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Logbuch der Gegenwart: Aufbrechen
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eBook266 Seiten2 Stunden

Logbuch der Gegenwart: Aufbrechen

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Über dieses E-Book

EINDRINGLICH UND ATMOSPHÄRISCH: VIER REISEN ZU DEN BRENNPUNKTEN UNSERER ZEIT.

HOCHAKTUELLE THEMEN UND BRISANTE ORTE
Vier Städte und Landschaften, die teils fernab unserer Lebenswelt liegen und dennoch DIE PROBLEME UNSERER GEMEINSAMEN GEGENWART OFFENBAREN: ALEŠ ŠTEGER reist an FASZINIERENDE ORTE ABSEITS DER TOURISTENPFADE, wirft sich ins Getümmel hektischer Metropolen und begegnet berührenden MENSCHLICHEN SCHICKSALEN. Aus SHANGHAI berichtet der slowenische Schriftsteller vom Alltag unter Überwachung durch KÜNSTLICHE INTELLIGENZ. Mit den RUSSISCHEN SOLOWEZKI-INSELN betritt er heiligen Boden mit traumatischer Gulag-Vergangenheit. Im SÄCHSISCHEN BAUTZEN besucht er ein ehemaliges STASI-GEFÄNGNIS und wird mit dem RECHTSRUCK in Politik und Gesellschaft konfrontiert. Ein weiteres Ziel ist das SÜDINDISCHE KOCHI.

EIN LITERARISCHER LOKALAUGENSCHEIN AM PULS DER ZEIT
Mit wachem Geist und spitzem Stift, den Finger allzeit bereit am Auslöser, zieht Aleš Šteger hinein in den Moment und in den Ort. In seinen PRÄZISEN BEOBACHTUNGEN verdichtet er DAS WESENTLICHE UNSERER ZEIT und lässt in BILDKRÄFTIGER UND UNMITTELBARER SPRACHE die ganz spezielle ATMOSPHÄRE der besuchten Landschaften und Städte auferstehen. Mit einem VORWORT VON ALBERTO MANGUEL und ZAHLREICHEN FARBFOTOGRAFIEN des Autors.
SpracheDeutsch
HerausgeberHaymon Verlag
Erscheinungsdatum6. Aug. 2019
ISBN9783709938997
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    Buchvorschau

    Logbuch der Gegenwart - Aleš Šteger

    2019

    Alberto Manguel

    Die Kunst Fragmente zu bewahren

    „These fragments I have shored against my ruins"

    T. S. Eliot, The Waste Land

    „Diese Fragmente stütz ich gegen meine Trümmer"

    T. S. Eliot, Das wüste Land

    Ein Text existiert nie (wie wir uns das so unschuldig vorstellen) als sequentielles Ganzes. Das Lesen geschieht im Augenblick. Schauen Sie sich ein Wort oder einen Satz an, blättern Sie um oder klappen Sie den Bildschirm zu, und der Text ist für den Leser nur noch als eine Art Erinnerungsspeise vorhanden. Die Priester in einer kleinen Kirche in der Nähe von Mailand hüten eine Truhe mit, wie sie sagen, der ganzen Dunkelheit Ägyptens, und wenn man darum bittet, heben sie den Deckel leicht an und lassen einen hineinsehen. Der alte Fluch, der den Pharao traf, der sein Herz gegen Mose verhärtet hatte, existiert nur für die Gläubigen – als ein einziger, denkwürdiger Blick. Unser Blick kann nur den Moment des Sehens erfassen: Alles andere ist Erinnerung oder Traum.

    Um 1350 schrieb Francesco Petrarca einen Brief an seine Familie, in dem er über seinen Aufstieg zum Mont Ventoux berichtete und sich rühmte, der Erste gewesen zu sein, der einen Berg „nur wegen der Aussicht" bestiegen hätte. Petrarcas Impuls, aufzuzeichnen, was er sah, als er es sah, in dem Moment, als er es sah, widersprach dem reflektierenden Stil seiner Vorfahren. Die großen Autoren, die ihm bis einschließlich Dante vorausgingen, versuchten, ihre Erfahrung der Welt a posteriori aufzuzeichnen; Dantes Göttliche Komödie ist die Nachbesprechung seiner erstaunlichen Reise. Petrarcas Impuls (wie der unserer Selfies), sich im Hier und Jetzt darzustellen, muss seinen Lesern wunderbar neu und sogar arrogant vorgekommen sein.

