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Das Rot, das nach Asche riecht
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Das Rot, das nach Asche riecht
eBook266 Seiten3 Stunden

Das Rot, das nach Asche riecht

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Über dieses E-Book

Am Mittwoch, dem 4. Juni 1968 Punkt 16.25 Uhr kam es in Sarajevo zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen protestierenden Studenten und der Polizei. Die Studenten wollten das baufällige Gebäude des ehemaligen Gefängnises "Beledija" erstürmen. Unter den Studenten auch ein verliebter Schüler der Bautechnischen Schule am Zirkusplatz. Doch dann zog ein Gewitter auf, ein gewaltiger Wolkenbruch, mit Wind und Hagel. Schlimm. Trotzdem nichts Besonderes, wenn … Wenn nicht ein neunjähriger Junge ein altes Heft kurz vor dem Unwetter an einem vermeintlich sicheren Ort versteckt hätte. Und wenn die Polizei nicht genau dieses Heft gesucht hätte. Und wenn dieses Heft – plüschgrün mit goldgeprägten Weinblättern darauf – nicht das Letzte gewesen wäre, was von der Bauhauskünstlerin Ida Špieler übrigblieb ...

Basierend auf einem realen historischen Hintergrund erzählt der Roman "Das Rot, das nach Asche riecht" von dieser Bauhauskünstlerin. Und von ihrem Heft. Und von ihrem Leben. Und von dem Jungen, der das Heft stahl. Und erklärt, warum ein verliebter Schüler die Beledija erstürmen wollte. Und warum ein leuchtendes Rot nach Asche riecht und warum der Erzähler all das heute, viele Jahre danach, erzählen muss. Es ist eine Erzählung von der Vergangenheit und von der Gegenwart, von Hoffnung und Enttäuschung, von Liebe und Hass, in einem Wort: eine Erzählung aus Sarajevo.
SpracheDeutsch
HerausgeberWieser Verlag
Erscheinungsdatum1. Okt. 2019
ISBN9783990471029
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    Buchvorschau

    Das Rot, das nach Asche riecht - Milenko Goranović

    DANKSAGUNG

    DAS PLÜSCHGRÜNE HEFT

    1 Jula

    Das erste Mal sah ich Jula vor vier Jahren. Es war ein trüber Vormittag, Regen. Oktober. Winterkälte. Jemand klopfte an meine Tür. Wer soll denn schon so früh am Tag etwas von mir und Katja wollen? Eine junge Frau, verloren in einem dicken Mantel, Strickkäppchen, Sneakers, Jeans, entschuldigt sich, fragt, ob ich der und der wäre, lächelt dann erleichtert, sagt, sie hätte mich lange gesucht. Sie wäre übrigens auch eine Berlinerin, aber sie käme gerade aus Sarajevo. Sie heiße so und so. Danach schwieg sie, als ob mir ihr Name etwas sagen sollte. Ich konnte mich nicht erinnern, diese Frau jemals gesehen zu haben, weder in Sarajevo noch sonst wo, sie sprach kein Bosnisch, sondern Deutsch, sah trotzdem fremd aus, ich war müde, Katja krank, der Tag trüb, das Treppenhaus zugig, also sagte ich, danke schön, ich habe keine Zeit.

    Doch bevor ich die Tür schließen konnte, fügte das Strickkäppchen hinzu, sie wolle ein Buch über die Beledija schreiben. Ich habe die Tür wieder geöffnet. Die Beledija lag mir im Magen, unverdaut seit Jahrzehnten, oder an den Nieren, ich weiß nicht, wo – und diese junge Frau wusste das. Irgendwie. Sie knipste dann das Licht noch einmal an, ich konnte sie jetzt besser sehen, ihr Gesicht war mir noch immer unbekannt, oder jetzt erst richtig, doch jetzt wusste ich, es war keine Verwechslung. Sie heiße Jula Geljo, wiederholte sie, ich müsse mich bestimmt an ihren Vater erinnern. Erst dann begann ich langsam zu begreifen, wer sie war. Sie hatte ich tatsächlich noch nie gesehen. Ihren Vater aber schon.

