Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Tödliches Treibgut: Kriminalroman
Tödliches Treibgut: Kriminalroman
Tödliches Treibgut: Kriminalroman
eBook415 Seiten5 Stunden

Tödliches Treibgut: Kriminalroman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Zerklüftete Felsen reichen bis in die Brandung hinein, ein entstellter Körper liegt verdreht dazwischen im Sand. Dieser Anblick bietet sich DCI Jim Daley, den es von den rauen Straßen Glasgows an die sonst beschaulichen Strände der Kintyre-Halbinsel verschlägt: Mit seinem Partner DC Scott wird er in das Fischerdorf Kinloch beordert, da sich die örtliche Polizei mit der dort angespülten Frauenleiche überfordert zeigt. Während sie innerhalb der verschworenen Dorfgemeinschaft ermitteln, müssen die beiden feststellen, dass jemand bereit ist, dafür zu töten, dass bestimmte Fragen ungestellt bleiben …

"Breit angelegte Kriminalgeschichte, spannend und unterhaltsam zugleich." Buchkultur

"‚Tödliches Treibgut‘ von Denzil Meyrick überzeugt vor allem durch die Figuren und ihre Beziehungen zueinander. Beides nimmt breiten Raum ein. Die raue Schönheit der westschottischen Küste zieht rasch in ihren Bann. Man wandert zwischen Klippen umher und wird ordentlich durchgepustet, um sich hinterher im örtlichen Pub ein wärmendes Getränk zu gönnen." Aachener Nachrichten

"Fesselnd und mitreißend …" The Wall Street Journal

"Die richtige Prise Authenzität … ein packender Stil … höchst beachtlich." The Herald

"Meyrick versteht es, eine gute Geschichte zu erzählen und noch der unwichtigsten Nebenfigur Leben einzuhauchen." Scots Magazine

"Denzil Meyrick wird bald in einem Atemzug mit Alex Gray, Denise Mina und Stuart MacBride genannt. Sehr beeindruckend." Lennox Herald

SpracheDeutsch
HerausgeberHarperCollins
Erscheinungsdatum8. Mai 2017
ISBN9783959676649
Tödliches Treibgut: Kriminalroman
Autor

Denzil Meyrick

Denzil Meyrick wurde in Glasgow geboren und wuchs an der schottischen Küste in Campbeltown auf. Nach einem Politikstudium arbeitete er als Polizist, freier Journalist und Geschäftsführer einer Whisky-Destille.

Mehr von Denzil Meyrick lesen

Ähnlich wie Tödliches Treibgut

Titel in dieser Serie (3)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Mystery für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Tödliches Treibgut

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Tödliches Treibgut - Denzil Meyrick

    HarperCollins®

    hc_ya

    Copyright © 2017 by HarperCollins

    in der HarperCollins Germany GmbH

    Titel der englischen Originalausgabe:

    Whisky From Small Glasses

    Copyright © 2015 Denzil Meyrick

    Erschienen bei: Polygon, An Imprint of Birlinn Limited

    Published by arrangement with Birlinn Ltd., Edinburgh

    Covergestaltung: bürosüd, München

    Coverabbildung: David Henderson / Getty Images,

    Artwork: www.buerosued.de

    Redaktion: Thorben Buttke

    ISBN E-Book 9783959676649

    www.harpercollins.de

    E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

    Widmung

    Für Fiona, Rachel und Sian

    PROLOG

    Blitzende Lichter tanzten vor ihren Augen. Ihre Glieder erschlafften allmählich, als besäßen sie einen eigenen Willen. Der Schmerz war nur noch dumpf zu spüren, und die Panik verebbte. Sie wusste, dass ihre Gedärme sich entleert hatten. Inzwischen war es ihr egal. Ihre letzten Emotionen bestanden aus einer verblassenden Mischung aus Zorn über die Ungerechtigkeit und einer überwältigenden Traurigkeit, an deren Ursache sie sich nicht mehr richtig erinnern konnte.

    Ihr ganzes Ich, alles, was sie je gewesen war, sickerte langsam aus ihr heraus: ihre Liebe, ihre Sehnsüchte, ihre Vorlieben und Abneigungen. Die Dinge, die sie wütend machten, die sie deprimierten, zum Lachen oder zum Weinen brachten, schrumpften dahin. Ihre allerletzten Augenblicke versanken in einem immer dunkler werdenden Abgrund – in der unwirklichen Distanziertheit eines Verstandes, der sich den Weg ins Vergessen zu erleichtern versuchte.

    Plötzlich, während das Licht nachzulassen begann, erfüllte das Gesicht eines kleinen, blonden und blauäugigen Kindes ihre Gedanken. Nur für einen kurzen Moment flammte die furchtbare, erstickende Pein noch einmal auf, dieses Ringen nach Atem, der Kampf darum, am Leben zu bleiben und zurückzukehren.

    ERSTER TEIL

    1

    Die Leiche bewegte sich im selben Rhythmus wie der Seetang und das Treibgut, die sich in der Biegung der niedrigen felsigen Bucht wiegten. Da trieben Styroporbecher, ein Fischerhandschuh mit drei fehlenden Fingern und eine Getränkeflasche, deren Etikett von Meer und Sonne so ausgebleicht war, dass man den ehemaligen Inhalt nur erahnen konnte. In den orangefarbenen Fetzen eines Plastiknetzes, das immer noch seinen ursprünglichen Zweck erfüllte, hatte sich eine kleine Krabbe verheddert und hob und senkte sich im Einklang mit der Leiche.