    Ein Teil dieser Neuheit (und auch dieser selbstbewussten Arroganz) durchdringt Aleš Štegers Bericht. Sein expliziter Zweck ist es, das Reiseerlebnis (ob in Kochi in Indien, auf Solowki in Russland, im chinesischen Shanghai oder in Bautzen bzw. Budyš in der Oberlausitz) wie mit dem Auge einer Handkamera festzuhalten, die Ereignisse weder vorherzusagen noch nachträglich zu kommentieren. Die Aymara in Südamerika glauben, dass die Zeit nicht von der Vergangenheit her in die Zukunft fließt, sondern von dem herkommt, was wir erleben werden, und dass nur die Gegenwart existieren kann. Šteger teilt diese anti-heraklitische Intuition. Wir sind (Šteger zufolge) immer in der richtigen Erfahrung, die einzig zulässige Konjugation findet in der Gegenwart statt. Was gesehen und gefühlt wurde, was wir eines Tages sehen und fühlen könnten, sind imaginäre Konstrukte ohne materielle Gültigkeit. Gedächtnis und Vorstellungskraft sind für Šteger gleichbedeutend; Voraussage und Fiktion sind die gleiche kreative, aber unzuverlässige Handlung. Gegen die Behauptungen der Physik, dass der einzige Ort, den wir nicht wirklich beobachten können, derjenige ist, an dem wir uns befinden, und der einzige Moment, den wir niemals festhalten können, derjenige ist, der jetzt stattfindet, weil er bereits vergangen ist, versucht Šteger zu beweisen, dass das Gegenteil zutrifft: Wir können nur diesen Ort hier kennen und diese Zeit, in der wir stehen, wie Hamlet in seiner Nussschale, und uns Könige des unendlichen Raumes nennen.

    Dieser Hamlet-Kern, den Šteger bezeugt, ist vieles zugleich: ein Fragment des universalen Alephs, ein Moment jener „toten Zeit", die Šteger in den Uhren sieht, die in einem Juwelierschaufenster in Bautzen ausgestellt sind. Wenn Šteger also beispielsweise in Bautzen ist, laufen alle Kapitel der Geschichte zusammen: das Gelbe Elend aus der Stasizeit, das Budyš der fast vergessenen sorbischen Minderheit, das zeitgenössische Bautzen, das kürzlich seine NSVergangenheit wieder ausgegraben hat. Und doch ist der Ort, den Šteger wählt, keiner von diesen, er schließt vielmehr alle ein, bildet unglaublich dünne Lagen geologischer Schichten aus. Štegers Auge verwandelt chronologische Abfolge und akribische Kartografie in einen einzigartigen universellen Punkt, der immer allgegenwärtig ist. Bautzen steht in Štegers Augen für das wahrnehmbare Universum, immer innerhalb und immer außerhalb der Zeit.

    Die Zeit verschlingt. Aus dem gemeinsamen Gefühl endloser Auflösung entstand für unsere Vorfahren das Bild des alten Mannes, der seine Kinder verschlingt und zerstört, was er geschaffen hat. Aber obwohl der Mythos von einem einzigen Ereignis erzählte, das sowohl ein Ende als auch einen Anfang hatte, wussten die Griechen, dass die Zeit kein Ende nahm, dass Schöpfung und Zerstörung kontinuierlich weitergingen und dass der Begriff des Daseins untrennbar mit dem der Zeit selbst verflochten war, weil wir, die durch die Zeit zerstört werden, auch aus der Zeit gemacht sind. Heraklits lakonische Aussage, dass „wir nie zweimal in denselben Fluss steigen", bedeutet möglicherweise nicht, dass sich der Fluss ändert, sondern dass wir uns immer sofort ändern. Die Zeit vergeht nicht: Wir vergehen in der Zeit, wie Ronsard mehr als einmal beklagte: „Las! Le temps, non, mais nous nous en allons." Aber zu unserem großen Bedauern ist eine Existenz außerhalb der Zeit nicht denkbar. Sein heißt, in der Zeit zu sein, und als die mittelalterlichen Theologen Gott als einen Kreis begriffen, dessen Umfang nirgendwo und dessen Mittelpunkt überall ist, spiegelte das Bild die völlige Allgegenwart der Zeit perfekt wider. Diese Erkenntnis hat eine schreckliche Konsequenz: Wenn die Zeit ein Kontinuum ist, jenseits dessen nichts existiert (oder vielmehr nichts sein kann), dann sind alle kommenden Ereignisse und alle vergangenen Ereignisse bereits vorherbestimmt, und Luther hatte Recht, als er es uns erzählte, dass wir bereits in unserer Wiege dazu bestimmt sind, verdammt oder gerettet zu werden. Zukünftige Ereignisse verlangen (oder schaffen) die Ursachen, von denen sie bereits die Wirkung sind.

