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Userland – Berlin 2069
Userland – Berlin 2069
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eBook332 Seiten4 Stunden

Userland – Berlin 2069

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Über dieses E-Book

Die SPHÄRE – das bessere Berlin.
Im Berlin des Jahres 2069 sind bereits Hunderttausende von Menschen in die SPHÄRE gewechselt, einer perfekten, virtuellen Kopie der Stadt. Die Transferierten, genannt Essenzen, hoffen auf einen Neuanfang und waren bereit, ihr reales Leben dafür aufzugeben.
Noah Lloyd arbeitet bei GOLIATH, der Firma, die die SPHÄRE geschaffen hat, als ein Anschlag auf sie verübt wird. Dann wird ihm ein mysteriöser Datenstick zugespielt.
Plötzlich steht er im Mittelpunkt der Ermittlungen. Gejagt von der Polizei muss Noah Lloyd in einem von Drogen, Prostitution und Kriminalität gezeichneten Berlin seine Unschuld beweisen. Dabei helfen kann ihm nur seine Frau, doch die hat er gegen ihren Willen in die SPHÄRE geschickt.
SpracheDeutsch
HerausgeberAtlantis Verlag
Erscheinungsdatum1. Juli 2019
ISBN9783864026751
Userland – Berlin 2069

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    Buchvorschau

    Userland – Berlin 2069 - Uwe Hermann

    www.atlantis-verlag.de

    1  Yin und Yang

    Noah Lloyd klammerte sich an seine Bierflasche und sah den zwei gewaltigen Brüsten zu, die im Schein greller Neonlichter unentwegt vor seinem Fenster auf und ab wippten. Sie gehörten zu der Videoprojektion einer überlebensgroßen, unbekleideten Frau, die auf der anderen Straßenseite vor dem Eingang eines Nachtclubs um Kunden warb. Lloyd nannte die Brüste Yin und Yang. Normalerweise brachten sie ihn auf andere Gedanken, aber nicht heute. Heute saß er stumm in seiner Wohnung und blickte durch sie hindurch, als wären sie aus Glas. Um ihn herum klebten die hereinfallenden Lichter der Reklametafeln Muster an die Wände der Apartmentwohnung im siebten Stock. Schon vor Stunden hatte sein Verstand eine Auszeit genommen und nur die Trauer um den Verlust seiner Frau zurückgelassen. Wie so oft versuchte er, Renas Bild aus seinem Kopf zu verdrängen, doch jedes Mal, wenn er alleine war, kehrte die Trauer zurück.

    Vor neun Monaten hatte er sie in die Sphäre geschickt. Die schwerste Entscheidung seines Lebens, aber es war die einzige Möglichkeit gewesen, sie zu retten. Und doch hatte er sie verloren.

    Lloyd nahm einen Schluck Bier. Es schmeckte fade und abgestanden. Der knapp über einen Meter achtzig große Mann mit den kurz geschorenen, schwarzen Haaren stellte die Flasche zurück auf den von Essensschachteln bedeckten Tisch und erhob sich. Der Alkohol in seinem Körper versuchte seinen Kopf in ein Jahrmarktkarussell zu verwandeln. Lloyd wankte und hielt sich am Sofa fest. Auf dem Boden lagen weitere Bierflaschen, auch sie längst geleert.

    Von draußen hämmerten Regentropfen gegen die Scheiben. Der Niederschlag nahm zu, bis die Projektion der Brüste flackerte und erlosch.

    Lloyd durchquerte die Wohnung mit wenigen Schritten, vorbei an dem Aquarium mit den Süßwasserfischen, den immer noch gefüllten Umzugskartons, bis zur rückwärtigen Wand mit dem Bücherregal, an der er ein gerahmtes Replikat eines uralten Kinoplakates zur Seite schob. Dahinter kam ein Wandtresor zum Vorschein, ein Überbleibsel seines Vormieters, der darin Drogen aufbewahrt hatte, bis er sein Geschäft nach einem heftigen Streit mit einem unzufriedenen Kunden und einer Kugel im Kopf hatte aufgeben müssen. Noch heute erinnerten ein paar Blutspritzer quer über dem DeLorean auf dem Kinoplakat an diesen Tag.

    Lloyd gab die Zahlenkombination ein (Renas Geburtstag) und öffnete den Tresor. Im Innern befand sich nur ein angebrochener Sechserträger Bier.