    Es handelte sich um den nackten Körper einer Frau, die mit dem Gesicht nach unten im Wasser lag, die Gliedmaßen zu einem trägen „X" ausgebreitet. Ihre Haut erschien wächsern – eine schauerliche Mischung aus Gelb und Grau, die an den Füßen, den Händen und im Genick in Schwarz überging. Ihre sterblichen Überreste waren nach der Zeit, die sie im Meer verbracht hatten, entsprechend aufgetrieben. Einzelne Bereiche am unteren Rücken und an den Oberschenkeln sahen angenagt aus, höchstwahrscheinlich von Krabben, was darauf hindeutete, dass die Leiche zumindest eine Weile weiter draußen getrieben war.

    Auffallend und beinahe unheimlich wirkten die beiden knallroten Bänder, mit denen die Haare zu zwei Zöpfen an den Seiten zusammengebunden waren. Die Frisur erinnerte an glückliche Kindertage und stand in krassem Gegensatz zu der verwesenden Leiche, deren Gestank die salzige Meeresluft des lauen Frühlingstages verpestete.

    Detective Constable Archie Fraser hatte zwar sechs Jahre in Uniform hinter sich, war bei der Kriminalpolizei aber noch ein Neuling. So neu, dass er nur hoffen konnte, die Szene am Strand mit angemessener professioneller Distanz zu betrachten. Eine junge weibliche Police Constable von der uniformierten Polizei sah mit jener Mischung aus Entsetzen und Faszination zu, die dem Menschen angesichts eines Todesfalls eigen ist, vor allem bei der grausigeren Variante. Ebenso erging es der kreidebleichen Spaziergängerin mit ihrem Hund, die die Polizei gerufen hatte. Ihr großer schwarzer Labrador schnüffelte herum und scharrte unbeeindruckt von der Leiche im Sand.

    „Könnten Sie Ihren Hund bitte anleinen, Mrs. MacPherson?" Fraser sprach mit einer Selbstsicherheit, die er nicht fühlte. Es war durchaus zu befürchten, dass der Hund den ungewöhnlichen Geruch aufschnappte und ins Wasser sprang, um seine Quelle zu untersuchen.

    Fraser hatte es in Kinloch von Anfang an nicht leicht gehabt. Erst vergangenen Monat hatte sich sein oberster Vorgesetzter – ein gewisser Inspector MacLeod, der Leiter der Dienststelle – bemüßigt gesehen, ihm einen strengen Verweis zu erteilen. Er hatte eine junge Ladendiebin mit Handschellen an einen sehr heißen Heizkörper gefesselt vorgefunden, während Fraser, der Beamte, der sie festgenommen hatte, einem dringenden Ruf der Natur folgte.

    „Jetzt reißen Sie sich mal zusammen, Junge, reißen Sie sich zusammen!, hatte MacLeod mit seinem unverkennbaren Highland-Akzent gebrüllt. „Das Letzte, was ich hier brauchen kann, ist die Dienstaufsicht, bloß weil Sie so ein bescheuertes Weibsbild halb durchgebraten haben. Sie haben verdammtes Glück, dass sie sogar zu blöde war, um Anzeige zu erstatten.

    Fraser war aufgefallen, dass sein Chef ihn wie einen Fremden behandelte. Sicher, Touristen verwechselten ihn oft mit einem Deutschen oder Skandinavier, wobei er doch tatsächlich von der Isle of Harris stammte. Er hatte sich eine lange Strafpredigt anhören müssen und beschlossen, sich in jeder Hinsicht zu bessern und viel seltener ins Restaurant „Taste of India" zu gehen.

    „Karen, könnten Sie bitte mal herkommen?", rief Fraser der Police Constable zu.

    Sie ging langsam zu ihm, ohne die Tote aus den Augen zu lassen, wie ein Kind, von dem man verlangt hat, eine Schlange zu streicheln.

    „Was ist los?, fragte er. „Das ist doch bestimmt nicht Ihre erste Leiche? Ihr großäugiges Nicken war kaum wahrnehmbar. Fraser hatte seine Probezeit in Glasgow abgeleistet und war es gewohnt, tote Menschen zu sehen: Mordopfer, Ertrunkene, Selbstmörder, Unfalltote – gelegentlich sogar solche, die eines natürlichen Todes gestorben waren. So etwas gehörte in der Großstadt zum Alltag eines Ordnungshüters. Doch im Unterschied zu damals fiel der Tatort hier jedenfalls vorerst in seine Zuständigkeit. Kein Mannschaftswagen voller Kollegen würde ihn ablösen. Das nächste Dezernat für Schwerverbrechen lag fast hundertfünfzig Kilometer entfernt. Selbst sein vorgesetzter Detective Sergeant hatte sich krankgemeldet. Seine hartnäckigen Rückenbeschwerden deuteten stark auf vorzeitige Pensionierung hin … Fraser war definitiv der ranghöchste Kripobeamte vor Ort, genau genommen der einzige diensthabende Kripobeamte hier.