    Aristoteles schlug in einem Text zweifelhafter Autorschaft eine Theorie der Zeit vor, die unter dem Namen Ewige Wiederkehr bekannt werden sollte. Die Zeit wiederholt sich und wir werden wieder Zeuge des Falles von Troja und des Todes von Agamemnon sein. Wenn solche Wiederholungen wahr sind, dann sind wir nicht nur die Vorfahren unserer Enkelkinder, sondern auch unserer Großeltern. Mehrere Kirchenväter lehnten das Konzept ab: Origenes, weil es den freien Willen leugnete; Augustinus, weil es unvorstellbar war, dass Christus erneut gekreuzigt und wiederauferstehen würde. Im dritten Jahrhundert vor Christus schlugen die Stoiker eine elegante Lösung vor: Die Zeit käme wieder, argumentierten sie, jedoch mit kleinen Abweichungen. Diogenes wird wiedergeboren, aber er wird nicht derselbe Diogenes sein, und der listenreiche Odysseus wird eine weitere Reise unternehmen, aber der schlaue Mann wird nicht derselbe Odysseus und seine Reise eine andere sein. Die Zeitkreise, so schlugen die Stoiker vor (wie zu anderen Zeiten auch ähnliche Denker in Indien und China, die ihre Argumentation zur Beweisführung stellten), verlaufen nicht in den gleichen Rillen, sondern steigen in einer unendlichen Spirale auf oder ab und auf jeder dieser Spulen gibt es Variationen, die der Zeit die Illusion von Fortschritt verleihen. Jahrhunderte später sollte Vico sich vorstellen, dass die Zeitkreise nicht miteinander verbunden waren, dass drei verschiedene Zeitalter oder Zeitabschnitte endlos aufeinander folgten, dass die Zeit von einem zum nächsten sprang, ohne allmählich zu vergehen, und dass es unser Wille war (zuzüglich einer Kombination aus Vorsehung und geschicktem Wissen), der es uns ermöglichte, die Weisheit, die wir uns in der vorangegangenen Zeit erworben hatten, von der letzten wieder in die erste zu tragen, ein Lernen und Verlernen in der Ewigkeit.

    Für Petrarca ist die Zeit Teil einer anderen Reihe von Kreisen, in denen die Ewigkeit die Zeit verschlingt. In einer berühmten Gedichtserie, I Trionfi, feierte er die aufeinanderfolgenden Siege der Liebe, dann der Keuschheit über die Liebe, des Todes über die Keuschheit, des Ruhmes über den Tod, der Zeit über den Ruhm und schließlich der Ewigkeit über die Zeit. Es ist ein seltsames Konzept, dass diese Kontinuität oder Gesamtheit der Zeit in ihrem geflügelten Streitwagen schließlich die vergehende Zeit selbst besiegt. Um den Kreis zu schließen, schlug Joseph Brodsky vor, dass die Zeit uns während des gesamten Lebens in verschiedenen Sprachen anspricht – Liebe, Glaube, Erfahrung, Geschichte, Müdigkeit, Zynismus, Schuld, Verfall usw. –, von diesen ist die Liebe „deutlich die lingua franca". Von dieser lingua franca sprach Quevedo, als er den Tod als Ergebnis der Zeit akzeptierte und hartnäckig behauptete: „Ich werde Staub sein, aber ein liebender Staub." Dies ist der Staub, den Šteger so fleißig in diesem Buch gesammelt hat.

