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Keine Zeit zum Schock
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eBook638 Seiten8 Stunden

Keine Zeit zum Schock

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Über dieses E-Book

Der authentische Roman dieser beiden Autoren über ihren turbulenten Lebensverlauf voller Dramatik und Abgründigkeit zeigt auf, dass sie und ihre Mitstreiter*innen dabei sozusagen "Keine Zeit zum Schock" hatten. Antje musste schon seit Geburt unter dem Verhalten ihrer Eltern sehr leiden und konnte später nur mit viel Mühe und Hilfe von Dieter ihren ungeliebten Justizdienst verlassen, in den ihr Vater sie gleich nach dem Abitur aus Versorgungsangst gepresst hatte. Dieters Freund Ruven Strelnikov begründete mit seinem Passiv-Energiehaus-Konzept die Firma PASKANIA, die besonders für Leute eine Existenz bot, die im Widerstand gegen das Atomkraftwerk Brokdorf aktiv waren – darunter auch eine Gruppe Punks. Ruven soll ein Nachfahre des im Film Doktor Schiwago gezeigten Strelnikov sein, der mit einer Lokomotive in die von der russischen Revolution eroberten Gebiete raste. Vermutlich auch politisch motiviert wurde PASKANIA durch die Steuerfahndung zerstört. Zu unrecht – der Insolvenzverwalter propagierte nämlich öffentlich eine Schadensersatzforderung gegen den Staat. Gleichwohl wurden Ruven und Dieter in einem Strafprozess durch die Justizmühle gedreht, wo Antje sich von einem Hochhaus stürzen wollte, weil sie als Zeugin gegen Dieter aussagen sollte. Ruven wurde mit einem Interpol Haftbefehl bei seinen Eltern nahe Moskau aufgesucht. Trotz vieler weiterer schlimmen Turbulenzen kreierten Antje und Dieter 2012 in der Bürgerinitiative "Altonaer Museum bleibt!" mit einer Gruppe den Anti-AKW-Film
"Unser gemeinsamer Widerstand!", der "überall" u.a. auch in Japan gezeigt wurde.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum18. Sept. 2019
ISBN9783749493968
Keine Zeit zum Schock
Autor

Antje Kröger-Voss

Antje Kröger-Voss wurde 1952 in Marne Kreis Dithmarschen geboren und verbrachte dort auch Ihre Kindheit und Jugendzeit, wo ihr Vater Studiendirektor am Marner Gymnasium war. Obwohl sie gern studiert hätte, presste Ihr Vater sie aus Versorgungsangst in den Justizdienst, wo sie dann als Rechtspflegerin bis zum Dienstgrad einer Justizoberinspektorin beim Amtsgericht Itzehoe tätig war. Als sie am 24. September 1986 bei einer Hausdurchsuchung bei ihrem Freund Dieter angetroffen wurde, kam es zum Bruch mit der Justiz. Dieter war wegen seiner Aktionen gegen das im Bau befindliche Atomkraftwerk Brokdorf für die Justiz ein rotes Tuch. Danach arbeitete Antje als Filmgestalterin für Produkte mit ökologischem Anspruch und kreierte 2012 mit Dieter in der Bürgerinitiative zur Rettung des Altonaer Museums in einer Gruppe den Anti-AKW-Film "Unser gemeinsamer Widerstand", der seither "überall" unter anderem auch in Japan gezeigt wurde. Am 25. August 2006 heirateten Antje und Dieter in dem schönen Altonaer Rathaus.

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    Buchvorschau

    Keine Zeit zum Schock - Antje Kröger-Voss

    Antje Kröger-Voss wurde 1952 in Marne Kreis Dithmarschen geboren und verbrachte dort auch Ihre Kindheit und Jugendzeit, wo ihr Vater Studiendirektor am Marner Gymnasium war. Obwohl sie gern studiert hätte, presste Ihr Vater sie aus Versorgungsangst in den Justizdienst, wo sie dann als Rechtspflegerin bis zum Dienstgrad einer Justizoberinspektorin beim Amtsgericht Itzehoe tätig war.

    Als sie am 24. September 1986 bei einer Hausdurchsuchung bei ihrem Freund Dieter angetroffen wurde, kam es zum Bruch mit der Justiz. Dieter war wegen seiner Aktionen gegen das im Bau befindliche Atomkraftwerk Brokdorf für die Justiz ein rotes Tuch.

    Danach arbeitete Antje als Filmgestalterin für Produkte mit ökologischem Anspruch und kreierte 2012 mit Dieter in der Bürgerinitiative zur Rettung des Altonaer Museums in einer Gruppe den Anti-AKW-Film »Unser gemeinsamer Widerstand«, der seither »überall« unter anderem auch in Japan gezeigt wurde.

    Am 25. August 2006 heirateten Antje und Dieter in dem schönen Altonaer Rathaus.

    Ferdinand Dieter Kröger wurde 1942 in Dinklage im Kreis Vechta geboren und verlebte seine Kindheit auf dem elterlichen Bauernhof in Schwege. Auf Betreiben der Mutter musste Dieter das dominikanische Klostergymnasium in Füchtel bei Vechta besuchen, wo er quasi wie einkaserniert war. Als Konsequenz floh Dieter als Jugendlicher aus dieser katholischen Enge und reiste als Seemann bis zum Dienstgrad eines Bootsmann-Unteroffiziers buchstäblich um die ganze Welt. Danach lernte er den Beruf eines Kaufmanns der Wohnungswirtschaft – aber er eignete sich dann die Fähigkeit als Solar-Konstrukteur an. Politisch kämpfte er von Anbeginn in der »BUU« gegen das geplante AKW-Brokorf und ist auch danach noch zusammen mit Antje außerparlamentarisch aktiv.

    Inhalt

    Kapitel

    Kampf der Kulturen

    Kapitel

    Zeit der Knospen

    Kapitel

    B 90 – vom Staat zum Widerstand

    Kapitel

    Die Firma

    Kapitel

    Keine Zeit zum Schock

    Kapitel

    Buntes Laub

    1. Kapitel

    Kampf der Kulturen

    Antje und Dieter machen jeden Morgen einen Spaziergang um den Lohmühlenteich in Hohenlockstedt bei Itzehoe. Schon seit Jahren hatten sie sich vorgenommen, über ihr Leben zu schreiben. Es war an einem sonnigen Augustmorgen 2004, als bei diesem Spaziergang erstmals konkret das Konzept zwischen den beiden besprochen wurde.

    Antje und Dieter sind überzeugt, dass es nicht irgendeine Lebensgeschichte ist, wie sie häufig erst am Ende eines Lebens von x-beliebigen Politikern oder sonstigen Prominenten zum Besten gegeben wird. Sie möchten ihre Geschichte so darzustellen versuchen, dass die Leser nicht nur einen Lebensaufsatz erfahren, sondern mit allen Sinnen und Gefühlen etwas Hochpersönliches für sich daraus ziehen können.

    Der Lohmühlenteich liegt direkt hinter dem Ortsschild von Hohenlockstedt. Es ist ein sehr schöner – nicht zu großer aber auch kein ganz kleiner See, um den Antje und Dieter jeden Morgen einen halbstündigen Spaziergang zur Einstimmung des Tages machten.

    Es wurde sehr schnell ein Ritual, morgens zum Bäcker in Hohenlockstedt zu fahren und dann, bevor es zum Frühstück mit dem Lesen einiger Zeitungen wie der Norddeutschen Rundschau und der Hamburger Morgenpost ging, diesen für sie so wichtig empfundenen Spaziergang – ja man kann schon fast sagen – zu zelebrieren.