    Geljo Ćopo war ein Architekt, ein guter, der überall gearbeitet hatte und es auch weiterhin hätte tun können, im Westen wie im Osten, er hätte auch gut in Zagreb bleiben können, aus seinem Namen hätte man schwer seine Ethnie herausgelesen, aber er kam nach Sarajevo. Im August 1992 wurde er erschossen.

    Die alte Ordnung war weg, die neue war noch nicht da, alles in der Schwebe, alles möglich. Es wurde geliebt und gehasst, Liebeslieder gesungen, Märchen erzählt, Schädel zertrümmert, Kinder verkauft, Hoffnung, Kollaps, Umbruch, Aufbruch, alles. Anarchie, eine Riesenwelle schwappte damals von irgendwoher nach Sarajevo über, der Mob jaulte und jauchzte, quasselte von Freiheit, die von unten kamen nach oben und umgekehrt, alles durcheinander und ich mittendrin; ohne mein Zutun bekam ich eine Position, die ich ganze 97 Tage ausüben durfte: Ich war der Stellvertreter des Direktors der Städtischen Museen, klingt groß, war nichts, ich war nur im falschen Moment am richtigen Ort, oder umgekehrt, so wie es mein ganzes Leben lang war, stillstehen, geschehen lassen, warten. Und ich hatte den richtigen Namen für die komplizierte Arithmetik der Postenverteilung. Aber zu sagen hatte ich nichts, zwischen all den Kriminellen und Waffenschiebern, ohne Geld, ohne Unterstützung, keine Partei, keine Macht, ich war nur ein Platzhalter. Und auch das nur auf Abruf. Ich war ja nur ein Buchhalter. Doch der Posten schützte vor Einberufung. Auch nicht schlecht, wenn es zum Krieg kommt. Also habe ich „ja" gesagt. Zwei, drei Tage später entdeckte ich einen Richterspruch, der ein Jahr davor ergangen war und besagte, dass die alte Beledija als Immobilie den Städtischen Museen gehört. Davor gab es ein jahrzehntelanges Geschachere, wem warum die Beledija gehört und was daraus entstehen sollte.

    Ich habe dann Geljo Ćopo in Zagreb angerufen, erzählt, wer ich bin, was ich will, erklärt, dass er sich jetzt gerne seinen alten Wunsch erfüllen könne, er könne jetzt die alte Beledija umbauen, vielleicht zu einem Ausstellungsort machen, ein Haus der Geschichte, oder so, die Stadt hätte nichts dagegen, aber es fehle das Geld. Das neugewählte Stadtparlament wäre zwar bereit, einen Teil der Kosten zu übernehmen, ich kannte auch ein paar Leute, wir könnten gemeinsam den Rest des Geldes suchen, was er davon halte.

    Ich hätte gar nicht so viel reden müssen, Geljo Ćopo wäre nach Sarajevo gekommen, auch wenn er alles selber hätte bezahlen müssen. Auch er hatte eine alte Rechnung mit der Beledija offen, noch aus der Zeit, als er Schüler an der Bautechnischen Schule in Sarajevo war. Das hatte er selber mehrfach in Interviews erzählt; nichts würde er so gerne in seiner Geburtsstadt anpacken wollen wie die alte Beledija. Das Rad der Geschichte könne man nicht zurückdrehen, aber den Foltergeist könne man schon bändigen, jedenfalls sichtbar machen. Wir sollen versuchen, eine andere, schönere Geschichte zu erzählen, auch die wäre da, man muss nur an der Oberfläche ein bisschen kratzen, man muss nur wollen. So oder so ähnlich hat er es gesagt. Später hat er mir erzählt, dass man seinen Großvater sieben Tage lang in der Beledija auf den Kopf schlug und anschließend aus dem Fenster im dritten Stock warf, 1936, oder 1937. Es ist schon eine Weile her, an alle Details kann ich mich nicht mehr erinnern.