    „Es iss nich bloß das, Archie. Die Polizeibeamtin sprach mit dem starkem Akzent der Region. „Ich meine, das ist Kinloch – wahrscheinlich kenn ich sie.

    Wie hatte er das nur vergessen können? Der Schauplatz des Verbrechens lag nur knapp fünf Kilometer weit weg von einem der einzigartigsten Orte, die er je kennengelernt hatte, ganz zu schweigen davon, dort zu leben und zu arbeiten. Kinloch. Das Städtchen befand sich auf einer Halbinsel zweihundert Kilometer von Glasgow entfernt an Schottlands zerklüfteter Westküste. Oder anders ausgedrückt: am Arsch der Welt, wie Fraser inzwischen befunden hatte. Ungefähr zehntausend Menschen lebten hier auf eine Art zusammen, die sich am besten als moderne Version der 1950er-Jahre beschreiben ließ. Jeder kannte jeden und wusste bis ins kleinste Detail Bescheid über dessen intimste Angelegenheiten. Manchmal, wenn der junge Polizist an einem Fall arbeitete, hatte er eindeutig den Eindruck, dass allen ganz klar war, was er herauszufinden versuchte, sie es ihm aber niemals verraten würden.

    Ein Symptom solcher in sich geschlossenen Gemeinschaften war das angeborene Misstrauen gegenüber Fremden und Polizisten. Frasers Onkel, selbst ein pensionierter Polizeibeamter, hatte ihm geraten, sich immer Freunde außerhalb des „Jobs zu suchen. Er fand, dass viele Polizisten isoliert, introvertiert und abgehoben wurden, weil sie auch neben der Arbeit nur untereinander Umgang pflegten. „Du musst die Ohren weit aufsperren, mein Sohn, vor allem an einem winzigen Ort wie Kinloch, hatte Onkel Davie in seiner Weisheit erklärt. „Ich meine, du wirst nie was über diese Leute rausfinden, wenn du nicht rausgehst und mit ihnen sprichst. Geh was trinken, lass ein bisschen Geld liegen, gib ein paar Runden aus, dann siehst du schon, wie sie aufmachen."

    Archie betrachtete diesen strategischen Ratschlag mit gemischten Gefühlen. Zum einen hatte Onkel Davie immer so sehr die Ohren aufgesperrt und so viele Runden ausgegeben, dass er jetzt auf eine Lebertransplantation wartete. Außerdem war das hier Kinloch, ein definitiv ganz spezieller Ort. Immerhin fand er einige von Davies Ratschlägen recht brauchbar. Und da dies sein erster Posten als Detective Constable war, hatte er sich entschlossen, sich in die Gemeinschaft zu integrieren. Er hatte sich bemüht, dem örtlichen Golfclub beizutreten, doch der hatte leider gerade Aufnahmestopp. Unbeirrt hatte er es mit dem Tennis- und dem Cricketclub probiert, beide Male mit dem gleichen Ergebnis. Kurzzeitig hatte er wieder Hoffnung geschöpft, als der gälische Chor ihn ansprach, um etwas gegen seine schwindende Mitgliederzahl zu unternehmen. Bedauerlicherweise war Fraser so unmusikalisch, wie man nur sein konnte.

    Er hatte versucht, in seiner Freizeit die örtlichen Pubs zu besuchen. Davon gab es eine ganze Menge in Kinloch – viel zu viele in den Augen einiger der eher maßvollen Einwohner der Stadt. Sie bedienten kleine, in sich geschlossene Gruppen der Gemeinschaft. Den Stammgästen der Shore Bar beispielsweise wäre es nie in den Sinn gekommen, die Schwelle des Royal Borough auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu überqueren. Auf subtile Weise zog jedes Etablissement eine leicht unterschiedliche Klientel an. Streitlustige Jugendliche besuchten das Pulse, eine laute Clubbar in der Main Street, während ihre intellektuelleren Altersgenossen das Old Bothy am Marktplatz frequentierten. Römisch-katholische Bürger bevorzugten das Douglas Arms, und die sogenannten „Blaunasen, die Freunde der Cops, das Royal. Es gab ein Pub für Anwälte, Ärzte und Geschäftsleute. Eines für Vertreter und Fabrikarbeiter. Und ein bestimmtes Lokal, das passenderweise direkt neben dem Buchmacher in der High Street lag, widmete sich ausschließlich Pferderennen. Hier lief der „Sport der Könige rund um die Uhr auf großen Bildschirmen. Jenny’s, das versteckt in einer kleinen Seitengasse lag, war die absolute Endstation. Wer sich in allen anderen Lokalen so schlecht benommen hatte, dass er rausgeflogen war – und das waren viele –, der landete hier. Das „Schuldbuch für diejenigen, die hier anschreiben lassen mussten, war legendär, ebenso wie die Kneipenschlägereien. Einheimische bezeichneten das Jenny’s aus offensichtlichen Gründen als die „Star Wars Cantina.

    Fraser kannte sie inzwischen alle. Der typische Verlauf war so, dass bei seinem Eintreten jede Unterhaltung verstummte, um dann Augenblicke später etwas gedämpfter wieder einzusetzen. Anschließend gingen die Gäste einer nach dem anderen nach Hause, bis der junge Detective alleine mit einem aus Kinlochs kleiner Armada von Säufern zurückblieb, die kaum noch merkten, was sie tranken, und denen das auch ziemlich egal war. Und natürlich mit dem aufgebrachten Gastwirt, der seine Verluste überschlug.