    Hierzu gehörte auch, dass nicht nur eine/r beim Bäcker reinging und der oder die andere im Auto wartete, sondern sie gingen immer beide zusammen zum Bäcker hinein, um dann doch nur in Nuancen an Ort und Stelle jeweils gemeinsam zu entscheiden, ob sie neben dem Standardeinkauf von Brötchen und verschiedenen Zeitungen auch noch welches halbe Brot für den Abend mitnehmen oder auch schon ein Stück Kuchen für den Nachmittag ins Auge fassen, wobei Letzteres doch meistens aus Gesundheitsbewusstsein verworfen wurde.

    Der Bäcker in Hohenlockstedt ist sogar ein ganz herausragender. Jeden Morgen kamen die Kunden aus einem großen Umkreis herein geströmt und bildeten eine fest eingespielte Schlange, die von mehreren Verkäuferinnen zügig gebändigt wurde. Nicht selten standen fünf Verkäuferinnen hinter dem Tresen. In Itzehoe beim Bäcker war nie mehr als eine Verkäuferin zu sehen. Auffallend war allerdings auch, dass nicht ein einziger Verkäufer jemals dort gesichtet wurde. Die männliche Bäckerbrut war wohl nur in der schwülen Backstube zu Hause.

    Trotz der sicher anstrengenden und sich jeden Tag wiederholenden Schlangenbändigung waren alle Verkäuferinnen immer wieder aufs Neue von einer ausgesuchten Freundlichkeit, so als ob sie jeden Einzelnen das erste Mal im Leben bedienen durften und darüber begeistert schienen. Wenn dann die Schlange ihre Kraft vollständig verloren hatte, so hatten natürlich die Verkäuferinnen mal das Bedürfnis, ihre aufgestauten Eindrücke gegenseitig abzuladen.

    So war es der Verkäuferin mit dem sehr interessant nach hinten zusammengebundenen Haar und dem Aussehen einer Akademikerin ein Bedürfnis, sich über das Pärchen (Antje und Dieter) zu unterhalten, das als einziges unter den Kunden fast immer zu zweit den Laden betrat. Als dann gerade mal kein Kunde mehr im Laden war, meinte diese Verkäuferin zu ihren Kolleginnen:

    »Wie alt mögen die beiden sein?«

    Die Schwarzhaarige fragte zurück, obwohl sie wegen der Auffälligkeit des Paares im Innersten hätte wissen können, wer gemeint war:

    »Welche beiden?«

    »Na, das Pärchen, welches hier immer zusammen auftaucht.«

    »Ach, die beiden. Ja, die sind mir auch schon lange aufgefallen. Ich finde die ja sehr süß, wie er sie jeden Morgen aufs Neue fragt, ob sie ein oder zwei Brötchen möchte und wie sie beide dann gemeinsam, jeder das Portemonnaie herausholen und gleich an Ort und Stelle untereinander abrechnen.«

    Die »Akademikerin« beantwortete sich die Frage dann selbst:

    »Die sind vom Alter schwer einzuschätzen. Ihn könnte man auf fünfzig oder auch sechzig schätzen. Wenn er aber so fast schelmisch seine Bestellung vorträgt und dabei einen ziemlich spitzbübischen Humor versprüht, könnte man ihn für einen Halbstarken halten. Seine Frau sieht vom Gesicht her aus wie zwischen dreißig und vierzig. Das einzige sind die grauen Haare, wo ich annehme, dass sie auch schon älter sein muss.«

    Man fragt sich, ob die Verkäuferinnen wirklich nur die Äußerlichkeiten von Antje und Dieter wahrnahmen oder ob es nicht doch auch Antennen gibt, die mehr vermitteln.

    Antje und Dieter auf der Finnjet 1995

    Das freundliche Lächeln der Verkäuferinnen ist natürlich geschäftsmäßig bestimmt. Dennoch zeichnen sich bei fortdauerndem geschäftsmäßigem Freundlichsein im Laufe der Jahre auf den Gesichtern deutliche Unterschiede ab. Die Jüngeren zeigen zwischen privatem aus echtem Anlass aufkommendem Lächeln und der geschäftsmäßigen Freundlichkeit noch keine auffälligen Unterschiede, so dass man als Kunde sich wirklich freundlich bedient fühlt.

    Jedoch mit den Jahren wird ein ständig trainiertes Verkaufslächeln doch ein Gesicht mehr und mehr maskieren, so dass umgekehrt auch das private Lächeln schon maskiert wirkt.

    Antje hat als Kind und auch schon als Baby großen seelischen Kummer erleiden müssen und hat diese für ein Kind fast unerträgliche Pein wohl so zu überwinden versucht, dass sie ihre Eltern durch besonders auffälliges Lächeln »zum Liebsein überreden« wollte. Als Antje in jüngster Zeit öfter versuchte mit ihrer Mutter über die Hintergründe zu deren Verhalten zu sprechen, was sicher nicht frei von Vorwürfen gegenüber der Mutter ist, rechtfertigte sich die Mutter damit, dass Antje es doch als Kind gut gehabt haben müsse, weil sie immer so viel gelächelt habe.

    Wenn schon ein Kind Lächeln als eine Waffe einsetzt, dann ist Lächeln sicher nicht automatisch mit Glücklichsein gleichzusetzen, sondern bei Antje war es in der Kindheit das genaue Gegenteil.

    Da ein Kind aber keine Hintergedanken wie Erwachsene produziert, hat diese Waffe des Lächelns nichts mit Falschheit zu tun. Es ist dann ein nackter pragmatischer Überlebensinstinkt.

    Dieser Instinkt ist eine Lebensnotwendigkeit. Die Hintergründe und Einzelheiten dieser Kindheit werden im Kapitel 2 dieses Buches mit der Überschrift »Zeit der Knospen« beschrieben.

    Sicher gab es auch Tage, wo ausnahmsweise nur Antje oder Dieter zum Bäcker fuhren. Als eines Morgens das erste Mal Dieter allein erschien, fragte die Verkäuferin mit dem Vornamen Steffi ganz kess:

    »Wo ist denn heute Morgen Ihre Frau geblieben? Hatte sie keine Lust mehr, hinter Ihnen herzulaufen?«

    Dieter: »Die ist heute nicht aus dem Bett gekommen.«

    Hinterher dachte Dieter über die Kessheit der Verkäuferin nach und ihm wurde bewusst, dass die Verkäuferinnen untereinander sich schon vertraulich über Antje und ihn unterhalten haben mussten.

    Als er tags darauf wieder mit Antje zusammen in die Bäckerei kam und dieselbe Verkäuferin bediente, merkte man eine auffällige Zurückhaltung. Eigentlich hätte sie ja jetzt auch rufen können: »Da seid ihr beiden ja wieder.« – oder so ähnlich.

    Die Veränderung rührte daher, dass diese Verkäuferin wegen ihrer Kessheit tags zuvor zurechtgewiesen worden war, was dort in der internen Hackordnung wohl als notwendig fürs Geschäft betrachtet worden sein muss.