    Mit Geljos Zusage habe ich dann der Stadt den Vorschlag gemacht, die Beledija in mehreren Phasen umzubauen, zunächst nur ein Ausstellungsort im Erdgeschoss, dann peu a peu den Rest und am Ende, so etwa 1996 oder 1997, auch die Glaskuppel draufzusetzen, so wie es vom ersten Baumeister Moritz Berger geplant war; auch da rannte ich weit geöffnete Türen ein: Das alte Gefängnis, die Beledija, bröckelte seit dem Zweiten Weltkrieg vor sich hin, offiziell leer, inoffiziell voll besetzt, Menschen, Tiere, Autos. Ein Unterschlupf für Junkies, Taschendiebe, Gemüsehändler, Flüchtlinge, sogar für einen Automechaniker, der hatte sogar den Gefängnishof besetzt. Deswegen bekamen die Städtischen Museen es überhaupt zurück, man wusste nichts mit der Immobilie anzufangen. Aber wenn man so einen Ort in etwas Sinnvolles umwandelt, und dann mit so einem Architekten, so kostengünstig, so schnell, das wolle man gerne unterstützen. Das hat mir der neue Bürgermeister persönlich versprochen.

    Nun ja, seine politische Karriere war noch kürzer als meine. Als er noch an der Macht war, verlangte er, der Bürgermeister, von mir, dem Stellvertreter, einen Vorschlag zu unterbreiten, was man wie in der alten Beledija machen könnte, damit da endlich etwas Sinnvolles entstehe, damit wir in fünf, zehn Jahren sagen können: Ja, Sarajevo ist jetzt viel, viel schöner, alles ist besser. Eigentlich hat er das nicht von mir verlangt, zwischen uns gab es behördlich einen ziemlich großen Abstand, er hatte den Vorschlag vom neuen Kulturamtschef erwartet und der wiederum vom Direktor, dessen Stellvertreter ich war, aber die waren bereits weggespült worden, wie gesagt, es war jene seltsame Periode, in der man an einem Tag himmelhoch fliegt, am nächsten schon im Straßengraben verendet. Also habe ich es gemacht. Ja, richtig, ziemlich gestrig, ein Fünfjahresplan war das – und ja, ich habe wirklich geglaubt, dass es möglich wäre, den Foltergeist, von dem Geljo sprach, aus diesem finsteren Gebäude zu verbannen. Der Bürgermeister und die ganze Stadt dachten ähnlich, alles wurde ganz schnell genehmigt und noch schneller ad acta gelegt, man solle erst einmal abwarten, was morgen käme.

    Es wäre vernünftiger gewesen, wenn Geljo und ich genauso gehandelt hätten. Aber wir wollten nicht warten. Der Automechaniker kam zuerst dran, er hat natürlich zunächst gelacht, sich dann geweigert, den Räumungsgesuch überhaupt anzunehmen, dann angenommen, dann geflucht, danach gebettelt, es hat ihm nicht geholfen, das Gesetz war auf unserer Seite. Als wir mit der Polizei kamen, musste er seine Autos woanders unterbringen; mit den Flüchtlingen wollten wir uns Zeit nehmen, mussten wir auch. Da war nicht so klar, wer und wann die Genehmigung erteilt hatte. Aber uns ging es sowieso nicht um das ganze Gebäude. Die Eingangshalle war jetzt leer, und da wollten wir starten und dann nach und nach die weiteren Räume befreien, eine Befreiung von innen heraus, bis wir die ganze alte Beledija frei bekämen, damit wir dann richtig beginnen könnten.