    Er nahm eine der Flaschen heraus und ließ die Tresortür mit dem Ellenbogen zuschnappen. Die Flasche fühlte sich kühl an, im Gegensatz zu seiner restlichen Wohnung. Die Heizung ließ sich nicht regulieren und lief immer auf höchster Stufe, und auch in seiner Küche, die nur aus einer Mikrowelle und einem defekten Kühlschrank bestand, war es unerträglich warm. Seine einzige Möglichkeit, das Bier kühl zu halten, war der Tresor. Lloyd wusste, dass er in einem heruntergekommenen Loch wohnte und auf dem besten Weg war, sich seiner Umgebung anzupassen, doch das war ihm gleich. Außerdem gab es für ihn sowieso keine Aussicht mehr auf ein Happy End. Die Kosten für den Transfer seiner Frau in die Sphäre, hatten seine ganzen Ersparnisse verschlungen. Egal wie viele Überstunden oder Nachtschichten er auch einlegen würde, er hätte nie genug Geld, um ihr folgen zu können.

    Die Zeitanzeige auf der Multimediatapete sprang auf einundzwanzig Uhr und die Stadtwerke schalteten pünktlich den Regen ab.

    Wenigstens etwas, was in dieser kaputten Stadt noch funktionierte.

    Ohne die monotonen Geräusche der Regentropfen kehrte die Lautlosigkeit im Apartment 712 des Gebäudekomplexes in der Potsdamer Straße 85, im Bezirk Berlin-Mitte, zurück. Lloyd wankte zu seinem Sofa hinüber und ließ sich hineinplumpsen. Wütend auf sich selbst, öffnete er die Flasche und trank einen großen Schluck Bier. Was für eine dämliche Idee, den Geburtstag seiner Frau alleine feiern zu wollen. Was hatte er sich dabei gedacht? Hatte er erwartet, dass er sich besser fühlte? Dass ihn die Schuldgefühle für einen Tag in Ruhe ließen? Das Gegenteil war der Fall.

    Vor ihm auf dem Tisch standen mehrere Pappschachteln mit dem Aufdruck eines polnischen Schnellrestaurants. Er hatte das Essen nicht angerührt und es war längst kalt. Wieder einmal nahm er seine Mahlzeit in flüssiger Form zu sich. Er trank erneut. Die Stille im Apartment wurde unerträglich und füllte sich mit Renas vorwurfsvoller Stimme. »Hör auf zu trinken«, sagte sie.

    Lloyd schaltete den Nachrichtenkanal ein. Über einen Teil seiner Multimediatapete flimmerte der Bericht einer Demonstration, in der unzufriedene Bürger den Zugang zu der Sphäre forderten. Klaus Steffens, Berlins Innensenator, gab ein Interview, in dem er die Überprüfung des Verbotes versprach. Er wirkte nervös und verhaspelte sich wie ein Schuljunge bei seinem ersten Rendezvous. Kein Wunder, schließlich war er es gewesen, dessen Anzeige zur Schließung der Firma geführt hatte. Der grauhaarige Politiker hatte Salomon Engel und Armin Zeidler, die Gründer von Goliath, wegen aktiver Sterbehilfe angezeigt und nicht akzeptieren wollen, dass es sich bei der Sphäre um die Fortführung des Lebens auf einer anderen Ebene handelte. Die Gerichte bestätigten einen Verstoß gegen Paragraf 216 Absatz 1 des StGB und schlossen Goliath.

    Die Multimediatapete schaltete den Ton des Nachrichtenkanals aus. Ein Klingeln zerriss Lloyds trübe Gedanken. Er schaute zu seinem Empathiephone hinüber, das auf dem Tisch neben der Aluminiumverpackung mit dem polnischen Krauteintopf lag. Das Telefon nahm seinen Blick wahr und erriet seine Frage: »Deine Arbeitskollegin Marla Brand vom Büro des Objektschutzes wünscht dich zu sprechen. Hast du Zeit?«

    Lloyd fuhr sich mit der Hand über das Kinn, spürte die Stoppeln in seinem unrasierten Gesicht und überlegte, ob er den Anruf entgegennehmen sollte. Marla hatte ihn noch nie privat angerufen. In der Firma war ein »Hallo!« das Einzige, was sie austauschten. Endlich siegte die Neugierde und er nickte seinem Telefon zu.