    Nachdem die Chefin die kesse Frage gehört hatte, bat sie Steffi nach hinten in das kleine Büro. Jeder wusste, dass dort einem meistens nichts Gutes mitgeteilt wurde und es auch der Ort war, wo man seine Kündigung erfuhr. Die Chefin sagte mit einem besorgten Unterton zu Steffi:

    »Da haben Sie wohl etwas über die Stränge geschlagen. Ihnen ist doch wohl hoffentlich klar, dass Sie die Kunden nicht so brüskieren können. Wir sind hier in einem Geschäft und nicht in einer Disco.«

    Steffi antwortete zunächst noch etwas selbstbewusst:

    »Ich habe doch nur etwas Unterhaltung betrieben, was uns doch auch auf der Verkäuferinnen-Schulung bei der Bäckerinnung gelehrt w …«

    Die Chefin fiel ihr sofort ins Wort und ihre Tonlage war auch schon lauter und schärfer:

    »Auf der Schule wurde bestimmt nicht empfohlen, Kunden mit solchen Fragen zu beleidigen.«

    Die Chefin hielt dann einen langen Monolog über ihre Ansicht, wieso nun Steffis Frage an Dieter so verwerflich war. Wie sie sich da hinein steigerte, hatte Steffi es schon längst aufgegeben, es überhaupt noch zu wagen, ihrer Chefin gegenüber mit einem vernünftigen Argument zu kommen. Im entgegen gesetzten Verhältnis aber argumentierte ihr Bewusstsein dagegen und fand jedes Wort der Chefin als Unsinn.

    Hinter der freundlich erzwungenen Fassade des Einheitsverkäuferinnen-Lächelns war hier ein Moment, wo es nicht um Logik oder bessere Argumente ging, sondern nur ums nackte Funktionieren. Das Funktionieren als freundlich tuende Verkäuferin hätte Steffi ja noch akzeptiert, aber diese Ohnmacht gegenüber einer willkürlichen Hackordnung, wobei sie sich einer nach ihrem Empfinden völlig bescheuerten Meinung einer solchen Chefin unterwerfen musste, machte sie fast krank.

    Es fiel ihr schwer, den Tag in dem Geschäft zu überstehen. Als endlich Feierabend war und sie in Itzehoe in ihrer kleinen Anderthalb-Zimmer-Wohnung die Tür hinter sich ins Schloss fallen lassen konnte, war sie in diesem Moment mehr als erfreut, dass ihr Freund Sven dort auf dem Teppich saß und sich Heavy-Metal-Musik anhörte. Die tiefen Bässe erfassten die gesamte Wohnung. Um Svens Aufmerksamkeit zu beanspruchen, sagte sie mit besorgter Miene:

    »Ich hab heute von meiner Chefin einen ziemlich üblen Einlauf bekommen.«

    Dann erzählte sie ihm die ganze Geschichte, die Sven mit den Worten kommentierte:

    »Die Alte tickt wohl nicht richtig.«

    Was beide nicht wussten: Der Kunde, nämlich Dieter, der im indirekten Zusammenhang mit diesem Ärger stand, war kein anderer als derjenige aus der Firma PASKANIA, für die Sven früher in einer Zulieferfirma gearbeitet hatte.

    Noch heute schwärmt Sven von diesem Umstand, weil er als eingefleischter Punk noch Jahre danach sein Arbeitslosengeld und später seine Arbeitslosenhilfe auf der Basis des damaligen Einkommens all die Jahre berechnet bekommen hat.

    In irgendeinem normalen Betrieb hatte er keine Chance, angenommen zu werden.

    Wenn Dieter in Itzehoe durch die Innenstadt ging und dort im Zentrum am Markus-Platz die Punks mit ihren Hunden an der Erde hockten und aus einem Transistor-Radio die von ihnen als wunderschön empfundene schreckliche blechern klingende Musik hörten, die nur noch als unangenehmer Krach von dem Rest der vorbei eilenden Bürger empfunden wurde, so wurde Dieter jedes Mal mit großer Geste und Handschlag von Sven begrüßt.

    Bei einer der Begegnungen mit Sven hatte dieser davon geschwärmt, dass er sich jetzt selbständig machen wollte. Auf seinem Gesicht machte sich ein wissendes Lächeln breit. Darüber standen seine schwarz gefärbten Haare zu Berge. Bevor er weiter ausholte, richtete er sich mit seinem ganzen Körper auf. Die zum Teil zerfetzte Lederjacke und mit bewusst von Löchern durchsetzte schwarze Jeanshose, die nicht so recht in die schäbigen Stiefel münden wollte, kamen jetzt in all ihrer bizarren Pracht zur Geltung. Er sagte dann:

    »Ich mache jetzt auf Mode und entwerfe Lederkleidung.«

    Dieter fragte locker zurück:

    »Entwirfst Du denn auch Leder-Peitschen?«

    In der Folge »fachsimpelten« dann beide über die Möglichkeit für Antje eine Lederkorsage zu kreieren, was Antje amüsiert quittierte.

    Sven wohnte zu der Zeit bei Steffi. Die Arbeitslosenhilfe war schon lange ausgelaufen. Er ist irgendwann durch den Rost der Flut von Behördenbriefen und Formularen gefallen, die er nicht mehr abwehren konnte. Als Steffi ihm ihr Tagesleid erklärte, kam all der Hass in ihm hoch, wo er auf seinen vielen Wegen durch die Ämter und auf der Suche nach Arbeit immer stärker nur noch das Gefühl hatte, dass es dort ein ganzes Spalier von Sadisten geben müsste, die danach trachteten, Individuen wie ihn zu demütigen.

    Die neueste Attacke aus der für ihn großen Welt der Bürokraten war für Sven besonders perfide. Das Kaufhaus am Markusplatz, welches überdominant den riesigen Quadratblock des Holstein-Centers, das so genannte Itzehoer Einkaufszentrum, beherrschte, setzte zur Vertreibung der Punks Musik ein. Unmittelbar über den Schaufenstern waren Lautsprecher angebracht, die natürlich nicht irgendeine Musik spielten und schon gar nicht eine solche Musik, die den Punks gefallen könnte, so dass sie sich die Batterien in ihren Transistor-Radios hätten sparen können – nein, das Kaufhaus war fest davon überzeugt, dass man zur Vertreibung von Punks von morgens bis abends klassische Musik abdudeln musste. Man würde aber den Initiatoren in Itzehoe zu viel Kreativität unterstellen, wenn man glaubt, dass sie sich das selbst ausgedacht hätten, obwohl sie diese Errungenschaft in der Norddeutschen Rundschau so vorgestellt haben, als wäre die Idee auf ihrem Mist gewachsen. Die Idee stammte vom Hamburger Hauptbahnhof. Dort wurde ebenfalls klassische Musik zur Vertreibung von ganz bestimmten »Randgruppen« eingesetzt.

    Die vom Kaufhaus beschallten Schaufenster, wo auch ein beliebter Aufenthaltsort für die Punks gegeben war, lagen eigentlich völlig abseits in einer Nebenstraße, wo man so gut wie niemals jemanden gesehen hat, der diese Schaufenster beguckte. Ursprünglich haben die Punks sich mitten auf dem Markus-Platz aufgehalten. Da der Markus-Platz im Zentrum von Itzehoe öffentlich war, bestand keine Handhabe, den Punks zu verbieten, sich dort auf den öffentlichen Bänken genüsslich nieder zu lassen. Die Stadtväter – vielleicht auch einige Mütter – stimmten daraufhin dem großzügigen Vorschlag des Kaufhauses zu, sich dafür zu erbarmen, den Markus-Platz von der Stadt zu pachten, um dort einen öffentlichen Imbiss zu betreiben. Somit hatte dieser Privatbetreiber ein privates Hausrecht und konnte jederzeit die Polizei einschalten, um den Punks dort das Hinsetzen oder auch nur Stehen zu verbieten. Dieter meinte, dass die Punks nicht zuletzt schon von alleine dadurch vom Markus-Platz sich angeekelt fühlten, weil dieser Pächter dort einen Pavillon genehmigt bekommen hatte, der so gnadenlos unästhetisch aussah, dass er sich niemals überwinden könnte, dort einen Imbiss zu sich zu nehmen.