    Er hat mir auch die Kopien der alten Pläne des ersten Baumeisters Moritz Berger gezeigt. Nicht zufällig nannte man ihn „Meister der Gespinste." Denn alles, was sich dieser Moritz Berger vorgestellt hatte, war zart und zauberhaft. Lichtdurchflutet. Danach war ich noch mehr überzeugt, dass wir das Richtige tun. So habe ich selber die alten Ölkanister und verrosteten Schrauben weggeschafft, den Boden geschrubbt, Geljo Ćopo stand auch nicht nur daneben, er hat persönlich den Pinsel genommen, ist auf die Leiter gestiegen und hat alles weiß angestrichen. Auch er selber wusste, dass wir nicht unendlich viel Zeit hatten. Die Eröffnung der leeren Galerie war für den 6. April 1992 geplant, ein bisschen deswegen, weil wir die Stunde Null suggerieren wollten und noch mehr, weil wir gar nicht so sicher waren, was wir da alles ausstellen sollten. Wichtig war, sich der Trostlosigkeit entgegenzustellen. Aber kurz vor dem Eröffnungstermin kam der Automechaniker zurück, mit fünf Autos, in jedem Auto fünf Kerle, alle bewaffnet, ich war nicht dabei. Geljo schon. So, sagte der Automechaniker, du schuldest mir 22.345 DM für jeden Monat, in dem ich nicht gearbeitet habe, geh nach Hause und komm mit dem Geld zurück. Oder soll ich meine Leute zu dir schicken?

    Als ich den Bürgermeister aufsuchen wollte, gab es ihn nicht mehr, er war weggescheucht worden, zwei Tage später wurde auch ich weggespült und der ganze Fünfjahresplan mit mir, alles wurde einfach vergessen, es gab Wichtigeres zu tun. An diesem Tag fielen die ersten Granaten, vor unserer Galerie standen bereits Sandsäcke aufgetürmt, das war jetzt das weißgestrichene Hauptquartier der Polizeieinheit, deren Kommandant der Automechaniker war.

    Nun, so ist es im Leben, mal verliert man langsam, mal geht das ganz schnell, trotzdem dachte ich und wohl auch Geljo, all das wäre nur ein vorläufiger Knick, sobald der Krieg vorbei wäre, würden wir dort weitermachen können, wo wir stehengeblieben waren. Wir müssten uns jetzt nur in Geduld üben, haben wir gedacht. Wir haben sogar weitergearbeitet. Eigentlich nur weitergesponnen, aber das weiß ich erst jetzt. Einmal hatte er sogar mit einem Stück Kohle auf die weiße Wand gezeichnet, wie die neue alte Beledija mit der Glaskuppel dereinst aussehen würde. Bei mir im Keller. Bei Kerzenlicht. Da hatten wir Raum genug. Erst jetzt merke ich, wie absurd diese Höhlenmalerei war. Damals hätte ich wegen der Schönheit heulen können.

    Er kam oft zu mir, fast jeden Tag und wir begannen endlich auch darüber zu brüten, worüber wir eigentlich davor hätten brüten müssen, nämlich was da drin ausgestellt werden soll. Solange ich mich erinnern kann, war die Beledija ein finsteres, halbverfallenes, verlassenes Gebäude, kein Knast mehr und trotzdem noch immer ein Unort, oder erst recht dadurch ein Unort geworden, weil er verlassen war. Verlassen, aber nicht leer. Mitten in der Čaršija, gleich neben dem Rathaus, so zentral, dass man es nicht nicht-sehen konnte, auch wenn man nicht hinschaut, zu groß, zu hässlich, zu voll, und vor allem, zu lange ein Knast gewesen, in dem jeder mal drin war, ob als Gefangener oder als Henker, egal, das spielt keine Rolle. Jeder wusste, was die Beledija ist, aber keiner wusste, wie man damit umgehen sollte. Wegschleifen – geht nicht, ein Mahnmal, nicht wegschleifen genauso wenig, vergessen erst recht nicht, so eine Halbruine kann man einfach nicht übersehen, eine offene Wunde. Es blieb wie ein Stück trockenes Brot, das einem im Hals steckenbleibt, schlucken – geht nicht, ausspucken noch weniger. Es gab auch niemanden, der einen auf den Rücken klopft. Aber wie zeigt man das? Wie erzählt man diese Geschichte? Die leeren, weißen Wände, das könnte irgendwie für die Eröffnung noch in Ordnung sein, aber was und wie weiter? Ohne Nahrung, ohne Wasser, ohne Luft, auch ohne Licht, ohne alles kann der Mensch aushalten, nur ohne Geschichten nicht. Und dann noch in Sarajevo. Doch wie viele Geschichten muss man in Sarajevo erzählen, damit ein Abgrund zugeschüttet wird?

