit sozialmedizinischen Einrichtungen und Spitälern des Wiener Krankenanstaltenverbundes ist schnell gefunden. Ich suche mir die dem Wohnort der Tante nächstgelegenen Spitäler heraus und rufe an. Im Krankenhaus Hietzing, der Nummer zwei auf meiner ›Wär-ja-logisch-Liste‹, werde ich auch schon fündig. ›2. Medizinische Abteilung, Pavillon 3a‹, erfahre ich, und mir wird augenblicklich noch ein kleines bisschen mulmiger zumute, als mir ohnehin schon war. Diesen Pavillon kenne ich aus dem Jahr 2005, als ich dort meine damals 85-jährige Großmutter besuchte. In jenem Jahr übernahm ich die Sachwalterschaft für die Oma und durfte mich, wenn auch nur kurz, um ihre Angelegenheiten und ihr Seelenheil kümmern.

    »Bitte, nicht schon wieder!«, flehe ich himmelwärts und mache mich in Windeseile auf den Weg nach Hietzing.

    »Es gibt ja doch jemanden!« Die Stationsschwester ist sichtlich erfreut, als ich bei ihr vorspreche, um mich nach der Frau Elfriede Gebauer zu erkundigen. Auf meine Frage, was denn das bedeuten solle, erfahre ich, dass die Tante, als man sich nach Angehörigen erkundigte, meinte, sie hätte niemanden und sie sei ja ganz allein. Das sitzt. Die Stationsschwester sieht mir meine Erschütterung an und meint tröstlich, dass die Frau Gebauer im Augenblick eben sehr verwirrt sei und man keinerlei klare und schlüssige Angaben von ihr bekommen könne. Man wisse auch noch nicht, was die Ursache dieser augenblicklichen geistigen Unzulänglichkeit sei. Einige Untersuchungen seien bereits terminisiert.

    Mit gemischten Gefühlen gehe ich nun ins genannte Zimmer, um die Tante zu sehen. Sie liegt im Bett und starrt mit abwesendem Gesichtsausdruck und leeren Augen an die Decke. Ich begrüße sie freundlich und versuche zu lächeln, obwohl mir gar nicht danach zumute ist. Ich bin auf ihre Reaktion gespannt. Langsam dreht die Tante den Kopf in meine Richtung, sieht mich an und nach einigen endlos wirkenden Sekunden verändert sich ihr Gesichtsausdruck.

    »Ah, du? Nau, doss du a amoi her find‘st!«, bekomme ich vorwurfsvoll zu hören. Jetzt verstehe ich gar nichts mehr, aber immerhin erkennt sie mich, und vor allem scheint ihr wieder klar zu werden, dass sie ja doch jemanden hat, der sich um sie sorgt. Es ist sehr mühsam mit der Tante ins Gespräch zu kommen. Als ich ihr erkläre, dass ich sie schon seit Tagen telefonisch erreichen wollte, und ich erst von der Friedl gehört hätte, dass sie im Spital sei, kann sie kaum die Zusammenhänge verstehen. Nach mehrfacher, äußerst geduldiger Wiederholung meinerseits, scheint sie die Situation zumindest ansatzweise zu erfassen.

    »Nau, wieso hot denn die Friedl des g‘wusst?«, will sie noch einmal von mir wissen.

    »Vom Herrn Kowalski, bei dem hat sie angerufen.«

    »Jo, aber wieso hot da Kowalski des g‘wusst?«

    »Der hat gesehen, wie du von der Rettung abgeholt wurdest.«

    Die Tante denkt ein paar Sekunden angestrengt nach.

    »Ollerhaund! Der Kowalski siacht wirklich ois!«, resümiert die Tante und ich bin froh, dass sie sich langsam wieder orientieren kann. Mein Besuch scheint ihr Bewusstsein wieder ein bisschen ins Hier und Jetzt zu rücken. Ich will schon nachfragen, was denn eigentlich passiert sei, weswegen sie im Spital gelandet sei, da beginnt sie mir zu erzählen: »Stö da vor, wos mir passiert is …«, leitet sie eine absonderliche Geschichte ein.