    Der Pavillon war nichts anderes als ein rechteckiger schmuckloser Container, über den dann frei schwebend der architektonische Fehlversuch eines gewundenen Plexiglasdaches ohne optischen Zusammenhang in die Luft gestülpt worden war.

    Die Punks dachten zunächst beim Ertönen der klassischen Musik:

    »Kein Problem, wir machen einfach unser Radio entsprechend lauter.«

    Aber nix da, Fehlanzeige! Aus den Lautsprechern ertönte analog zur Lautstärke der Punk-Musik auch die Klassik lauter, die für Punk-Ohren unerträglich werden sollte. Die blonde Punkerin, die ihre Haare mit Henna auf Naturbasis rot gefärbt hatte und eher einem Karottenkopf ähnelte, versuchte ihre immer unruhiger werdende weiße Ratte zu beruhigen. Die Ratte schaute ganz fürwitzig aus dem weiten Ärmel der Punkerin mit dem Kopf heraus. Karotte, wie die Punker sie nannten, fragte entgeistert in die Runde:

    »Mich würde ehrlich mal interessieren, ob da jetzt so ein Sadist sitzt, der die Musik von Hand lauter macht oder ob die das durch einen Sensor automatisch eingestellt haben.«

    Ein anderer Punk antwortete:

    »Die Automatik ist ja wohl eine noch größere Schweinerei.«

    Die Musikbeschallung war lediglich eine Ergänzung der hässlichen Architektur durch den Imbisscontainer inmitten eines sonst schönen Platzes. Die Ahornbäume waren eingekesselt durch Sichtschutzwände aus blankem Edelstahl. Der Edelstahl sollte eventuell befürchtete unedle Graffiti leichter entfernbar machen.

    Über Wochen wurden nächtens die Einkaufszone zum Holstein-Center und der sehr teure rund geformte Glaseingang zum Holstein-Center regelmäßig beschädigt. Die Schaufensterscheiben hatten Risse. Der Austausch der rechteckigen Scheiben erfolgte jeweils zügig. Jedoch mit dem rund geformten Glas dauerte es immer eine Weile, so dass sich hier die schöne Form im Gegensatz zu der sonst kantigen Philosophie des Kaufhauses als Hindernis erwies und die vielen Menschen über die Risse ins Grübeln geraten mussten.

    Über der Stadt Itzehoe liegt ein Fluch, der weit über die Stadt hinaus als negatives Signal wirkt. Durch die Stadt Itzehoe floss einst der Fluss Stör. Der Fluss umrahmte mit einer einzigartigen großen ovalen Schleife einen in Jahrhunderten gewachsenen Stadtkern.

    Die Stadtväter beschlossen, einfach die Störschleife zu zuschütten und Straßen darüber zu bauen. Diese Tat ist ein so verheerender Eingriff, dass er sich zu einem Fluch über die Stadt gelegt hat. Als Dieter den für die Firma PASKANIA tätigen Architekten Lutz Zulauf aus Berlin beim ersten Treffen in der Kaiserstr. 14 a in Itzehoe fragte (wo sowohl Antje und Dieter wohnten als auch für PASKANIA arbeiteten), ob er die Stadt Itzehoe kenne, sagte dieser: » Itzehoe ist mir sehr wohl durch mein Studium bekannt. An den Fachhochschulen für Architektur in Deutschland wird die Stadt Itzehoe als abschreckendes Beispiel für städtebauliche Verschandelung abqualifiziert.«

    Wie schwer die Itzehoer sich mit dieser Untat plagen, kommt selbst in Büchern zum Ausdruck, die üblicherweise heimatlich und wohl gesonnen die eigene Stadt zu verherrlichen trachten.

    Dort steht klagend geschrieben:

    »Das Zuschütten der Störschleife Anfang der siebziger Jahre ist der drastischste Eingriff in das alte Itzehoe.«

    »Die Stadt verliert mit dem Zuschütten der Stör im Zentrum ihre Identität.«

    »Der Verlust an Identität für die Stadt ist heute weitaus größer als erwartet.«

    Als Beispiel: Die Straße mit der Bezeichnung Brookhafen war früher tatsächlich ein Teil der Störschleife mit dem Namen Brookhafen und seinen historischen Schiffen.

    In jedem Lexikon war bzw. ist z.T. noch bei der Darstellung der Stadt Itzehoe auch die um die Stadt fließende historische Störschleife abgebildet.

    Itzehoer Hafen vor Zuschüttung der Störschleife –

    aus dem Bestand des Kreis- und Stadtarchivs Itzehoe

    Es genügt, nur den Begriff »Störschleife« oder »Bilder zur Störschleife« im Web einzugeben, um die Imposanz dieses Flusses um Itzehoe bewundern zu können und gleichzeitig einen Eindruck von ihrer Zuschüttung als Freveltat zu bekommen.

    Die Stadt Schilda mit ihren berühmten Schildbürgern, die keine Fenster ins Rathaus einbauten und dann begannen Licht in Säcken einzufangen, um es ins Rathaus zu tragen, könnte durchaus als geeignete Partnerstadt von Itzehoe dienen.

    Die Gründe für das Zuschütten der Störschleife sind nur schwer zu erklären. Ein Grund war, dass bei Ebbe Ratten im Störschlick gesichtet wurden.

    Somit konnte der Kaufhausklotz Holstein-Center verständlicherweise weiterhin die süße Ratte bei der Punkerin für ihr Werbeverständnis nur als störend ansehen. Jedenfalls mussten diesem Klotz viele kleine Fachwerkhäuschen mitten in einer historischen Anlage weichen, was angesichts der Verwüstung der Störschleife in Relation kaum noch beweint werden braucht.

    Den Grad an hemmungslosem Werbe-Mut konnte man am Ortseingang von Itzehoe an dem Slogan nachlesen:

    »Itzehoe – Einkaufen erleben«.

    Die Störschleife wäre eine wirklich ausbaufähige touristische Attraktion gewesen. Durch ihr Fehlen lässt sich ebenso wenig Erlebnis nach Itzehoe – wie Licht in das Rathaus von Schilda tragen.

    Eine Erklärung für diese Tat kann möglicherweise sein, dass die Stadtväter zu der Zeit noch den Geist des soeben zu Ende gegangenen tausendjährigen Reiches, welches aber nur 12 Jahre währte, in sich trugen.

    Der Fluch kann nur von der Stadt Itzehoe wieder weichen, wenn eines Tages die Störschleife 1 zu 1 wieder aufgebaggert und hergerichtet worden ist. Es genügen hier keine halbherzigen Teilstücke oder Rinnen, wie sie heute nur symbolhaft angedeutet werden, sondern nur eine vollständige Wiederherstellung der gesamten früher um die Innenstadt verlaufenden Störschleife kann diesen elementaren Identitätsverlust heilen und wenn es noch hunderte von Jahren dauern sollte.

    Da war der Anti-Punk-Pavillon auf dem kleinen Markus-Platz vor dem Holstein-Center in Itzehoe nur die Spitze des Eisberges einer historisch einmaligen Anti-Architektur.