    „Darf ich etwas sagen?, fragte Mrs. MacPherson schüchtern. „Die Flut dreht gerade, und … na ja, könnte es … könnte sie … nicht wieder hinausgeschwemmt werden?

    Das hatte der junge Beamte nicht bedacht. „Richtig. Karen, es ist Zeit, uns die Füße nass zu machen. Wir müssen sie über die Wasserlinie schaffen. Sogar wenn wir damit Beweise zerstören, ist es allemal besser, als dass sie bis nach Islay gespült wird."

    „Können Sie das nicht selber machen, Archie? Mir ist jetzt schon ganz schlecht." Fraser erinnerte sie nachsichtig daran, wofür sie bezahlt wurde, und nachdem sie sich der Schuhe und Socken und in ihrem Fall der Strumpfhose entledigt hatten, wateten sie ins seichte Wasser.

    „Okay, nehmen Sie den anderen Arm, Karen, und aufgepasst! Aber vorsichtig – wir wollen hier so wenig wie möglich kaputt machen. Die Polizistin betrachtete zweifelnd die Leiche, gehorchte aber. Sie wandte den Blick ab, während sie das linke Handgelenk ergriff und angewidert den Mund verzog. „Auf drei. Eins, zwei, drei … Sie begannen zu ziehen.

    Zum Entsetzen aller drei am Strand ging die Leiche unter Absonderung einer Menge dunkler Flüssigkeit und einiger festerer Bestandteile in der Mitte entzwei. Es klang wie das dumpfe, saugende Geräusch, mit dem der Klempner einen verstopften Abfluss frei macht. Die beiden Beamten, die mehr Kraft als nötig in die Aufgabe investiert hatten, plumpsten rücklings ans Ufer, und die obere Hälfte der Verstorbenen landete einen halben Meter entfernt von den sonstigen Überresten.

    In Sekundenbruchteilen verbreitete sich ein übler Gestank aus dem frisch geteilten Körper. Der Hund richtete sich steif auf allen vier Beinen auf und stieß ein klagendes Geheul aus, während Karen sich im Kies sitzend ausgiebig auf ihre Uniform übergab. Das hatte man davon, wenn man die Kripo unterstützte. Dunkle Körperflüssigkeiten versickerten im Sand, und selbst die örtliche Möwenkolonie war aufmerksam geworden und wirbelte in einem kreischenden Schwarm über die Bucht.

    „Scheiße! Fraser hatte vorübergehend die Anwesenheit von Mrs. MacPherson vergessen und fluchte. Sie starrte ungläubig auf die Szene, als würde sie damit rechnen, dass gleich jemand hinter einem Felsblock hervorsprang und rief: „Vorsicht Kamera!, womit sich die ganze grauenhafte Episode als schlechter Scherz entpuppte.

    Fraser bemerkte aus dem Augenwinkel eine Bewegung zu seiner Rechten. Drei Silhouetten kamen zielstrebig den Strand entlang auf ihn zugestrebt.

    Die dünne, straffe Gestalt von Inspector MacLeod an ihrer Spitze war unverkennbar. Der Mann verstand nicht gleich, was da vor seinen Augen vor sich ging. Einer seiner Detective Constables erhob sich gerade aus dem Sand, auf dem der Oberkörper einer toten Frau lag, während eine Polizistin ihm vor die Füße kotzte. Eine Frau, die er nicht kannte, wurde von Weinkrämpfen geschüttelt, und ein großer schwarzer Hund wedelte bei seiner Ankunft freudig mit dem Schwanz. Nur ein, zwei Meter entfernt war die untere Hälfte der Leiche in dem stark verfärbten Wasser kaum noch zu erkennen. Ein überwältigender Gestank lag in der Luft.

    „Was zum Teufel treiben Sie da, Junge? Zornesadern pochten an MacLeods Schläfen. „In all meinen Jahren bei der Polizei habe ich so etwas noch nicht erlebt!

    „Ich habe nur versucht …"

    „Sie haben nur versucht, alles zu vermasseln, wie üblich. Der Inspector glühte vor Zorn. „Aye, da gehen unsere Karrieren dahin. Weiß der Himmel, was man Ihnen in der Ausbildung beigebracht hat. Zu meiner Zeit lernte man noch, einen Tatort zu bewahren, und nicht, das Opfer in Stücke zu reißen! Als würde er erst jetzt bemerken, dass sie nicht allein waren, nahm sich MacLeod sichtlich zusammen und befahl dem Polizisten neben ihm: „Sergeant Shaw, bitte tun Sie Ihr Bestes, die kläglichen Überreste an diesem Tatort zu sichern. Anschließend wandte er sich einem untersetzten Mann zu, der ein abgetragenes Sportjackett mit Flicken auf den Ellbogen trug, und fragte: „Sandy, sind Sie unter diesen Umständen in der Lage, eine Untersuchung durchzuführen? Gleichzeitig warf er Fraser einen tödlichen Blick zu.