    Auf der Multimediatapete erschien das Logo seines Telefonanbieters. Nach einem Werbespot für Haarshampoo wechselte das Bild zu einer kindlichen Frau mit schulterlangen, lilafarbenen, fast schwarzen Haaren und schwarz geschminkten Augen. Sie trug ein dunkles Kostüm. Im Hintergrund sah Lloyd eine ihm bekannte Multimediatapete mit Schichtplänen, der Kalenderansicht des Jahres 2069 und dem Bild einer Cartoon-Katze in Siegerpose. Marla rief von der Firma aus an.

    Die neunundzwanzigjährige Frau arbeitete wie er für Goliath. Während sie sich um die Lohnbuchhaltung, die Einteilung der Schichten und den restlichen Papierkram kümmerte, war er einer von acht Mitarbeitern des Objektschutzes, die mit der Sicherung des Firmengeländes beauftragt waren.

    Marla weinte heftig, ihr Körper zitterte. »René und Bob sind tot!«, stammelte sie. Tränen kullerten über das Gesicht und zogen Reste ihres Make-ups wie einen Sternenschweif hinter sich her. »Diese Mörder sind in die Eingangshalle gestürmt und haben sie einfach erschossen …« Der Rest ihres Satzes verlor sich in hemmungslosem Schluchzen.

    Lloyd setzte sich erschrocken aufrecht. Sein Magen zog sich zusammen. Er stellte die Bierflasche heftig auf den Tisch, dass es schepperte.

    »Was ist geschehen?«

    Marla wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und verschmierte ihr Make-up noch mehr. Einer ihrer langen, blinkenden Leucht-Ohrringe in Form einer Katze fiel herunter, ohne dass sie es bemerkte.

    »Es war vor drei Stunden, da sind fünf bewaffnete Männer in die Firma gestürmt. Becker haben sie sofort getötet. Sie haben ihm … einfach eine Kugel in den Kopf geschossen, als wäre er eine Zielscheibe.« Wieder erstickte ein Weinkrampf ihre Stimme. »René hat versucht, sie aufzuhalten. Er war bei Engel im Büro. Die Kameras haben alles aufgezeichnet. Es ist … schrecklich. Sie sind mit dem Privatfahrstuhl nach oben gefahren, haben René getötet und Engel gezwungen, sie in den Transferraum zu bringen.«

    Lloyds dachte nach. Er verfluchte den Alkohol in seinem Blut, der seine Überlegungen durcheinanderwirbelte und jeden Gedanken erschwerte.

    Plötzlich wurde Lloyd klar, dass er jetzt dort mit einer Kugel im Kopf hätte liegen können. Becker hatte für ihn die Spätschicht übernommen. Ihm wurde übel.

    Er schaute wieder in Marlas verheultes Gesicht. »Wie konnten sie mit dem Fahrstuhl nach oben in Engels Privaträume gelangen? Dazu brauchten sie einen Sicherheitscode.«

    Die Frau nickte. »Den hatten sie! Auf den Aufzeichnungen ist zu sehen, wie einer von ihnen vor dem Tastenfeld steht, den Code eingibt und die Fahrstuhltüren sich öffnen.«

    »Wie geht’s Engel?«

    Marla setzte zu einer Antwort an, doch bevor sie berichten konnte, wie es ihrem Arbeitgeber ging, riss die Verbindung ab.

    Auf der Multimediawand erschien erneut das sich drehende Logo seines Telefonanbieters.

    »Gespräch wiederherstellen!« Lloyds Empathiephone wählte mehrmals, aber eine neue Verbindung kam nicht zustande.

    »Zurzeit sind alle Leitungen besetzt. Dein Gesprächspartner bittet dich, es zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu versuchen«, sagte sein Telefon.

    Lloyd ließ Marlas Worte auf sich einwirken. Erst jetzt begriff er die ganze Tragweite. Er arbeitete seit mehr als fünf Jahren beim Objektschutz des Transferunternehmens Goliath und nie hatte es mehr als einen Einbruch oder einen Diebstahl gegeben. Und jetzt waren bewaffnete Männer in das Gebäude eingedrungen und hatten seine Kollegen getötet?

    Er musste zu Goliath!