    Die aus der gleichen Motiv-Quelle inszenierte Klassik-Musik zur Vertreibung der Punks setzte dem Ganzen die Krone auf.

    Karotte überfiel beim Gedanken an die Bedeutung dieser Musikinszenierung Fassungslosigkeit und während sie ihre geliebte Ratte ununterbrochen streichelte, versuchte sie eigentlich nur sich selbst damit zu beruhigen.

    Sie schritt dabei zunächst nervös hin und her und schließlich lehnte sie spontan ihren Kopf Trost suchend an die breite Brust von Sven, der dabei kerzengerade mit großen Augen in die Weite schaute, so als ob er durch die Wand der Zeit nach einer Antwort suchte.

    Der Punker Sven stand nicht einfach nur da. Er bündelte die in ihm und in den anderen Punks aufwühlenden Gefühle, die Karotte ihm stellvertretend für alle konkret schwer auf seine Brust legte.

    Es sind Lebensgesetze, die diese natürliche Autorität von Sven für die Punk-Gruppe begründen. Die Gefühle in ihm in diesem Moment könnten eine Spannweite umfassen vom längst aus dem Fluss Stör verbannten Fisch mit dem gleichen Namen Stör – von Anbeginn dieser Tierart, die respektable 250 Millionen Jahre, also weit in die Zeit der Dinosaurier, zurückreicht, bis hin zu der Besonderheit, dass dieser Fisch hundertfünfzig Jahre alt werden kann, obwohl er schon nach wenigen Jahren geschlechtsreif ist.

    Die hastig vorbei laufenden mit Alltagssorgen ausgestatteten Passanten werden wohl kaum etwas von diesem Augenblick in sich aufgenommen haben, der die Gruppe Punks bei dieser Musikpremiere in ihren Gefühlen als archaischer Hauch umwehte.

    in der sekunde weltgefühl

    ersetzt

    alles niedergeschriebene

    seit immer

    Während die Punks in Sprachlosigkeit fast andächtig verharrten aber dennoch ein großes wichtiges Gefühl erlebten, diskutierte hinter der Fassade, aus der die Klassik-Musik erschallte, der Radiotechniker Fritz Burghoff mit dem Kaufhaus-Angestellten Hans Möller.

    Fritz Burghoff, bei dessen Firma Antje und Dieter mit ihren Filmarbeiten für die Firma PASKANIA Stammkunde waren, machte sich persönlich viele Gedanken über den Sinn und Unsinn der Geschehnisse um ihn herum.

    Er las täglich die Berliner Tageszeitung, die abgekürzt sich nur TAZ nennt und von ihrem Selbstverständnis her links orientiert ist. Der Kaufhaus-Mitarbeiter hingegen blätterte beim Frühstück meistens nur die Bildzeitung durch.

    Natürlich wussten beide, zu welchem Zweck diese Klassik-Installation erfolgte und so kam es, dass sie ihre Gedanken nicht für sich behalten konnten und einfach einem inneren Zwang folgend anfangen mussten, sich darüber zu unterhalten.

    Hans Möller fragte: »Ob unser Kaufhaus es wohl schafft, die Punks dadurch zu vertreiben?«

    Fritz Burghoff fühlte sich so angesprochen, als ob er durch seine Installation den Erfolg dieser Kaufhausabsicht gewährleisten sollte und antwortete:

    »Dafür kann ich keine Garantie übernehmen.« Seine Antwort war für ihn selbst unbefriedigend und der ihm als unpassend anmutenden Maßnahme nicht gerecht werdend. Deshalb holte er zu einem größeren Gedankenzusammenhang aus:

    »Insgesamt finde ich persönlich diese Maßnahme sehr seltsam. Hier findet ein Kampf der Kulturen statt. Nein, es ist kein Kampf der Kulturen, sondern sogar eine ganz einseitige Bekämpfung einer Kultur.«

    Hans Möller: »Das ist ja wohl ein bisschen dick aufgetragen. Sie wollen ja wohl nicht behaupten, dass Punksein eine Kultur ist und Sie reden gerade so, als ob man den Punks damit Gewalt antun würde. Ich finde die Maßnahme eine witzige Idee. Das kann man durchaus als einen sanften Weg betrachten. Außerdem wollen die Punks mit ihrer komischen Musik ja auch die Leute vertreiben und zwar unsere Kunden, von denen das Kaufhaus lebt und mir mein Gehalt bezahlt und auch Sie beauftragen kann, wodurch Sie letztlich auch Ihr Geld bekommen.«

    Fritz Burghoff: »Die Punks wollen mit ihrer Musik keine Leute vertreiben, sondern sie demonstrieren mit ihrem Äußeren und mit ihrer Musik lediglich einen Ausdruck ihres Lebensgefühls.

    Selbstverständlich pflegen die Punks eine Kultur. Es ist wohl etwas arrogant, denen keine Kultur zusprechen zu wollen. Hingegen wird hier ganz offiziell unumwunden öffentlich sogar in der Zeitung erklärt, dass man speziell mit klassischer Musik die Punks vertreiben will. Da muss man sich schon Gedanken machen, wie es angehen kann, dass man speziell klassische Musik als Waffe einsetzt und mit dem Arbeitsplatzargument lässt sich alles begründen.

    Hans Möller: »Nun überziehen Sie wohl etwas. Unsere Politiker heute versuchen doch mit Engelsgeduld Wege zu finden, um dieses Problem von Randgruppen, die sich hier auf dem Markus-Platz und im Prinzeßhof herum lümmeln, zu lösen. Erst kürzlich stand ein ausführlicher Bericht in der Norddeutschen Rundschau unter der Überschrift: »Gespräche statt Holzhammer«.

    Fußgängerzonen, Bahnhöfe und Parks sind Treffpunkte solcher Gruppen. Je stärker sich die Innenstädte zu Konsummeilen entwickeln, um so mehr stören Punks, Alkohol-Abhängige, Obdachlose und Kiffer. Die Städte im Norden wollen dem mit einem neuen Konzept begegnen. In der Zeitung stand, dass allein in Lübeck an den bekannten Treffpunkten 263 Platzverweise erteilt wurden. Der Lübecker Polizeisprecher Bernd Olbricht sagte, dass nach wenigen Tagen sich die Gruppen auflösten und sich an den Rand der Altstadtinsel verlagerten. Es würden auch intensive Gespräche geführt. Dafür werden extra Streetworker eingesetzt unter dem Motto »Nicht vertreiben, sondern verändern«, so hat es der Sozialamtsleiter Gerwin Stöcken aus Kiel erklärt.«

    Fritz Burghoff: »Das ist ja alles schön und gut. Tatsache bleibt, dass die Politik vorgibt, sich um die Randgruppen kümmern zu wollen. Zum Beispiel gerade heute wird berichtet, wie zwei Jugendliche einen Behinderten schwer misshandelt haben und ein Sprecher der Behinderten erklärte das so, dass die Jugendlichen mit ihrer Tat ein Gefühl der Stärke gegenüber Randgruppen damit auskosten wollten, um für ihr eigenes Selbstwertgefühl auf den Schwächeren herabsehen zu können und diesen auch noch durch die Misshandlung das spüren lassen wollen.«

    Hans Möller: »Was hat das denn nun mit den Punks und der Klassik-Musik zu tun? Welche Lösung haben Sie denn für das Problem?«

    Fritz Burghoff: »Es besteht eine ganz offene doppelte Moral. Während man die Jugendlichen verurteilt, die Randgruppen wegen ihres kranken Selbstwertgefühls verfolgen, produziert man von offizieller Seite ungeniert Randgruppen und feiert es als Erfolg, wenn man sie auch tatsächlich an den Rand der Innenstädte verbannt.