    Eine vernünftige Antwort haben wir natürlich nicht gefunden, wie auch, auch uns wurde langsam klar, dass wir zunächst das Ende des Krieges abwarten sollten, denn es könnte am Ende auch so kommen, dass dereinst nicht wir zwei, sondern der Automechaniker der zukünftige Erzähler wird; in dem Fall, sagte Geljo, werden wir zwei in unserer Galerie ganz prominent aufgehängt werden. Und zwar nur, wenn es gut läuft. Er hatte einen guten Humor. Doch bald konnten wir uns nicht mehr so oft treffen, der Krieg nahm an Fahrt auf, Geljo hatte auch ein kränkliches Kind, das wusste ich, eine Tochter, da hat man andere Sorgen; später sah ich ihn fast gar nicht mehr, am Ende wusste ich überhaupt nicht, ob er noch in Sarajevo war, er wollte unbedingt versuchen, mit dem kränklichen Kind rauszukommen, ich dachte nicht mehr an ihn, ich hatte auch andere Sorgen.

    Doch eines Tages fand er wieder zu mir, verprügelt, geschlagen, mit blutunterlaufenen Augen, die Nase gebrochen, mit zerquetschter Hand, einen schmutzigen Verband um die gebrochenen Finger. „Mein Kind, mein Kind, meine Tochter."

    Die Kerle des Automechanikers hatten ihn gefunden. Ich wollte wissen, wer genau, wo, wie, aber davon wollte er nicht reden. Das war nicht sein Problem, er hatte Angst um sein Kind. Er hat nicht ein einziges Mal erwähnt, dass sein Kind ein Adoptivkind war, noch weniger, dass seine Tochter dunkelhäutig wäre, also konnte ich Jula dann gar nicht mit ihm in Verbindung bringen, als sie 22 Jahre später an meine Tür klopfte.

    Egal, ich wollte Geljo helfen, schließlich war ich es, der ihn nach Sarajevo gelockt hatte. Am nächsten Tag ging ich zu Predo Finci. Ich wusste, dass seine Hilfsorganisation gerade dabei war, einen Konvoi für Waisenkinder zu organisieren. Wenn ich Geljos Kind helfe, habe ich auch ihm ein bisschen geholfen. Zu meiner Freude hat Predo Finci sofort zugesagt, Geljo hat sich dann sofort mit Papieren bei Predo gemeldet, das Kind wurde tatsächlich auf die Liste gesetzt, die Liste wurde von der Polizei auch genehmigt, das Kind dann tatsächlich gerettet, aber Geljo blieb in Sarajevo.