    Sandy, in dem Fraser einen der hiesigen Ärzte erkannte, fuhr sich durch die ergrauenden lockigen Haare, während er die Szene begutachtete. „Nun, Charles, ich kann mich Ihrer präzisen Beurteilung der Lage nur anschließen. Sein Akzent war reinste schottische Privatschule. „Einen solchen Vorfall habe auch ich in dreißig Jahren als Mediziner nicht erlebt. Er musterte den jungen Detective Constable mit geschürzten Lippen, die pure Verachtung ausdrückten. Dann beugte er sich über die an Land beförderte Leichenhälfte und rieb sich das Kinn.

    MacLeod entfernte sich ein paar Schritte und bedeutete Fraser, ihm zu folgen. Sobald sie außer Hörweite waren, packte er den Jüngeren am Arm, richtete sich auf die Zehenspitzen auf und zischte dem Detective Constable boshaft ins rechte Ohr: „Hören Sie mir gut zu, Constable. Seit Sie in meiner Dienststelle eingetroffen sind, stolpern Sie von einer Krise in die nächste. Fraser spürte, wie er rot wurde. „Wenn dieser elende Schlamassel vorbei ist, werde ich dem Hauptquartier mitteilen, dass Sie nicht nur ungeeignet für die Kripo, sondern überhaupt zu jeder Art von Polizeiarbeit unfähig sind. Verlassen Sie sich drauf, diese Kacke wird auf Ihrem Kopf landen, nicht auf meinem. Mann, wir werden noch die Lachnummer der ganzen Truppe, wenn das so weitergeht!

    Fraser widerstand der Versuchung, seinen Vorgesetzten zu packen und zu Boden zu schmettern. Er dachte noch darüber nach, wie er sich verteidigen sollte, als ein Ausruf des Arztes sie beide zu ihm herumfahren ließ.

    „Charles, ich fürchte, das ist was für die großen Jungs. Der Doktor klopfte sich Sand von der Hose, während die Polizisten zum Schauplatz zurückkehrten. „Es war Mord. Ganz üble Sache.

    „Wie können Sie da so sicher sein, Sandy?" Der Inspector beäugte den Mediziner zweifelnd.

    „Oh, ganz einfach, Inspector MacLeod. Sie hat Würgemale am Hals."

    2

    Detective Inspector Jim Daley reichte dem Verkäufer des eleganten Herrenausstatters seine Kreditkarte und dachte darüber nach, was für ein niederschmetterndes Erlebnis es inzwischen für ihn war, sich neue Hosen zu kaufen. In seinen Zwanzigern – sogar noch in den Dreißigern – hatte er sich eine ganz passable Taille erhalten können, ohne zu hungern oder drastische Fitnessprogramme absolvieren zu müssen. Jetzt, mit Anfang vierzig – wie er seine dreiundvierzig Lenze gerne nannte –, und besonders, nachdem er das Rauchen aufgegeben hatte, schien sein Bauch über Nacht mehrere Zentimeter zulegen zu können. Wenn er einen Anzug oder eine Jeans wählte, die er ein paar Wochen nicht getragen hatte, geschah das nicht ohne eine gewisse Besorgnis. Oft musste er dann mit widerspenstigen Reißverschlüssen oder bockigen Hosenknöpfen kämpfen. Da half nur Luft anhalten und Bauch einziehen, bis das Kleidungsstück so saß, dass er sich halbwegs bewegen und hinsetzen konnte, ohne dass ein abplatzender Knopf wie eine verirrte Kugel durch die Luft schoss. Im schlimmsten Fall hörte er das unerfreuliche Reißen von Stoff über seinem ausladenden Hintern.

    Daher hatte er sich, was Hosen anging, zu einem Neubeginn entschlossen. Er kaufte einfach ein Paar, das zu seiner auseinandergehenden Figur passte, egal, wie unangenehm der Gedanke war, eine mit dem Alter identische Hosengröße zu tragen. Aber immerhin wurde er ja älter und hatte vor, Diät zu halten und ins Fitnessstudio zu gehen, bis die Zahlen in Zukunft wieder auf annehmbare Weise auseinanderdrifteten.

    Während er den Laden verließ, erhaschte er einen Blick auf sich selbst in einem bodenlangen Spiegel. War das wirklich er, dieser übergewichtige, nicht mehr junge Mann? Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass er immerhin einen Meter neunzig groß war und noch alle Haare und Zähne besaß. Frauen fanden ihn durchaus attraktiv – nur eben nicht die eine, von der er es sich am meisten wünschte, jedenfalls kam es ihm so vor. Groß, dunkel, fetter und älter werdend, aber noch recht gut aussehend – das beschrieb Jim Daley ganz zutreffend.

    Die Titelmelodie von Die Sopranos riss ihn aus seinen kleidungstechnischen Überlegungen und lenkte seine Gedanken auf ein Thema, das ihn ähnlich stark verunsicherte: seine Frau Liz. Sie rief ihn gelegentlich bei der Arbeit an, und er war inzwischen darauf gefasst, dass diese Telefonate ein gewisses Maß an schlechten oder unangenehmen Nachrichten brachten.

    „Hi, Liz. Alles in Ordnung?" Er klang immer so einfallslos, wenn er unerwartet mit ihr sprechen musste. Unwillkürlich überlief ihn ein leichter Schauer der Erregung, als er ihre redegewandte, rauchige Stimme hörte.