    Hans Möller wurde inzwischen richtig wütend und seine Stimme wurde recht laut. Ja er schrie nun fast: »Deutschland hat nach dem zweiten Weltkrieg einen demokratischen Rechtsstaat geschaffen und ist international anerkannt. Jeder kann hier sein Recht einklagen, wenn er meint, dass ihm Unrecht passiert. Ein Punker hat das ja in Elmshorn mit Erfolg gemacht, weil man den Punks dort das öffentliche Trinken verbieten wollte. Anschließend hat er sich sogar als Bürgermeister-Kandidat aufstellen lassen. Sie scheinen offensichtlich in einer anderen Welt zu leben.«

    Fritz Burkhoff kannte solche Argumente und wunderte sich darüber nicht besonders, indem er weiter mit fast leisem Ton antwortete: »Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) unter der Führung von Herrn Hitler ist auf völlig demokratischem Wege an die Macht gekommen. Wenn heute die Leute so tun, als ob Hitler das Übel war, so verdrängt man nur damit, dass die Geisteshaltung schon lange vorher bei den Leuten gepflegt wurde und Hitler nur noch das umzusetzen brauchte. Dort hätten Punks mit Sicherheit keine Chance gehabt und ihre Musik wäre als entartete Kunst verfolgt worden, so wie es zu der Zeit mit anderen Musikrichtungen auch konkret gemacht wurde.«

    Hans Möller nun noch erregter: »Da haben Sie ja den Beweis selbst gebracht. Hier können die Punks leben. Nur das Kaufhaus und die anderen Geschäfte in der Innenstadt müssen nicht dulden, dass sie ausgerechnet vor den Läden sich treffen.«

    Fritz Burghoff: »Der Beweis liegt in der grundsätzlichen Verfolgung. Ob es nun offen und total wie bei den Nationalsozialisten passiert oder in der heute verfeinerten Form ist zwar ein erheblicher gradueller Unterschied aber letztlich entspringt sie einer bestimmten gleichen bzw. zumindest ähnlichen Geisteshaltung.«

    Hans Möller: »Wieso sprechen Sie die Nazis so ehrfurchtsvoll mit Nationalsozialisten und dem ganzen Parteinamen aus und sagen auch noch »Herr« Hitler? Möglicherweise bewundern Sie die Nazis irgendwie und was klassische Musik für eine Freveltat sein soll, haben Sie bis jetzt durch nichts erklärt, außer dass Sie polemisch ausschweifen.«

    Fritz Burghoff: »Polemisch sind Sie jetzt geworden. Mit der Abkürzung Nazi ist es für die Leute einfacher, sich nicht wirklich damit auseinanderzusetzen und einmal zu sehen, wie Geisteshaltungen unabhängig von einem vorübergehenden Regime sich bei den Leuten festsetzten und fortsetzten. Die sogenannten Nazis würden heute auch nicht verjagt werden, wenn sie das erste Mal unter der Bezeichnung National Sozialistische Deutsche Arbeiter Partei auftreten würden. Es waren schlicht Nationalisten. In dem Wort steckt kein »Z«. Das »Z« ist in dem Wort Sozialisten. Die Sozialisten hat man mit dem Kürzel »Sozis« beschimpft und zwar nahtlos vor, während und nach dem Dritten Reich. In Anlehnung daran konnten viele hinter dem Schimpfwort Nazi ihre wahre Gesinnung gut verstecken. Alle, die noch kurz vorher Herrn Hitler zugejubelt hatten, ließen sich jetzt entnazifizieren und verdrängten mit dem Begriff Nazi ihren eigenen Anteil an dem großen Verbrechen. Da sie ja mehr gegen Sozis als gegen Nationalisten hatten, half ihnen das »Z« in dem Kürzel am meisten, um sich tatsächlich nicht wirklich zu verändern. Stattdessen stürzten sie sich in Arbeit und den Wiederaufbau Deutschlands. Das, was sich hier aktuell mit den Punks und dem Drumherum in Itzehoe abspielt, ist ohne diesen Zusammenhang für mich nicht erklärbar.«

    Fritz Burghoff machte eine kleine Pause und richtete seinen Blick nach oben durchs Fenster und sagte dann: »Die Nationalsozialisten liebten klassische Musik. Für sie war Beethovens Werk ein Manifest für ihre Botschaft. Noch unmittelbar vor dem totalen Zusammenbruch des Dritten Reiches wurde am 20. April 1945 vom staatlichen Radiosender Hitlers Geburtstag mit der 7. Sinfonie von Beethoven und wenig später wurde sein Tod von dem gleichen Sender mit der 9. Sinfonie von Beethoven feierlich verkündet. Zu Lebzeiten war Hitler ein Freund der Familie Wagner und ständiger Gast bei den Wagner-Opern in Bayreuth.«

    Hans Möller: »Ich bin sprachlos, wie weit Sie hier ausholen und was Sie da alles hineindichten. Sie vergessen wohl ganz, dass es nach dem Krieg auch wieder eine Sozial Demokratische Partei gibt, die SPD, und dass klassische Musik nicht nur von den Nazis – ihren »geliebten« Nationalisten -, sondern in aller Welt und überall gespielt wurde und auch vorher und heute. Das sind für Sie dann wohl alles Verbrecher.«

    Fritz Burghoff: »Es war sogar so, dass Beethovens 9. Sinfonie während des 2. Weltkrieges international die am meisten gespielte Sinfonie war und auch von jüdischen Dirigenten im Ausland gespielt wurde. Man glaubte dadurch, nicht den deutschen Nationalisten die Hoheit über diese Sinfonie zu überlassen. Die NASA hat sogar die 5. Sinfonie von Beethoven als das Musikstück der »Erdlinge« auf einer Platte eingestanzt ins Weltall geschossen, damit mögliche fremde Intelligenzen sie finden können und selbst die UNO wollte die 9. Sinfonie von Beethoven zur Welthymne machen. Daneben hat der afrikanische Staat Rhodesien seinerzeit die 9. als Nationalhymne für sein rassistisches Regime benutzt. Inzwischen ist diese 9. Sinfonie die Hymne der Europäischen Union.«

    Hans Möller: » Wau ---, Sie sind ja gut informiert. Sie könnten in der Rate-Sendung von Günter Jauch auftreten und sich dort einen hohen Gewinn erraten. Dann bräuchten Sie hier nicht Musik zur Vertreibung ihrer Schützlinge, den süßen Punks, gegen Ihre eigene Überzeugung installieren. Was Sie sagen, beweist doch, dass die klassische Musik nichts dafür kann, wer sie gerade nutzt. Sie könnten dann ja auch sagen, dass die Deutsche Sprache für immer verbrannt ist, nur weil die Nazis Deutsch gesprochen haben.«

    Fritz Burghoff: »Die Deutsche Sprache hat durch das Dritte Reich mit Sicherheit einen dauerhaften Knacks bekommen. Die Menschen in Deutschland tun sich seitdem schwer mit allem Deutschen. Wenn die Prophezeiung eines tausendjährigen Reiches noch irgendeine Deutung zulässt, dann vermutlich, dass wir mit diesen zwölf Jahren, wo die Nationalsozialisten in Deutschland gewütet haben, möglicherweise noch in tausend Jahren daran nicht nur erinnert werden, sondern auch vieles daran gemessen wird. Schon wenige Jahre nach dem Krieg forderten die Täter, dass man doch nun endlich einen Schwamm über das Ganze ziehen sollte. Je länger es her ist, wird sogar umso mehr diese in der Menschheit bis dahin einmalige Staatsführung immer intensiver diskutiert. Und das wird sich sogar steigern. Kein Schrei reicht aus, um den Schmerz dieser unsäglichen Taten auszudrücken.«

    Hans Möller: »Dann wird es auch wohl keine Musik geben, die diese Gefühle wiedergeben könnte. Deshalb muss doch auch wohl jede Musik frei von Schubladendenken bleiben. Neulich hat doch der Komponist Stockhausen begeistert über die Anschläge vom 11. September 2001 gerufen: »Der Angriff war ein Kunstwerk.« Er hat den Anschlag in das World-Trade-Center von New York mit seiner Musik verglichen und gemeint, dass seine Musik ein Pups dagegen sei und dass dieser Anschlag das größte Kunstwerk wäre, was es je gegeben habe.

