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Der beabsichtigte Kollateralschaden: Köln-Krimi
Der beabsichtigte Kollateralschaden: Köln-Krimi
Der beabsichtigte Kollateralschaden: Köln-Krimi
eBook365 Seiten4 Stunden

Der beabsichtigte Kollateralschaden: Köln-Krimi

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Über dieses E-Book

Eine große Versicherung in Köln.
Schüsse bei der Betriebsversammlung.
Und eine schwierige Verteidigung.


Während der Betriebsversammlung der großen Titanus-Versicherung in Köln fallen plötzlich Schüsse, nachdem der Vorstandsvorsitzende sein Referat zur Umstrukturierung und Freisetzung von zwanzig Prozent der Angestellten beendet hat.

Seinem Verteidiger schildert der Täter in der Untersuchungshaft die kriminellen Machenschaften der Versicherungsbranche.

Gelingt es seinen Vorgesetzten, ihn zum Schweigen zu bringen, oder sind auch sie nur Marionetten des Systems?
SpracheDeutsch
Herausgebercmz
Erscheinungsdatum1. Sept. 2016
ISBN9783870621902
Der beabsichtigte Kollateralschaden: Köln-Krimi

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    Buchvorschau

    Der beabsichtigte Kollateralschaden - Heinrich Bischoff

    Roman.

    Haupttitel

    Heinrich Bischoff

    Der beabsichtigte Kollateralschaden

    Köln-Krimi

    Impressum

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    © 2016 by CMZ-Verlag

    An der Glasfachschule 48, 53359 Rheinbach

    Tel. 02226-9126-26, Fax 02226-9126-27, info@cmz.de

    Alle Rechte vorbehalten.

    Umschlagfoto (KölnTriangle, 2014):

    Günter Albers, Köln

    Umschlaggestaltung:

    Lina C. Schwerin, Hamburg

    eBook-Erstellung:

    rübiarts, Reiskirchen

    ISBN 978-3-87062-178-0 (Paperback)

    ISBN 978-3-87062-190-2 (eBook epub)

    ISBN 978-3-87062-195-7 (eBook kindle)

    20161105

    www.cmz.de

    Inhalt

    Die Betriebsversammlung

    Das Mandat

    Die Reportage

    Der Kontakt

    Der Mandant

    Die Familie

    Das erste Gespräch

    Die Großeltern

    Die Firmenstruktur

    Die Waffe

    Franz Westler

    Die berufliche Entwicklung

    Die Familienkonflikte

    Die Aussage

    Der Vertriebsvorstand

    Die Elternliebe

    Die Wertschätzung

    Eine Einzelmeinung

    Unerwartete Fürsprache

    Der Personalvorstand

    Die Auswirkungen

    Der Sohn

    Die drei Musketiere

    Der Betriebsratsvorsitzende

    Die verknüpfte Zusammenarbeit

    Die Telefongespräche

    Der Aussteiger

    Der Gefühlsausbruch

    Der doppelte Verrat

    Die bedingte Toleranz

    Montego Bay

    Die berufstypischen Auffälligkeiten

    Die Dame in Blau

    Lores Bericht

    Das nagende Misstrauen

    Frau Braun

    Der Zufall

    Das Gerücht

    Die Projektarbeit

    Das familiäre Umfeld

    Haarlos

    Die Selbstreflexion

    Der Wutausbruch

    Erneutes Mandat

    Die Personen

    Die Betriebsversammlung

    Karl Krapps blickte auf seine Armbanduhr. Das ist mein Tag, dachte er. Freitag, der 13. Oktober 2006. Meine Abrechnung mit dem Vorstand. Besonders mit Dr. Truts, dem Vorstandsvorsitzenden.

    Er hatte bei der Vorbereitung darauf gedrungen, dass der größte Versammlungsraum für diese Veranstaltung zur Verfügung gestellt wurde. Immerhin handelte es sich um den Gesamtbetriebsrat der Titanus-Versicherung Aktiengesellschaft in Köln.