    Sie wollte am Samstag einen Ausflug machen, oder vielleicht auch in ein Konzert gehen, genau weiß sie das nicht mehr. Dann war sie im Steinbruch, wo nur Frauen gesessen sind. Auf meine verwunderten Fragen, in welchem Steinbruch das denn gewesen und wie sie dorthin gekommen sei, kann sie mir keine erschöpfende Antwort geben. Vielleicht mit dem Autobus. Oder vielleicht doch mit dem Zug? Ich suche nach dem Körnchen Wahrheit, das in diesen Worten stecken könnte, aber ich finde es nicht. Als ich nachfrage, ob sie die Frauen gekannt hätte, denkt Elfie lange nach und ist schließlich überzeugt, nicht zu wissen, wer diese Frauen waren. Nur die Fini war auch da. Mir wird immer klarer, dass an dieser Geschichte gar nichts stimmen kann, denn die Fini, eine von Tantchens älteren Schwestern, ist seit mittlerweile zwölf Jahren tot. Dann hat ein Lastwagen – so ein Pritschenwagen – die Frauen abgeholt. Sie wurden alle gezwungen, auf die Ladefläche zu klettern, was gar nicht so einfach war. Ich frage, wer denn die Frauen gezwungen hätte und erfahre, dass es die Polizei gewesen sei. Oder vielleicht waren es auch Soldaten? Mit dem Lastwagen wurden sie über endlos lange Feldwege bis in die Stadt gebracht und dort mussten sie wieder aussteigen. Später stand sie mit nacktem Oberkörper an der Kreuzung bei der Philadelphiabrücke, wollte ein Taxi nehmen, um nach Hause zu fahren. Sie hat sich ja so geniert, weil sie fast nackt war.

    Mir verschlägt es fast die Sprache, und ich bin regelrecht fassungslos über diese Erzählung, die die Tante für die Wahrheit hält.

    »Aber wie bist du denn ins Krankenhaus gekommen?«, versuche ich die Aufmerksamkeit wieder auf die Realität zu lenken.

    »Jo, daunn is die Rettung kumman und jetzt bin i do!«, schließt die Tante ihre Geschichte ab, und mehr ist auch beim besten Willen nicht zu erfahren.

    In den letzten Jahren machte sich das geistige ›Nachlassen‹ der Tante durch immer stärker werdende Vergesslichkeit, eine dann und wann gestörte Selbstwahrnehmung und allerlei absurde Ideen bemerkbar. An so manche skurrile Geschichte, an deren Wahrheitsgehalt ich meine Zweifel hatte, möchte ich im Moment gar nicht denken. Die völlige Orientierungslosigkeit ist neu und die eben gehörte fantastische Geschichte macht mir regelrecht Angst.

    Ich bin ratlos. Was nun?

    Tante Elfie

    »Unter der schwedischen Mitternachtssonne haben wir in aller Stille geheiratet!«

    Als ich vor mehr als dreißig Jahren diese Zeilen auf dem edlen Kärtchen las, war ich sprachlos. Aber nicht nur mir, auch dem Rest meiner sonst so geschwätzigen, kleinen Familie verschlug es die Rede. Das Mysterium meiner Kindheit, genannt Tante Elfie, war einmal mehr für eine Überraschung gut.

    »I hob‘s oba eh g‘wusst!«, berichtete die Oma später mit unüberhörbarem Stolz und einer gehörigen Portion Wichtigkeit in der Stimme jedem, der es gar nicht wissen wollte. Die gewöhnlichen Familienmitglieder, so wie eben auch ich eines war, wurden jedoch erst durch den Erhalt des Kärtchens über das späte Glück der Tante Elfie informiert. In meinem Fall hieß das, dass Onkel Fritz nunmehr offiziell gegen Onkel Erich ausgetauscht worden war.