    Von all diesen mutigen und fantastischen Theorien, von all den wunderbaren und eindringlichen Metaphern, die wir uns im Laufe der Zeit ausgedacht haben, um die Zeit darzustellen, sind diejenigen, die am Ende dieses zweiten Jahrtausends (selbst eine einfältige und willkürliche Vorstellung) entstanden sind, vielleicht die armseligsten. Ein Mann, der seine Kinder verschlingt, ein Krieger im Streitwagen, der siegt und besiegt wird, ein sich unendlich verändernder Fluss, ein Kreis, der mit Gott zusammenfällt, ein Brunnen, der aus der Zukunft fließt, ein sich wiederholender Kreis oder eine Reihe sich wiederholender Kreise: All diese Bilder wurden erträumt und mit der Warnung versehen, die unter den Stunden einer römischen Sonnenuhr eingraviert ist: „Jede verwundet, die letzte aber tötet. Stattdessen scheint die Ikonografie des 21. Jahrhunderts nur von Langeweile oder Ungeduld inspiriert zu sein: eine E-Mail, die an einem Südseestrand eingeht, ein Flugzeug, das die Schallmauer durchbricht, Kommunikation, die (wie die Werbung von IBM) posaunt: „schneller als ein Gedanke stattfindet. Die wenigen Sekunden, die unsere Computer zum Herunterladen eines kleinen Informationsausschnitts benötigen, erscheinen uns zu lang: Damit unser Zugriff sofort erfolgen kann, möchten wir die Zeit am liebsten in ihrer Gesamtheit eliminieren. Die gepriesene Tugend des Internets stellt jedoch das Gegenteil von ewiger oder unendlicher Zeit dar: Sie ist die Abwesenheit von Zeit, und das bedeutet die Abwesenheit von Existenz. Wir streben nach virtueller Realität, wir sehnen uns danach, die Körperlosigkeit des Textes hinter dem Bildschirm anzunehmen. Isoliert vom physischen Kontakt mit anderen Menschen, eingeschlossen in einem Universum aus Werbung und Propaganda, das sich nur mit der Oberfläche und niemals mit der Tiefe befasst, sich nur einer verlockenden Zukunft bewusst ist und die bedauerliche Vergangenheit nicht kennt, haben wir uns die Zeit als eine Hürde aufgebaut, die es zu überwinden gilt. Das ist, als würde man sich das Leben selbst als Hindernis vorstellen. „Wann hattest du das letzte Mal Zeit, das ganze Buch zu lesen?, fragt eine Anzeige für die Net Library, einer Website, die anbietet, die Bücher zu „überfliegen, damit man schnell „auf den Punkt kommt und dann weitermachen kann". Im achten Jahrhundert stellte sich Beda der Ehrwürdige unser Leben traurig als den Flug eines Vogels durch eine beleuchtete Winterhalle vor, als schnellen Übergang von Dunkelheit zu Dunkelheit. Heute würden wir Bedas Klage als Prahlerei lesen.

    Im Fall von Bautzen wird die Stadt selbst zum Wahrzeichen dieses bedaschen Lebensbilds. Bautzen (wie uns die Reiseführer mitteilen) steht heute exemplarisch für eine Stadt der DDR vor dem Fall der Berliner Mauer. Diese Stadt zeigt ihre mittelalterliche Vergangenheit in einer Reihe zerfallender Türme, von denen die Alte Wasserkunst die bemerkenswerteste ist, ein Turm, der sowohl Museum als auch Aussichtsturm ist. Šteger begreift (ohne es zu erwähnen), dass dieses Phänomen kein Zufall ist. Die Geschichte konzentriert sich hier in einem gegenwärtigen Moment, und Wasser ist das alte Symbol der Geschichte. Das Museum war für die alten Griechen das Haus der Musen, die die Töchter von Mnemosyne waren, der Göttin der Erinnerung, deren traditionelle Farbe, wie die von

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