    Vielleicht war es gar nicht der Automechaniker, der geschossen hatte, das war gar nicht sein Territorium. Es war der 1. August, es war heiß, das Kind ohnehin kränklich, Geljo hatte die Fünfjährige in den Armen zum Bus gebracht, die Finger bandagiert, das Kind wollte sich von ihm nicht trennen, hatte Angst, hat geweint, ach, was geweint, gebrüllt hat das Kind, so geschrien, dass auch alle anderen Kinder angefangen haben zu brüllen, zu schreien, zu heulen, alle waren verzweifelt, Geljo, die Polizisten, die Erzieher, die Kinder. Es war alles so mühsam ausgehandelt, mit jeder der unzähligen Armeen musste man einzeln verhandeln, damit sie an diesem 1. August 1992 für 30 Minuten das Feuer einstellen, von 10.00 bis 10.30, schon um 10.31 wollte man weiterschießen, das war beschlossene Sache – und wenn der Bus in diesem Zeitfenster nicht durch ist, dann kannst du dich auf etwas gefasst machen. Aber das Kind schrie und schrie, drohte ohnmächtig zu werden, also bat Geljo einen der Polizisten, ein paar hundert Meter mitfahren zu dürfen – im Bus waren nur zwei erwachsene Personen erlaubt, der Fahrer und eine Erzieherin – schon in der nächsten Straße würde er aussteigen, dem Kind irgendwas erzählen, irgendwas erfinden und den Bus verlassen. Als der Bus dann zwei Straßen weiter stoppte, damit Geljo seiner Tochter ein großes Eis und eine große Cola und riesengroße Schokoriegel und was-weiß-ich-noch für den Weg besorgen kann, kamen die Kugeln. Woher, weiß ich nicht. Predo auch nicht. Er hat mir all das erzählt. Später, viel später. Der Polizist konnte aussteigen, Geljo und zwei Kinder, der einjährige Roki Sulejmanović und die zweijährige Vedrana Glavaš blieben liegen. Das war Samstag. Am Sonntag fuhr der Konvoi trotzdem weiter. Geljos Kind auch. Nach Split. Von Split nach Monza. Nach dem Krieg begann Geljos Mutter, „ihr Kind zu suchen. Fand es auch in einem Kinderheim namens Mamma Ritta. Sie sprach weder Italienisch noch Englisch noch sonst so eine Weltsprache, noch hatte sie jemanden, der für sie sprechen konnte, auch ihre Papiere waren dürftig, aber zwei Jahre später bekam sie trotzdem „ihr Kind zurück.

    22 Jahre später stand dieses Kind, jetzt eine junge Frau, vor meiner Tür und sagte, sie heiße Jula Geljo, sie schreibe ein Buch über die Beledija und deswegen würde sie gerne mit mir reden, vielleicht könne ich ihr helfen.

    Eigentlich wollte sie zunächst nur ihre Magisterarbeit an der UdK machen, Architektur als Sozialutopie, also begann sie zu forschen, Sarajevo, Dessau, Haifa, Berlin natürlich auch, fand mehr Geschichten, als sie für eine Magisterarbeit gebrauchen konnte, so schreibt sie jetzt auch ein Buch, dazu kam noch ein Zufall, man suchte in Brüssel gerade Frieden stiftende Projekte auf dem Westbalkan, sie hat sich beworben, und wenn das klappt, kann sie sogar Geljos alten Wunsch erfüllen. Sie nannte ihren Vater immer nur Geljo.

    Schön für sie, habe ich gesagt, aber ich habe für die Beledija im Moment keine Zeit. Dass es auch für sie besser wäre, die Finger von der Beledija zu lassen und all diese und ähnliche Frieden stiftende Projekte in Bosnien zu vergessen, habe ich nicht gesagt, aber gedacht.