    Zugegeben, ich war schon längst kein Kind mehr, als dieser höchst notwendige Onkeltausch vollzogen wurde, und dennoch erinnere ich mich daran, als ob es eine weit entfernte Episode aus meiner Kindheit wäre. Das mag am Mysterium rund um die Tante Elfie liegen. Sie hielt nie viel von Familie und Verwandtschaft und ging stets ihrer eigenen Wege. Als Kind liebte ich diese wenigen besonderen Ereignisse, bei denen uns auch die höchst interessante und etwas schrille Tante Elfie mit ihrer Anwesenheit beglückte. Sie trat stets elegant und humorvoll auf und war mit einer für mich ganz erstaunlichen Art und Weise gesegnet, sich auszudrücken. Zwar wusste ich mit dem Begriff ›Eloquenz‹ noch nichts anzufangen, doch erkannte ich wohl, dass die Tante Elfie anders war als jeder Mensch, den ich in meinem damals noch kurzen Kinderleben kennengelernt hatte. Den tiefsten Eindruck jedoch hinterließ Tante Elfies orange-roter Lippenstift und der Duft nach nicht ganz billigem Parfum.

    »A bisserl überkandidelt is‘ scho, unser‘ Elfie!«, hörte ich böse Zungen flüstern, konnte mir darunter aber absolut nichts vorstellen. Dass es nicht wirklich wohlwollend gemeint war, erahnte ich intuitiv bereits als Fünfjährige. Wenn ich aus heutiger Sicht auf die Tante meiner Kindheit zurückblicke, bin ich allerdings versucht, den genannten bösen Zungen beizupflichten.

    Darüber hinaus erinnere ich mich, dass die Tante trotz Onkel Fritz – oder vielleicht gerade seinetwegen – immer wieder Männerbekanntschaften pflegte. Dass sie mit so manchem dieser Männer relativ gut bekannt war, verstand ich allerdings erst viele Jahre später. Ich begriff auch ein bisschen die Gehässigkeit meiner Urgroßmutter ihrer eigenen jüngsten Tochter gegenüber.

    ›Ausbund!‹, wurde die Tante genannt. Ausbund wovon? Es war mit Sicherheit nichts Gutes.

    Das Verhältnis der Tante zu ihrer Mutter war ganz offensichtlich nie übermäßig herzlich. Wie wenig herzlich es tatsächlich war, wurde mir erst klar, als die Urgroßmutter verstarb und die Tante es vorzog, sich ihren Urlaub durch ein Begräbnis nicht vermiesen zu lassen. Jener Urlaub wurde nicht verschoben.

    »Unser Elfie hot hoid kan Charakter!«, stellten die bösen Zungen diesmal etwas lauter fest. Andere hielten dagegen, dass sie sehr wohl Charakter hätte – aber halt keinen guten. Dies könnte sich in der Nacht-und Nebelaktion bestätigen, die die Tante inszenierte, um aus der damals noch ehelichen Wohnung mit Onkel Fritz auszuziehen.

    In jenen Jahren noch berufstätig, heuerte sie ein paar Kollegen aus der Firma samt LKW an, die sie unterstützen sollten, ihre Habseligkeiten zusammenzuraffen und abzutransportieren. Die Planung musste generalstabsmäßig, das Timing perfekt sein, denn mit dem Fritzl wollte sie sich in dieser Situation nicht konfrontieren. Genau so zackig wie geplant lief diese spektakuläre Aktion auch ab. Man stelle sich Fritzens Gesicht vor, als er abends vom Büro heimkam und feststellen musste, dass ihm Weib mitsamt der Hälfte – oder möglicherweise etwas mehr als der Hälfte – vom Hausrat abhandengekommen, dafür die Scheidungspapiere hinterlassen worden waren. Wir haben die Reaktion des Onkels nie erfahren.

    Familiengerüchten zufolge soll sich der Onkel Fritz noch eine Weile geziert haben, die Dokumente zu unterschreiben. Dass er irgendwann doch klein beigegeben hatte, bezeugte nun die neuerliche Eheschließung.

    Zu unser aller Erstaunen und Freude zeigte sich das neueste Familienmitglied, ein schwedischer Staatsbürger mit Migrationshintergrund, an unserer Familie durchaus interessiert. Und so kam es, dass ich in den nächsten 23 Jahren noch viel Gelegenheit haben sollte, die Tante Elfie mitsamt neu erworbenem Onkel etwas besser kennenzulernen.