    „Hi, Darling. Das ging ja schnell. Können wir reden?"

    „Ja, kein Problem. Eigentlich bin ich …"

    Sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Wunderbar. Ich wollte nur Bescheid sagen. Jill möchte, dass ich sie für einige Tage droben im Wohnwagen besuche. Und weil schönes Wetter ist und wir sowieso nichts Besseres vorhaben, fahre ich in ein paar Stunden los."

    Daley war es gewohnt, vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. Er staunte immer wieder über Liz’ Talent, mühelos ihren Willen durchzusetzen und ihm gleichzeitig Schuldgefühle einzuflößen. Er versuchte es mit einer Rückzugtaktik. „Ich bin gegen fünf zu Hause. Wir könnten auf ein paar Drinks in den kleinen Pub gehen oder ein Curry bestellen und uns einen schönen Abend machen. Du kannst doch auch noch morgen früh zu Jill."

    Liz’ Antwort kam so schnell, wie sie vorhersehbar war. „Oh, schade, dass du das nicht früher vorgeschlagen hast. Sie hat mich schon für heute Abend zum Essen eingeladen. Mark muss irgendeinen langweiligen Geschäftspartner bewirten. Ich habe schon zugesagt. Tut mir leid, Darling."

    „Ach so, okay", würgte er heraus. Wahrscheinlich stimmte es, was die Leute sagten: Wenn ein Partner einmal untreu gewesen war, war es sehr schwer, das Vertrauen wiederherzustellen, das in jeder Beziehung so wichtig war. Und Liz hatte ihn auf ausgesprochen spektakuläre Weise betrogen. Ihre erste Affäre – die erste, von der er wusste – war die mit ihrem Fitnesstrainer gewesen. Daley war vom Polizeiarzt frühzeitig nach Hause geschickt worden, nachdem er bei einer Drogenrazzia einen Baseballschläger an den Kopf bekommen hatte. Schon als er die Treppe ihres neuen Einfamilienhauses in der Ortschaft Howwood hinaufgestiegen war, hatte er Geräusche gehört. Der anschließende Anblick von Liz in ihrem Bett, die es sich auf Händen und Knien von ihrem Liebhaber von hinten besorgen ließ, hatte sich ihm unauslöschlich ins Gedächtnis eingebrannt. Da er nicht nur unter einem aufbrausenden Temperament, sondern damals auch noch unter akuten Kopfschmerzen gelitten hatte, hatte Daley den unerwünschten Eindringling mit einem schnellen Kinnhaken k. o. geschlagen, ihn an den Haaren auf den kleinen Balkon hinausgezerrt und sauber über das Geländer hinweg in den darunterliegenden Garten entsorgt.

    Ein nackter Mann, der, begleitet von den gellenden Schreien einer Frau, mit einem verdächtig gebrochen aussehenden Bein aufzustehen versuchte, war für die guten Leute von Howwood Grund genug gewesen, die Polizei zu rufen. Es bedurfte reichlichen Strippenziehens im Hintergrund und düsterer Warnungen bezüglich seiner Zukunftsaussichten, bis es zu einem Deal kam. Daley musste sich einem Anti-Aggressions-Training unterziehen und konnte zusehen, wie er die Trümmer seiner Karriere wieder zusammensammelte. Nachdem er mit Mitte dreißig bereits den Rang eines Detective Inspector erreicht hatte, hätte Jim Daley durchaus darauf hoffen können, als Superintendent oder höher in den Ruhestand zu gehen. Das war nun höchst unwahrscheinlich geworden. Was Liz anging, so hatte sie ihm unsterbliche Liebe geschworen und tränenreich Langeweile und Einsamkeit als Entschuldigung für ihr Verhalten angeführt. Daley war klar, dass er einen Fehler beging, doch ließ ihn seine beinahe blinde Liebe zu ihr den einzigen Kurs einschlagen, der ihm erträglich schien: ihr zu verzeihen. Seitdem hatte er sogar die Andeutungen von engsten Freunden und Kollegen ignoriert, wenn es wieder um irgendwelche Techtelmechtel ging. Er besaß weder die Kraft noch den Willen, das einzig Vernünftige zu tun und sie zu verlassen. Obwohl er es zu verbergen versuchte, war er immer noch bis über beide Ohren in sie verliebt. Und zu seinem eigenen Erstaunen war er bereit, fast alles hinzunehmen, um das Scheitern ihrer Beziehung zu verhindern.

    Liz sagte die richtigen Dinge und machte alles richtig. Sie zeigte großes Interesse an ihm, ihr Liebesleben war leidenschaftlich, sie erklärte sich glücklich und zufrieden, bekundete unerschütterliche Loyalität, aber es half nichts. Jetzt, da das Vertrauen zerstört war, blieb nur das Joch der Besessenheit. Daley musste ständig das anzügliche Nicken und Zwinkern seiner Kollegen ertragen. Die Polizei war eine kleine, in sich geschlossene Gemeinschaft, in der Klatsch und Tratsch blühten. Wenn Liz weniger attraktiv gewesen wäre, wären ihre Indiskretionen vielleicht unbemerkt geblieben. So sorgten die Gerüchte über ihr schamloses Benehmen dafür, dass jeder männliche Kollege sich einbildete, bei ihr Chancen zu haben.