    (Originaltext aus Hamburger Morgenpost vom Mittwoch, 19. September 2001:

    Komponist Stockhausen begeistert: »Der Angriff war ein

    Kunstwerk.«

    »Was da geschehen, – jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen – ist das größte Kunstwerk, das es je gegeben hat. Dass Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nicht träumen könnten, dass Leute zehn Jahre üben wie verrückt, total fanatisch für ein Konzert und dann sterben. Das ist das größte Kunstwerk, das es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos. Das könnte ich nicht. Dagegen sind wir gar nichts, als Komponisten.«)

    Fritz Burghoff: »Die Piloten vom 11. September 2001 haben in Hamburg-Harburg gewohnt und sind dort unauffällig zur Uni gegangen und haben tatsächlich über Jahre diesen Anschlag, mit Flugzeugen in die Hochhauszwillingstürme in New York zu fliegen, vorbereitet und am Ende eben auch umgesetzt. Dass ein bis dahin anerkannter und geschätzter Komponist sich über diese Tat so äußert, erhärtet ja geradezu den Verdacht, dass mit der Musik und auch jeder anderen Kunst Gefühle ausgedrückt werden, die man in Worte nicht fassen kann bzw. nicht fassen sollte. Wenn man in einem schwachen Moment ungehemmt diese Gefühle über Worte raus fließen lässt, dann lüftet es ein wenig den Vorhang dessen, was die Töne nicht offiziell sagen.«

    Hans Möller: »Jedenfalls wurden dem Komponisten Stockhausen anschließend alle Konzerte in der Musikhalle Hamburg abgesagt und es herrschte grenzenlose Empörung unter den Offiziellen. Sie geißelten mit Recht Stockhausens Ausspruch als Wahnsinn eines Musikgenies. Die Hamburger Morgenpost schrieb am 19. September 2001 über ihn: »Gehört in psychiatrische Klinik gesperrt.«

    Fritz Burghoff: »Ich habe jetzt das Empfinden, dass wir beide auf einer Wellenlänge die gleichen Ansichten vereinen.«

    Hans Möller: »So, meinen Sie?«

    Fritz Burghoff: »Ja, das Gefühl bekomme ich, besonders bei der Betrachtung des Komponisten Stockhausen. Wir beide wissen natürlich nicht, wie man die Kunstwerke in Worte übersetzen müsste. Das ist mir hier auch im Einzelnen nicht so wichtig. Nur diese Diskussion mit Ihnen hat mich erst recht darin bestärkt, dass jede Art von Kunst nicht auf Vernissagen oder bei Kunstkritikern die wahre Übersetzung in Sprache erfährt, die der Gefühlswelt des geschaffenen Kunstwerkes entspricht. Selbst wenn den Künstlern das nicht bewusst ist, ist darüber hinaus ja noch mal ein weiterer Aspekt, welche Gefühlswelten bei den Zuhörern oder Betrachtern der Kunst entstehen bzw. latent vorhanden sind. Diese Musik hier unten gegen die Punks ist eindeutig ein Beweis dafür, dass mit Musikkunst ein bestimmter Zweck verfolgt wird – zudem mit klassischer Musik ein ganz niederträchtiger Zweck.«

    Fritz Burghoff stand einen Moment regungslos da. Er schien angestrengt nachzudenken. Plötzlich zog er die Verbindungskabel aus der Anlage und steckte sie seelenruhig ein. Die Musik draußen brach zur Überraschung der Punker abrupt ab. Hans Möller wollte eine Erklärung von Fritz Burghof. Dieser ging einfach mit dem Verbindungskabel weg und murmelte nur noch, dass es kaputt sei. Durch die Diskussion, die beide geführt hatten, war auch bei Hans Möller ein Gefühl von Intimität und Respekt zu Fritz Burghoff entstanden, so dass er nicht mehr imstande war bzw. imstande sein wollte, diesen Vorgang mit dem Verbindungskabel zu vertiefen. Eine winzige Tat nach einer längeren Diskussion beendete den Beschallungsterror an diesem Tag. Aber noch viel wichtiger war, dass Fritz Burghoff sich im Inneren wohl fühlte und etwas für sein Selbstwertgefühl und damit auch für seine Gesundheit getan hatte. Nicht sein Verstand allein und auch nicht einmal sein Gefühl hatten die Situation so eingeschätzt, dass er gegenüber Hans Möller, dem Vertreter des Kaufhauses als Beschallausrichter, die Verbindungsstecker straflos raus ziehen konnte, sondern es war der Instinkt, ein kleiner Impuls, dem er nach so viel Diskussion folgte.

    Draußen endete der Tag. Das erste Laub fiel bereits von den Bäumen und kündete vom Herbst. Das Laub legte sich leicht wie die Lebenslust und wurde vom Wind vor dem Mauersockel, auf dem die Edelstahl-Sichtschutzwände verankert waren, gestapelt.

    Da die Musik nicht einen Ausklang fand sondern abrupt endete, spürten auch die Punks, dass etwas passiert sein musste, was nicht dem Willen der Beschaller entsprach. Sie rätselten still, sich anschauend. Keinesfalls konnten sie sich freuen. Durch die eingetretene abrupte Stille verstärkte sich ihre Wut sogar noch. Nach einer ganzen Weile brach es dann aus ihnen heraus. Einer der Punks, den alle »Prolo« nannten, nahm seine noch halb volle Bierflasche und knallte sie mit Wucht gegen den Edelstahlzaun. Bei Karotte mit ihrer Ratte lief diese Aktion, die nur den Bruchteil einer Sekunde ausmachte, dennoch wie ein ganzer Film ab. Sie sah förmlich in Zeitlupe, wie der Bierschaum wohltuend den perversen Edelstahlzaun herunter lief. Allerdings störte sie, dass die Scherben auf das Laub fielen. Sie konnte es nicht aussprechen, aber sie empfand es irgendwie störend – ähnlich als ob man eine Totenruhe stört. Laub und Scherben traten nun ihr Ende an. Dennoch hätte für sie das Laub darin nicht so gestört werden sollen.

    Über den Markus-Platz ging zu diesem Zeitpunkt eine Mutter mit ihrem kleinen Jungen an der Hand. Vom Knall der zerberstenden Bierflasche mit dem Begleitgeräusch durch den blechernen Zaun hielten sie abrupt inne. Die Mutter sagte gar nichts. Der Junge empfand den Knall so, als ob jemand ein Recht dazu hätte, sich aufzuregen, so wie er es schon ein paarmal erlebt hatte, wenn die Mutter mit der flachen Hand auf den Tisch haute, wenn er irgendwelche Dummheiten gemacht hatte und das Maß übervoll war.