    Tante und Onkel pflegten viele Jahre lang den Sommer in der schwedischen Stuga (gesprochen: Stüga) am Bottnischen Meerbusen zu verbringen, im Winter entweder durch die Welt zu tingeln oder in der kleinen, kuscheligen Wiener Wohnung ganz gewöhnliches Eheleben mit Familienanschluss zu zelebrieren. Diese Zeit im Jahr gab reichlich Gelegenheit für regen Austausch, zum Beispiel beim Heurigen. Auch in jenen Jahren, als ich bereits eine junge Frau war, fand ich die Tante immer noch höchst interessant.

    »Sag, wie hast du den Erich eigentlich kennengelernt?«, fragte ich sie bei einer solchen Gelegenheit.

    »Nun, ich ging damals in den Stephansdom, um ein Kerzerl für unsere Verstorbenen anzuzünden. Und da stand dieses fesche Mannsbild neben mir und versuchte umständlich, sein angezündetes Kerzerl wieder hinzustellen. ›So a fesches Mannsbild!‹, hab ich mir gedacht, aber dermaßen patschert, dass ich mir Sorgen um den Steffl g‘macht hab! Da hab ich ganz spontan seinen Arm genommen, seine Hemdmanschetten aus der Gefahrenzone gezogen und gesagt: ›Sie werden Feuer fangen!‹ Und was soll ich dir sagen? Er hat Feuer gefangen!«

    Ja, mit Männern konnte sie schon immer, die Tante Elfie. Sehr wahrscheinlich ist das der Grund, warum sie immer und überall von Ehefrauen aller Altersklassen scheel beäugt wurde.

    Als der Herr Onkel im Laufe der Jahre immer schwerhöriger wurde, gestaltete sich jede Unterhaltung und jedes Beisammensein als ausgesprochen anstrengend, und ich wünschte mir immer wieder einmal heimlich, etwas Zeit mit der Tante alleine verbringen zu können.

    Vor einigen Jahren hat das Universum diesen meinen Wunsch erhört. Der Onkel verstarb vierundneunzigjährig, und ein wenig später ging auch mein Vater hinüber. Die Einzigen, die von unserer Familie übrig blieben, waren die mittlerweile fast 80-jährige Tante und ich. Und viel, viel Zeit, die ich mit ihr allein verbringen durfte.

    Demenz ist keine Kinderkrankheit

    Beim Betreten des Krankenzimmers im Geriatriezentrum, also im Pavillon 3a, eröffnet sich mir das schon bekannte, ziemlich bedrückende Bild. Das Zimmer ist zwar recht geräumig, aber sechs Patientinnen, in einem Raum untergebracht, kann man wahrlich Anachronismus nennen. Links drei Betten, rechts drei Betten und in der Mitte ein kleiner Tisch mit ein paar Stühlen. Irgendwo dazwischen zwei Zimmerklos.

    Die alten Mädels in der Reihe links scheinen gemeinsam an die 300 Jahre alt zu sein. Eine schläft mit offenem Mund und atmet so schwer, dass ich augenblicklich ganz beunruhigt bin und sich mir die Nackenhaare sträuben. Die Zweite zupft und zerrt ganz geschäftig an ihrem Nachthemd herum. Ich frage mich insgeheim, was sie wohl vorhat und wohin diese Geschäftigkeit führen soll. Die dritte Dame von der linken Seite sitzt heute im Rollstuhl am Tisch und hypnotisiert schweigend ihre Schnabeltasse. Sie erscheint mir komplett entrückt. Die Vierte wiederum brabbelt immer wieder Unverständliches vor sich hin, und auch bei höchster Aufmerksamkeit kann ich keinen Sinn darin erkennen.