    Ach, Kind, warte nur ab. Wahrscheinlich hat sie mich durchschaut, sie lächelte, als ob ich etwas nicht so richtig verstanden hätte, sie sei übrigens nicht allein, sagte sie, das Beledija-Projekt macht sie mit ihrem Freund Aris zusammen und tausende andere seien auch dabei und alles sei ganz organisch entstanden, keine Megalomanie, sie haben auch eine Website, von überallher kommen unterstützende Worte für so ein Projekt, endlich mal in Bosnien einen Ort zu haben, wo nicht kleinkarierte Nationalscheiße erzählt wird, sie sagte es genau so, kleinkarierte Nationalscheiße, es wird ein Haus der Geschichte entstehen, und wenn es ganz gut läuft, auch ein Haus der Gegenwart, für alle, richtig für alle, für Christen, für Muslime, für Juden, für Gläubige, für Ungläubige und für alle anderen auch, nicht nur in Bosnien, sondern auf dem ganzen Balkan, und die Magisterarbeit hat sie fast schon fertig und das Buch, das kommt natürlich auch, sowieso, sie weiß schon, wie ihr Buch heißen wird, „Das Rot, das nach Asche riecht", sie könne mir auch erklären, warum.

    Nun, wie ihr Buch heißen wird und warum und ob überhaupt, das war mir herzlich egal. Nur weil der Titel so umständlich war, blieb er mir damals im Kopf hängen. Es war kalt im Treppenhaus, ich war müde, machtlos, kraftlos, das Licht ging aus, nur ihre Augen glühten, trotzdem merkte sie, dass ich ungeduldig war, versuchte noch in abgewürgten Halbsätzen schnell zu erklären, was sie eigentlich von mir wissen wollte. Sie hätte in Haifa eine Verwandte der Bauhauskünstlerin Ida Špieler gefunden, die wiederum eine Verwandte des ersten Baumeisters Moritz Berger wäre, ob mir der Name etwas sagt. Der Name sagte mir nichts, ich hatte auch keine Zeit, Katja musste ihre Medikamente einnehmen, also habe ich die Tür zugemacht. Ich habe gemerkt, dass sie sehr enttäuscht war, aber ich wusste nicht, wie ich ihr helfen könnte, sie schaffte nur noch, mir ihr Kärtchen mit der Telefonnummer zu geben, ich nahm es, aber nicht, weil ich mit ihr telefonieren wollte; ich werde sie nie wieder im Leben sehen, dachte ich. Besser gesagt, ich habe gar nichts gedacht, die Vergangenheit klopft jeden Tag an meine Tür, das heißt aber nicht, dass ich jedes Mal öffnen muss. Danach bin ich zu Katja gegangen, habe mich auf die Bettkannte gesetzt und gesagt, ich habe eine neue Geschichte für dich.

    2 Eine stürmische Juninacht, Sarajevo 1968

    Es war Samstag, der 8. Juni 1968, als die kleine Wohnung von Professor Švabo gestürmt wurde. Nein, es war bereits Sonntag, der 9., Mitternacht war vorbei. Zehn, fünfzehn Polizisten brachen herein, wuchtig, hungrig. Lustvoll. Atemlos. Die kleine Wohnung war im dreizehnten Stock, der Aufzug kaputt, die Männer müde, mürbe, unausgeschlafen, aber die Freude war riesengroß. Darauf hatten sie ja so lange warten müssen.

    Zwei Monate hatten sie nichts anders gemacht als gewartet, waren wie Hühner in einen Käfig gesperrt, nicht nur die Milizionäre aus Sarajevo und Mostar, auch die aus Zenica mussten aushelfen, die Reserve nicht mitzuzählen, und sie alle wurden in eine kleine Kaserne eingepfercht und in Hab Acht gehalten, einfach so, ohne irgendwas zu machen, zwei Monate, nur um zu warten. Bei der Hitze. In dieser Kasematte. Bei der Strenge. Disziplin. Dünner Tee zum Frühstück, Fleischkonserven für den Rest des Tages. Man begann sich zu hassen, zu schlagen, zu piksen, Rache wurde geschworen, Mütter verflucht, Pistolen gezückt. Als eines Tages dann endlich der Befehl kam – es gibt eine Wohnung auf dem Koševo, die gilt es zu stürmen – wollte jeder mitmachen, es war auch mehr als nur ein Befehl, es war die Erlösung.

    Die ganze Straße wurde gesperrt, Scharfschützen postiert, Schutzwesten

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