    Nicht so Silberstock – so nannten die Punks den alten Mann, der mit stets grimmigem, argwöhnischem Gesichtsausdruck bei fast allen Gelegenheiten, die sich in der Innenstadt von Itzehoe zutrugen, zugegen war. Er war im letzten Weltkrieg mit einer Tapferkeits-Medaille ausgezeichnet worden.

    Obwohl er – oder gerade deswegen – vom Krieg eine herbe Beinverletzung hatte, war er von der Ehre des deutschen Soldaten und insbesondere von seiner eigenen durch und durch überzeugt und lebte dieses durch sein Missfallen über Dinge und Menschen und deren Outfit, wie bei den Punks, durch seinen grimmigen Gesichtsausdruck und andere Gesten sichtbar aus.

    Wenn der Dichter Goethe gemeint hat, »dass der Mensch, in dem die Seele musiziert, ein Stück seines innersten Wesens nach außen kehrt«, so könnte man meinen, dass Silberstock nur Marschmusik liebte. Er war auch hier zur Stelle mit seinem Handstock, der keinen runden Griff hatte, sondern am Ende rechtwinklig zum Stock stand und wie eine Art Knochen mit Zierknorpeln endete. Der Übergang vom Stock zum Griff hatte eine silberglänzende Chrom-Verzierung.

    Der kleine Junge, der in seinen Gefühlen soeben noch dem werfenden Punk ein elementares Recht dazu eingeräumt hatte, erschrak nun mehr über die polternde Stimme von Silberstock als über den Knall der zerberstenden Flasche.

    Silberstock brüllte Wut entbrannt zu den Punks herüber: »Euch Pack sollte man in ein Erziehungslager stecken. Dann wäre es endlich vorbei mit der Rumlungerei. » In Halbsätzen und Wortfetzen schrie er noch etwas von »rumrandalieren«, »Gewalt« und »Sachen zerstören« sowie »Zäune verunstalten«. Dabei blitzte der Silberknauf vom Handstock mit dem runden Geländer des perversen Edelstahl-Zaunes in der Abendsonne um die Wette. Der alte Mann fuchtelte mit seinem Handstock in der Luft herum, so als wenn er damit eine Attacke auf die Punks vollführen wollte.

    »Prolo«, der Punk, rief zu Silberstock zurück: »Äh, Alter, halt die Spucke an. Was faselst Du hier von Zerstören und Gewalt? Ihr Verbrecher habt halb Europa in Schutt und Asche gelegt und Zig-Millionen Menschen auf dem Gewissen. Und Du Arsch meinst, uns hier anpöbeln zu müssen.«

    Silberstock und auch die Mutter mit ihrem Jungen gingen daraufhin jeder in seiner Art den Gedanken über das Erlebte nachhängend davon, wobei Silberstock durch lautes wenn auch nicht verständliches Murmeln ausdrückte, dass er wohl meinen durfte, in einer falschen Welt leben zu müssen. Keineswegs käme er je für den Rest seines Lebens auf die Idee, sich einzugestehen, dass er und seine hoch geehrte Wehrmacht Teil eines Verbrechens von kaum zu überbietender Dimension waren. Es kamen nicht einmal die geringsten Zweifel in ihm auf.

    Aus Sven kam ebenfalls mit entgegen gesetzten Motiven zu Silberstock die ganze Wut heraus: »Ich bin so wütend auf diese Schweine. Ich könnte mit einem Flieger hier in die Fassade donnern.«

    Karotte teilte genauso die Wut mit Sven. Aber bei dem Spruch mit dem Flieger, wohl in Anspielung an das allgegenwärtige Ereignis der Selbstmordpiloten, die in das World-Trade-Center gesteuert waren, konnte sie nicht an sich halten und schrie:

    »Eh, Du spinnst wohl. Du kannst doch wohl nicht mal aus Wut so eine Scheiße reden. Bei dem World-Trade-Center sind über dreitausend Menschen ums Leben gekommen, unschuldige Menschen. Meine Mama war genau einen Tag vor dem Attentat in den USA auf dem World-Trade-Center. Es ist ein purer Zufall, dass sie nicht am selben Tag da war, wo die beiden Hochhäuser eingestürzt sind. Da verstehe ich keinen Spaß mehr.«

    Sven: »Geh vom Gas! Reg Dich ab! Natürlich will ich nicht Deine Mama umbringen.«

    Karotte: »Ja, aber wenn Du hier so etwas sagst und das tatsächlich auch noch machen könntest, würdest Du hier ja auch unschuldige Leute beim Einkaufen treffen.«

    Sven: »Gut, das war in der Wut so daher gesagt. Ich würde das wohl nie fertig bringen. Aber eine andere Sache ist, dass Du von unschuldigen Menschen sprichst, so als ob man in Schuldige und Unschuldige unterteilen könnte. Dass die Leute da gestorben sind, ist echt schlimm. Aber man muss ja mal ganz klar sehen, was die Amis und auch die Leute hier für ein Geschrei daraus machen und deswegen Kriege anzetteln, hat nichts damit zu tun, dass sie wirklich um die Toten trauern. In der Türkei sind kurz zuvor über dreißigtausend Menschen durch ein Erdbeben ums Leben gekommen. Da war nicht im Ansatz so eine Anteilnahme wie sie es gerade bei den Zwillingstürmen in New York meinen, raushängen lassen zu müssen.«

    Karotte: »Die Selbstmordpiloten sind einfach nur feige Terroristen und es wird ja nicht ohne Grund Krieg geführt oder findest Du das toll, dass in Afghanistan alle Frauen gezwungen sind, sich unter einer Burka zu verstecken und dass die Frauen keine Schulausbildung machen durften und im ganzen Land jede Musik untersagt ist? Da herrscht Diktatur und immerhin haben wir hier und auch in den USA eine Demokratie.«

    Sven: »Nun übertreibst Du aber. Was ist da denn demokratisch? In Ami-Land gehen gerade mal knapp vierzig Prozent zur Wahl, weil die Leute eben wissen, dass der an die Macht kommt, der vom meisten Geld gesponsert wird. Das wird nicht viel anders gesteuert als in einer Diktatur. Da wird auch hemmungslos belogen und bestochen.«

    Karotte: »Also ich bin der Meinung, wenn so etwas in einer Demokratie auffliegt, kommen die auch vor Gericht.«

    Sven: »Das mag ja sein. Es kommen aber nur die vor Gericht, die das zu blöd angestellt haben. Das ändert nichts daran, dass dort nicht Gerechtigkeit oder soziale Motive sondern in erster Linie Geldinteressen bestimmen, wer regieren darf.«

    Karotte: »Da vereinfachst Du aber doch ein bisschen zu doll.«

    Sven: »Natürlich ist es viel komplizierter und es geht woanders auch nicht um direkte plumpe Bestechung. Am Ende wird aber in einer sogenannten Demokratie oft nicht weniger Ungerechtigkeit produziert als in der Diktatur. Man hält die unterschiedlichen Schichten getrennt. Damit die einen glänzen können, müssen die anderen im Schatten leben. Das ist immer die Herrlichkeit des Staates.«

    Sven weiter: »Dass sich bestimmte Leute so maßlos über den Anschlag vom 11. September aufregen, hat nicht viel mit Trauer um die Toten zu tun. Auch der materielle Schaden dieser beiden Hochhäuser ist nicht wirklich ein Verlust, auch nicht für die

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