    Lloyd sprang auf und griff nach dem Empathiephone. »Ich brauche meinen Wagen!«, rief er der Multimediatapete zu. Er schluckte eine Tablette, um den Alkohol in seinem Blut zu neutralisieren. Dann hastete er zum Aquarium hinüber und öffnete die Abdeckung. Seine Hand tauchte in das Wasser ein, ohne nass zu werden, glitt durch die Projektionen der Fische und Korallen hindurch bis zum Boden und hob die dort versteckte Waffe auf. Im Laufen zog er seinen Mantel an und stürmte aus der Wohnung.

    2  Goliath

    Lloyd rannte über den schmutzig grauen Flur, vorbei an leer stehenden Wohnungen und mit Graffiti besprühten Wänden, bis zu einem gläsernen Außenlift. Er war einer der wenigen Fahrstühle, die in diesem Wohnblock noch funktionierten. Obszöne Schmierereien und noch mehr Graffiti versperrten den Blick nach draußen. Doch dort gab es sowieso nur die überlebensgroßen Projektionen nackter Haut zu sehen, die vor Bars, Nachtclubs und Bordellen Kunden anlockten. Dazwischen sich drehende Glücksschweinchen und vierblättrige Kleeblätter über den Kasinos und Spielhöllen der Stadt.

    In der Kabine kickte Lloyd mit dem Fuß gegen eine leere Alkoholflasche, deren hochprozentiger Inhalt längst geleert worden war. Sie rotierte um ihre Achse, kullerte über den Boden und knallte an den Kopf ihres Besitzers, der zusammengekauert in einer Ecke der Kabine lag und seinen Rausch ausschlief.

    Lloyd nannte als Ziel das Erdgeschoss und der Expresslift setzte sich quietschend in Bewegung. Während er Stockwerk um Stockwerk in die Tiefe rumpelte, versuchte Lloyd erneut, die Firma zu erreichen. Niemand nahm seinen Anruf entgegen.

    Kreischend hielt der Lift im Erdgeschoss an. Lloyd zwängte sich durch den größer werdenden Spalt hindurch und rannte den Hausflur entlang. Über ihm flackerten defekte Lichtleisten und begleiteten seine Schritte bis zur Tür. An der Wand neben dem Ausgang hing ein mit schweren Eisenriegeln gesicherter Drogenautomat. Davor standen ein paar Gestalten und versuchten ihn mit Hammer und Montiereisen aufzubrechen. Die Männer sahen Lloyd und unterbrachen ihre Arbeit. Keiner sagte ein Wort, aber ihre Blicke waren Drohung genug. Lloyd hatte weder die Zeit noch die Lust, sich mit ihnen anzulegen. Sollten sie den Automaten doch aufbrechen. Der war seit Monaten defekt. Die Spinner würden früh genug merken, dass in diesem außer ein paar Spinnweben nichts zu holen war – wenn sie den Automaten denn aufbekamen. Er rannte an den Gestalten vorbei nach draußen und sie widmeten sich wieder ihrer schweißtreibenden Angelegenheit.

    Verstörend kalter Wind schlug Lloyd entgegen und vertrieb den Restalkohol in seinem Blut wie ein Rudel Hunde eine Katze. Augenblicklich benetzte Regen seinen Mantel. Ein paar Wolken hatten den Befehl der Berliner Stadtwerke offensichtlich ignoriert und leerten sich wie ein undichtes Planschbecken über die Potsdamer Straße.

    So viel zu der Zuverlässigkeit der Stadtwerke. Lloyd blieb stehen und sah sich nach seinem Wagen um. Die Luft roch nach Elend, Leid und anderen Gerüchen, wie es sie nur in solch heruntergekommenen Vierteln gab. In den Pfützen flackerte das Neonlicht der unzähligen Werbetafeln, als hätte jemand phosphoreszierende Farbe über den Bordstein vergossen. Frauen, die meist wenig bis kaum Kleidung trugen, lehnten zügellos an den Hauswänden, während ihre männlichen Kunden mit hochgeschlagenen Kragen vorübereilten, als hätte nur der Zufall sie in dieses verruchte Viertel geführt.

    Auch Lloyd schlug den Kragen seines Mantels hoch, doch er suchte keine weibliche Unterhaltung, sondern wartete auf seinen Wagen. Auf der anderen Straßenseite tanzten wieder die roten Lackpumps der nackten Schönheit vor dem Eingang des Nachtclubs. Hoch über ihnen wippten Yin und Yang.