    Die Tante sitzt überraschenderweise im schicken Spitalsnachthemdchen und mit einem Glas Wasser ebenfalls am Tisch. Vis-à-vis sitzen ihre Bettnachbarin und deren Ehemann. Worüber sich das Dreiergrüppchen mehr oder weniger angeregt unterhält, verschließt sich mir. Die vierte alte Dame am Fenster unterbricht das Gebrabbel gelegentlich und spitzt die Ohren, beteiligt sich aber nicht am Gespräch. Die Unterhaltung endet abrupt, als ich den Raum betrete. Fünf oder sechs Augenpaare sind neugierig und vor allem erwartungsvoll auf mich gerichtet. Die Tante erkennt mich heute fast augenblicklich und freut sich, dass sie diejenige ist, die den Besuch bekommt. Der Bettnachbarin, Frau Schweiger, und ihrem Mann scheint es egal zu sein, und alle anderen Anwesenden sind ganz offensichtlich enttäuscht, dass der Besuch, der da antrabt, nicht ihnen gilt. Nach Angaben der Tante seien sie und die Frau Schweiger die Einzigen, die hier seit Wochen Besuch bekommen. Da die Tante ja erst seit ein paar Tagen im Spital ist, bleibe ich bei dieser Information skeptisch, doch es ist nicht ausgeschlossen, dass sie recht hat. Es stimmt mich traurig, dass die regelrecht spürbare Enttäuschung im Raum so groß ist.

    Tante Elfie ist heute erstaunlich gut drauf und äußerst gesprächig. Es wundert mich, wie sie von einem Tag zum anderen ihre Sinne wieder beieinanderhaben kann. Etwas später will ich ja mit dem behandelnden Arzt reden, der mir dann hoffentlich Aufschluss über die gesundheitliche Situation der Tante geben kann.

    Heute habe ich eine kleine Grundausstattung fürs Krankenhaus mitgebracht. Zahnbürste, Zahnpasta, einen Kamm und eine Creme fürs Gesicht, einen kleinen Handspiegel sowie zwei Paar Söckchen gegen kalte Füße. Eigentlich wollte ich ihr die Sachen von zu Hause holen, doch stattdessen musste ich alles neu kaufen, weil die Tante ihren Wohnungsschlüssel nicht herausrückt. Offensichtlich will sie nicht, dass ich die Wohnung allein betrete. Ob sie Angst hat, dass ich etwas wegtrage oder in ihren Sachen wühle, weiß ich nicht.

    »Lippenstift host ma kan mitbrocht?«, fragt sie leicht enttäuscht, als ich die Schätze vor ihr ausbreite.

    »Wozu brauchst du denn einen Lippenstift im Spital?«, wundere ich mich laut.

    »I kum ma hoid ohne immer so nockat vor!«, erklärt die Tante unglücklich.

    Weiters standen eine kleine Flasche Cola und vier FruFru auf der gestrigen Wunschliste, die ich natürlich ordnungsgemäß abgearbeitet habe. Darüber hinaus habe ich noch einen Becher Kaffee vom Automaten mitgebracht. Schwarz und ohne Zucker, so wie sie ihn mag, und zwei große Linzer Augen aus der Bäckerei sowie ein paar Mandarinen. Die Freude über die unerwartete Jause ist groß und Tantchen stürzt sich voller Heißhunger auf ein Linzer Auge. Zugegeben, eine mittlere Sünde, wenn man den in letzter Zeit erhöhten Blutzucker bedenkt. Aber kleine Sünden hat der Doktor ja genehmigt. Plötzlich will die Tante noch Zucker in den Kaffee.

    »Ich dachte, du trinkst ihn schwarz und ohne Zucker?«, frage ich irritiert.

    »Ja eh, aber i bin a Siasse!« Für Logik scheint es also noch nicht zu reichen. Die Tante will gleich drei Sackerln vom Zucker. Mich trifft fast der Schlag. Na gut, die Ausnahme wird sie schon nicht umbringen. Kaffee und ein Linzer Auge sind im Nu verputzt, das zweite Linzer Auge wird für das morgige Frühstück aufgespart. Nach zehn Minuten möchte die Tante eine Mandarine. Ich schäle und häute die Mandarine sorgfältig und präsentiere die fein säuberlich geputzten Spalten.

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