    „Außerdem weißt du ja, wie der Verkehr am Morgen ist. Liz sprach „Morgen mit jenem unwilligen Anklang aus, der sich mit den australischen Sitcoms eingebürgert hatte. Als wäre der Begriff des Morgens dem Zuhörer etwas vollkommen Fremdes.

    Es war eine Marotte, die Daley störte, und er antwortete vernehmlich kälter. „Ja, wie immer du willst, Liz. Wann bist du zurück?"

    „Ach, du kennst mich doch. Ich schwimme mit dem Strom. Oh ja, er kannte sie gut. „Egal, ich muss mich sputen. Ich habe ein Curry für die Mikrowelle für dich hingestellt. Rufe dich später wieder an. Tschüss, Darling. Die liebevolle Bezeichnung klang wie ein Abgesang.

    Daley stand noch ein paar Sekunden mit dem Handy am Ohr da. So wenig gesagt, so viel unausgesprochen gelassen. Das war ihre Ehe. Er ging zum Parkplatz, machte sich im Geiste eine Notiz, den Wagen waschen zu lassen, und fuhr zum Revier.

    Jim kehrte auf dem Umweg über die Kaffeemaschine in sein Büro zurück. Als er die zweite Etage und das gemeinsame Büro erreichte, hörte er bereits seinen Detective Sergeant lautstark am Computer fluchen. „Scheiße, ich kapier nicht, wie die auf die Idee kommen, dass es kosteneffizienter ist, wenn wir die ganze Tippserei selber machen! Detective Sergeant Brian Scott klang ungehaltener als gewöhnlich, und das wollte etwas heißen. „Früher musste man bloß was hinkritzeln und drauf warten, dass ein Mädel im Schreibbüro die Geschichte abtippte. Und jetzt, Herrgott noch mal, ganz Paisley geht zum Teufel, während ich hier rumhänge und zu tippen übe wie ’ne blöde Sekretärin.

    „Ach, DS Scott. Daley imitierte den knappen Kelvinside-Akzent ihres Chefs. „Uns allen obliegt es, uns neue Polizeiverfahren zu eigen zu machen. Er lächelte über Scotts entgeisterte Miene.

    „Aye, scheiß drauf. Irgendwann braucht man noch ’nen Studienabschluss, um unseren Job zu machen." Aber Scott sagte es mit einem Grinsen. Ein IT-Spezialist war er gewiss nicht, jedoch ein höchst effektiver und manchmal brillanter Polizeibeamter. Seine brüske Art und die Neigung, die Vorschriften zu ignorieren, hatten seinen Aufstieg auf der Karriereleiter behindert, sodass er seine Laufbahn sicher als Detective Sergeant beenden würde. Daley hatte das Gefühl, dass diese Rolle wie maßgeschneidert war für seine verbissene Entschlossenheit, und er schätzte seine Mitarbeit mehr, als er jemals zugegeben hätte. Sie waren ein gutes Team.

    Daley ging zu seinem großen, mit Papieren übersäten Schreibtisch. Eine gelbe Haftnotiz auf einem Berg von Akten teilte ihm in Scotts schwungvoller, schlampiger Handschrift mit: Der Simpel will dich sehen!

    „Wann hat Seine Herrlichkeit denn nach mir verlangt?", erkundigte sich Daley. Er blickte gerade rechtzeitig auf, um zu sehen, wie Scotts Computerbildschirm zu einem leuchtenden Blau wurde.

    „Och, gleich nachdem du weg warst. Ist ganz schön abgedreht wegen irgendwas. Er hat mich nicht mal zusammengestaucht wegen dem Saustall hier. Er schwang den Stuhl zu Daley herum und streckte die linke Hand in einer ungläubigen Geste zum Bildschirm aus. „Was soll jetzt die Scheiße hier?

    Daley trank seinen Kaffee aus und trat an Scotts Tisch, wo er geschickt ein paar Tasten drückte und den Bericht wiederherstellte, an dem der Detective Sergeant gearbeitet hatte. „Wie viele Computerkurse hast du eigentlich inzwischen belegt? Muss doch in die Dutzende gehen."

    Scotts Gesicht nahm einen Ausdruck reuevoller Resignation an. „Aye, schon ein paar, aber du musst auch bedenken, Jim, jedes Mal, sobald ich zur Uni gehe, komm ich auch von meiner liebsten aller Ehefrauen weg. Und die haben da eine klasse kleine Bar in der Nähe! Wenn man dann am Morgen wieder nüchtern ist, hat man den Faden verloren und keine Ahnung, von was überhaupt die Rede war."

    Daley lachte in sich hinein, während er mit dem Aufzug in den obersten Stock hinauffuhr. Als die Türen zischend aufglitten, staunte er zum wiederholten Mal über die wachsende Prachtentfaltung, je höher man in diesem Gebäude gelangte. Hier war nichts mehr zu sehen von der nackten Funktionalität der unteren drei Etagen. Stattdessen gab es dunkel getäfelte Holzwände, geschmackvolle Gemälde, weiches Licht, dicken Teppichboden und üppige grüne Topfpflanzen. Selbst das zivile Personal war von der ästhetisch anspruchsvolleren Variante. Eine Frau im engen Rock schwebte in einer Wolke teuren Parfüms, das ihn an Liz erinnerte, an ihm vorbei.