    Eine Frau rannte an Lloyd vorüber, warf ihm einen ängstlichen Blick zu und verschwand in einer Seitengasse, als wäre diese weniger gefährlich als er.

    Er musste unbedingt mehr auf sein Äußeres achten. Lloyd strich sich mit dem Handrücken über sein stoppeliges Kinn.

    Ein Penner, der mit dem Rücken an einer Hauswand lehnte, schaute der Frau nach und rief etwas von dem Ende der Zivilisation und dass der Raubbau an der Umwelt an allem schuld sei. Und die Lobbyisten. Und die Politiker. Und natürlich die Sphäre.

    Zu beiden Seiten der Potsdamer Straße schmiegten sich Bars, Bordelle und Sexboutiquen wie Liebende aneinander. Wer dort nicht fündig wurde, konnte sein Glück in den vielen anderen Rotlichtbezirken der Stadt suchen, die wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Schon verrückt. Je ärmer die Menschen wurden, umso mehr Geld gaben sie für ihre Bedürfnisse aus – oder für das, was sie dafür hielten. Die Straße weiter runter drängte sich eine lange Menschenschlange vor einem Nachtclub, in dem legale Drogen und Getränke zu kleinen Preisen verkauft wurden. Gerade brach eine Schlägerei unter den Wartenden aus. Ein paar Schüsse fielen. Die Menschen stoben auseinander, nur um sich nach kurzer Zeit erneut anzustellen.

    Ein Schwarm Überwachungsdrohnen der Ermittlungsbehörde surrte über Lloyds Kopf hinweg, Richtung Nachtclub. Weiter südlich, auf der anderen Seite der Bülowstraße lag das Viertel der Südkoreaner, um das man besser einen Bogen machte. Dort gab es keine ausschweifenden Exzesse, und wenn doch, dann hinter unbeleuchteten Häuserfassaden mit den Steinstatuen ihres Stadtteilführers.

    Lloyd zog sein Telefon aus der Tasche und ließ es das Internet nach Informationen über einen Anschlag auf Goliath durchsuchen. Es dauerte einen Moment, dann flimmerte das Ergebnis über den Bildschirm. Die sozialen Medien waren voll mit Berichten. Drohnenvideos zeigten Polizeikräfte, die das Gelände absperrten und Anti-Drohnenbereiche einrichteten. Die wendigen Ein-Mann-Kopter eines mobilen Einsatzteams standen mit blinkenden Lichtern vor dem dreieckigen, gläsernen Bauwerk der Firma und dessen aus dem Innenhof aufragendem kugelförmigen Hauptgebäude. Ein Blogger schrieb von einem Terroranschlag mit Dutzenden von Toten, ein anderer vermutete eine Inszenierung, um die Regierung zur Rücknahme der einstweiligen Verfügung zu bewegen.

    Lloyds autonom gesteuertes E-Fahrzeug fuhr vor. Vier glänzende Kugeln, von Magnetfeldern gehalten, trieben das flunderförmige Auto an. Sie erlaubten plötzliche Richtungsänderungen und hätten es nahezu lautlos bewegt, wären sie und der Rest des Fahrzeuges nicht so heruntergekommen gewesen. So klapperte die altersschwache Karosserie des Wagens wie eine Plastiktüte voller leerer Bierdosen.

    Die Beifahrertür schwang auf. Lloyd ließ sein Telefon in die Tasche gleiten und stieg ein. Das Kunstleder der alten Sitze knarzte. Im Inneren roch es nach Rauch, Schweiß und Alkoholresten.

    Der Wagen begrüßte ihn mit einer Stimme, die zum Rest des Fahrzeugs passte, und erkundigte sich nach Lloyds Wünschen.

    »Bring mich in die Firma!«, befahl er.

    Die Beifahrertür schloss sich mit einem schmatzenden Geräusch und der Wagen fuhr los. Er fädelte sich in südlicher Richtung in den Verkehr ein und beschleunigte. Nach einem kurzen Moment bog er in die Kurfürstenstraße ein und fuhr weiter nach Westen.

    Es herrschte nur wenig Verkehr auf den Straßen. Seit Jahren wechselten immer mehr Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben in die Sphäre. Zurückgeblieben waren nur Loser, die sich die Passage nicht leisten konnten.

    So wie er. Lloyd war frustriert und Rena schlich sich in seine Gedanken. Er sah ihre kurzen weißen Haare, roch ihr süßes Parfüm und hörte ihr Lachen. Warum war das Leben nur so ungerecht?

    Erbittert presste er die Lippen aufeinander und konzentrierte sich auf Marlas Worte. Der Überfall! Die Angreifer hatten Engel gezwungen, sie in den Transferraum zu bringen. Reichte eine Person zur Bedienung der Anlage überhaupt aus? Lloyd wusste es nicht.

    An dem Tag, als er Rena aus dem Krankenhaus geholt und in die Firma gebracht hatte, hatte sich ein halbes Dutzend Personen im Transferraum aufgehalten. Männer in weißem Kittel, wie die Ärzte, die ihr nicht hatten helfen können, überwachten Kontrollmonitore. Sie scannten Renas DNA, kopierten ihre Gedanken, ihre Erinnerungen, ihre Persönlichkeit, kurz: alles, was sie ausmachte, und schickten diese Daten – Essenz genannt – in die Sphäre, einer virtuellen Kopie von Berlin.

    Vor Rena hatten bereits Hunderttausende von Menschen diesen Schritt unternommen. Manche, weil sie den Tod fürchteten, andere, weil sie hofften, die Sphäre wäre das Paradies. Sie versprach ein Leben ohne Krankheit und Hunger, ohne Armut und Langeweile. Ein Neuanfang im gelobten, virtuellen Land! In einer 3D-Welt, in der es nur Sieger gab.

    NPCs – Non-Player-Character –, vom Computer gesteuerte, künstlich erschaffene Essenzen kümmerten sich dort um die Bedürfnisse der Menschen. Niemand brauchte zu arbeiten.

    Doch um in die Sphäre zu gelangen, gab man seinen alten, realen Körper auf – und jede Hoffnung, jemals wieder in die wirkliche Welt zurückkehren zu können. Der Körper starb, nachdem die Essenz des Menschen transferiert worden war. Zurück in der von den Auswirkungen der Klimakatastrophe, der Umweltverschmutzung und der Gewalt geprägten Welt blieben nur diejenigen, die sich den Transfer nicht leisten konnten.

    Schließlich verbot die Regierung die Benutzung der Anlage und zwang Engel und Zeidler, den Betrieb einzustellen.

    Lloyd hatte sein Telefon angewiesen, das Internet nach neuen Meldungen über einen Angriff auf Goliath zu durchsuchen. Bislang wiederholten sich die Berichte, durchsetzt mit immer wilderen Spekulationen, doch jetzt gab es ein Video, das einen Leichenwagen vor der gläsernen Vorderfront des Gebäudes zeigte. Das Telefon legte das Video auf die Innenseite der Windschutzscheibe.

    Lloyd sah Lastenroboter vier Särge herantragen und in den Leichenwagen verladen. Im vorderen Bereich des Firmengebäudes standen Absperrungen, bewacht von drei Meter großen Sicherungseinheiten der Polizei. Inzwischen brachten die öffentlichen Nachrichtenkanäle einen Sonderbericht über den Angriff, aber mehr als das, was Lloyd wusste, meldeten sie nicht. Kein Wort über den Gesundheitszustand des Firmeninhabers Salomon Engel, dessen Geschäftspartners oder der anderen Personen, die sich zum Zeitpunkt des Angriffs in der Firma aufgehalten hatten. Was war aus den Angreifern geworden? Marla hatte von fünf Personen gesprochen. Waren sie noch im Gebäude? Oder hatten sie es in die Sphäre geschafft?

    Lloyds Wagen verließ die Hardenbergstraße und den Ernst-Reuter-Platz. Er wechselte auf den vierspurigen Zubringer und folgte ihm für einige Kilometer in östlicher Richtung. In der Ferne tauchte die gewaltige Kugel des Hauptgebäudes auf, die aus dem Innenhof des dreieckigen Gebäudekomplexes wie ein gewaltiger Fußball emporragte. Auf ihr leuchtete in riesigen Buchstaben Goliaths Schriftzug.

    Schließlich erreichte er den Parkplatz vor dem beleuchteten Firmengelände. Drei Meter große Sicherungseinheiten der Polizei standen an provisorisch errichteten Absperrgittern und hielten mit ihren eindrucksvollen Waffenarmen Schaulustige auf Distanz.