    Hinter der geschlossenen Tür hörte man ganz deutlich das Kichern einer Frau. Auf dem Namensschild stand einfach: Superintendent John Donald – Leiter Kriminalpolizei. Daley klopfte dreimal laut an. Erst erklang gedämpftes Gemurmel, dann das vertraute „Rein". Er öffnete die Tür und trat in zuversichtlicher, aufrechter Haltung ein.

    Donald saß an einem übertrieben großen Tisch, der den Rest des Büros zwergenhaft wirken ließ. Eine attraktive Frau stand neben ihm, hielt eine Akte umklammert und sah unverwandt zu, wie der Superintendent energisch seine Unterschrift unter ein Dokument setzte.

    „Ah, Jim. Donalds Blick glitt kurz zu Daley, bevor er sich wieder den Papieren widmete. Er wedelte flüchtig mit der linken Hand. „Machen Sie es sich bequem, während ich den unersättlichen Appetit dieser jungen Dame auf meine kostbare Zeit befriedige.

    Immer dasselbe. Jim war die Spleens seines Chefs gewohnt. Manchmal kam es ihm so vor, als hätte er seine ganze Laufbahn für diesen Mann gearbeitet. In der Probezeit war Donald Daleys vorgesetzter Sergeant gewesen. Auf seinem ersten Posten bei der Kripo in Paisley als frischgebackener Detective Constable war Donald ebenfalls der Sergeant gewesen. Bald nach Daleys Beförderung zum Detective Sergeant bei der A-Division in Glasgow war Donald als allmächtiger Chief Inspector wieder dazugestoßen. Jemand hatte mal gesagt, ihre Arbeitsbeziehung stünde unter einem schlechten Stern. Leider hatte derjenige recht.

    Der Mann, den er jetzt vor sich sah, hatte kaum noch etwas gemein mit dem ungeschliffenen, übergewichtigen Spießer aus einer scheinbar lange zurückliegenden Vergangenheit. Ruhig und unbeirrbar hatte Donald an seinen Fehlern gearbeitet. Er hatte aufgehört zu trinken, mit Joggen, Golf und Squash angefangen und in der Folge gehörig abgespeckt. Er verbrachte viel Zeit im Süden oder auf der Sonnenbank, damit seine Sonnenbräune dauerhaft und echt war. Auch seine Frisur hatte sich verändert. Nichts mehr war zu sehen von den dichten, schwarzen und kurz geschnittenen Locken – mit seinen schütter werdenden, gegelten Haaren wirkte er wie das Abziehbild eines East-End-Gangsters.

    Entsprechend hatten sich auch seine Manieren gewandelt. Der schwere Akzent aus Glasgows East End hatte sich abgeschwächt zu dem präzisen Tonfall der Mittelklasse von Bearsden, womit er auf der sozialen Leiter weitergekommen war als in geografischer Hinsicht. Sein aufbrausendes Temperament hielt er in Schach, indem er sich bei Vorgesetzten anbiederte und Untergebenen mit distanzierter Arroganz begegnete. Doch Daley war sich immer darüber klar gewesen, wie dünn diese Fassade war. Donald blieb berüchtigt für seine eigennützige Skrupellosigkeit, wurde aber respektiert als mittelmäßiger Polizist, der sich in einen wirklich talentierten Verwaltungsbeamten und Politiker verwandelt hatte. Eine zusätzliche juristische Ausbildung legte Zeugnis ab von der harten Arbeit und Entschlossenheit, die er investiert hatte, um aus einem bettelarmen Elternhaus zu seinem gegenwärtigen Mittelschichtkomfort aufzusteigen.

    Donald unterzeichnete schwungvoll das letzte Dokument und wedelte dann demonstrativ damit in der Luft herum, um die Tinte des Füllhalters zu trocknen, den er benutzte. „Nun, Di, scheuen Sie sich nicht, mir so viele Papiere zur Unterschrift zu bringen, wie Sie wollen. Meine Tür steht immer offen, wissen Sie? Er warf der jungen Frau einen anzüglichen Blick zu. Sie nickte gehorsam und ging hinaus. „Sie müssen entschuldigen, Jim. Reite gerade das neue Mädel ein, sozusagen. Der ewige Papierkram. Also, wo habe ich denn … Ah, hier. Er griff nach einem schwarzen Aktenordner und nahm etwas heraus, bei dem es sich anscheinend um ausgedruckte E-Mails handelte. „Leichte Probleme in den neuen Herrschaftsgebieten. Kinloch, genauer gesagt. Aber was soll ich viel sagen, sehen Sie sich das hier durch, und dann reden wir weiter."

    Daley fiel auf, dass sein geschliffener Tonfall seit dem Verschwinden der Sekretärin etwas abgefallen war. Manch einem wäre das vielleicht als ein Zugeständnis an ihre gemeinsame Vergangenheit erschienen, doch Daley wusste es besser. Es war ein Anhaltspunkt dafür, wie weit unten er in der Hackordnung stand. Donald sah einfach keinen Nutzen darin, für seinen dienstältesten Inspector den Charme einzuschalten. Daley schlug die Akte auf und überflog ihren Inhalt. Nach ein paar Minuten blickte er auf und räusperte sich, um seinen Vorgesetzten von dem Magazin

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1