    Lloyd ließ seinen Wagen am Rande der Absperrung, in der Nähe des angrenzenden Parks, anhalten und stieg aus. Inzwischen war es kurz vor zweiundzwanzig Uhr. Es hatte zu regnen aufgehört und die Luft roch bereits wieder nach Rauch und Chemikalien, als verbrennte jemand alte Autoreifen. Ein vertrauter Geruch im Berlin des Jahres 2069, Umweltschutz stand schon lange nicht mehr an erster Stelle.

    Sein Wagen fuhr klappernd davon, Richtung Parkplatz. Im angrenzenden Park krächzten ein paar Tauben, aufgeschreckt durch den Lärm seines Fahrzeuges.

    Lloyd ging zum Haupttor hinüber, vor dessen Absperrgitter eines der zweibeinigen, metallenen Ungetüme den Weg blockierte. Sein Waffenarm schwenkte herum: »Weitergehen, Bürger! Dies ist ein Polizeieinsatz! Das Betreten des Geländes ist verboten!«

    Lloyd blieb sofort stehen. R12-Einheiten waren dafür berüchtigt, dass sie hin und wieder auch grundlos das Feuer eröffneten. Keiner wusste, ob das Teil der Abschreckungsstrategie des Herstellers war oder ob Hacker sich einen Spaß mit ihnen erlaubten.

    Sicherheitshalber streckte Lloyd die Arme in die Höhe.

    »Ich bin Noah Lloyd und gehöre zum Objektschutz«, wies er sich aus, obwohl der Roboter längst den Identifikationssender seines implantierten Ausweises gescannt haben musste.

    »Bitte warten Sie. Ein menschlicher Mitarbeiter wurde über Ihre Ankunft unterrichtet.«

    Lloyd wagte nicht, sich zu rühren. Mehrere tragbare Scheinwerfer beleuchteten das Gelände und seine Gebäude. Vor der gläsernen Vorderfront des Eingangsgebäudes standen die Maschinen des Kopter-Teams, die er bereits auf den Internetvideos gesehen hatte. Sie erinnerten ihn sofort an Rena. Auch sie hatte einem dieser Teams angehört.

    Aus dem Haupteingang des Gebäudes trat eine schlanke, durchtrainierte Gestalt in schwarzer Fliegermontur und Stiefeln. Ein Quadpilot! Sie trug einen Helm mit heruntergeklapptem, verspiegeltem Visier. Lloyd ahnte, dass über dessen Innenfläche in diesem Moment der Inhalt seiner Akte scrollte. Spätestens jetzt wusste sein Gegenüber, dass er Renas Ehemann war und dass er sie in die Sphäre geschickt hatte.

    Die Gestalt kam näher und Lloyd erkannte an ihrer Bewegung, dass es sich um eine Frau handelte. Auf der Brusttasche ihrer Flugmontur stand ihr Name: Lina Graf.

    »Sie sind Noah Lloyd?«, fragte sie, obwohl ihr die R12-Einheit längst seine Daten übermittelt haben musste.

    Er nickte und sagte: »Ich arbeite beim Objektschutz. Eine Kollegin rief mich an und erzählte mir, was geschehen ist. Wie geht’s Salomon Engel und meinen Kollegen? Kann ich helfen?«

    Unter ihrem Helmvisier flackerte der Widerschein einer eintreffenden Nachricht. Sie ignorierte seine Frage. »Mein Scanner zeigt mir, dass Sie bewaffnet sind. Geben Sie mir Ihre Pistole!« Sie streckte die Hand aus.

    Lloyd zögerte. »Ich habe eine Waffenbesitzkarte!«

    »Das sehe ich, trotzdem lasse ich Sie nicht mit einer Waffe ins Gebäude!« Die R12-Einheit entsicherte mit einem unüberhörbaren metallischen Klicken ihren Waffenarm, der noch immer drohend auf ihn zeigte.

    Lloyd schob langsam eine Seite seines Ledermantels zurück, bis sein Waffenholster sichtbar wurde.

    Die Frau nahm ihm die Pistole ab und steckte sie ein. »Schön, dass Sie freiwillig gekommen sind, Bürger Lloyd. Wir hätten sonst eine Einheit losgeschickt, um sie abzuholen.« Sie befahl der R12-Einheit, das Absperrgitter freizugeben.

    Lloyd schaute sie verdutzt an. »Sie wollten mich abholen? Warum?«

    Lina Graf antwortete nicht. Sie wartete ungeduldig, bis er durch die

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