    Die Tür des Saales öffnete sich quietschend schon eine Viertelstunde vor dem in dem Einladungsschreiben genannten Beginn um zehn Uhr. Er beobachtete mit Genugtuung, wie sich diskutierend und schwatzend die Angestellten in den Raum drängten. Wortfetzen formten sich zu einer Melodie von hellen und dunklen Tönen, verstärkt durch die hohe Decke des Raumes. Die akkurat aufgebauten Stuhlreihen auf den Steinfliesen wurden auseinandergezerrt. Die Stuhlbeine schepperten. Metall auf Metall. Das Geräusch vermischte sich mit dem Scharren von Füßen und dem Staccato der Absätze vieler Frauenschuhe. Am Mikrofon des Rednerpults, seitlich von dem Podest mit den fünf Betriebsratsmitgliedern, stand Max Anders. Ein junger, ehrgeiziger Mann, erst kürzlich in den Betriebsrat gewählt. Sein roter Kopf verriet die Anspannung. Die Tonprobe. »Eins, zwei, drei.« Das Mikrofon rauschte, knisterte, ein schriller Ton. »Eins, zwei, drei.« Und nach einer kurzen Pause: »Gut«, kommentierte er seine Arbeit. Eine Handvoll der Anwesenden lachte.

    »Bravo, Anders«, rief Jupp Steinke ihm von seinem Platz in der vierten Reihe links vom Zwischengang zu. Er machte ihm Mut. Ein kostenloses Vergnügen, das die Stimmung auflockerte. Der Betriebsrat hatte die Tagesordnungspunkte mit den Namen der Referenten eine Woche vor der Veranstaltung zusammen mit der Einladung zu der außerordentlichen Betriebsversammlung versandt.

    Karl Krapps betrachtete die Runde des Publikums, der Kollegen und Kolleginnen der Hauptverwaltung der Titanus-Versicherung. Wie immer in der Branche, hatte sich auch seine Versicherung den besten Platz für ihr Firmengebäude ausgesucht: Es lag am Johannes-Giesberts-Park, unweit von Flora und Zoo.

    Nachdem er zuvor Jupp durch dessen Zwischenruf entdeckt hatte, suchte er nun Ernst Groß. Der hatte auf der rechten Seite des Ganges, der die Stuhlreihen trennte, in der fünften Reihe Platz genommen. Gut platziert, sann er. Meine Speerspitzen, die werden dem Vorstand die kritischen Fragen stellen. Truts, der lange redet, damit ihm kaum Fragen gestellt werden. Der nennt Zahlen, Fakten, schnell hintereinander, so dass wenig Spielraum für das Hinterfragen bleibt. Der spult alles ab. Heute nicht. Seinen Vortragsstil werde ich mitbestimmen.

    Er konnte die Redner am Pult beobachten. Das war so gestellt, dass sie zur einen Hälfte dem Publikum, zur anderen den Betriebsratsmitgliedern zugewandt waren. Eine Maßnahme von ihm, um die Mitarbeiter zu ermutigen, sich kritisch mit den Vorstandsbeschlüssen auseinanderzusetzen. Gleichzeitig, um seine spätere Verhandlungsposition als Arbeitnehmervertreter zu stärken.

    Er schreckte hoch.

    Der Overheadprojektor wurde das neue Opfer des jungen Mannes. Klick, klack, klick, klack, machte der schwarze Plastikschalter. Licht an, Licht aus. Krapps spähte zum jungen Anders. Der war in dieser Aktion vom Ehrgeiz besessen. Anders ist zwar ungestüm, häufig zu naiv, dachte er, aber wenn jemand mein Nachfolger wird, dann er. Noch fehlt ihm der unbedingte Machtinstinkt. Er wurde in seinen Gedanken unterbrochen. Ernst Groß schrie aus der vierten Reihe: »Perfekt. Lass gut sein, Junge.« Durch den Zwischenruf trainierte dieser die Lautstärke für seine zu stellenden Fragen. Jene aus dem Publikum, deren Inhalt und zeitlichen Ablauf er, Karl Krapps, vorgegeben hatte. Mit seinen Vorbereitungen war er zufrieden. Eine Reihe direkt vor Ernst Groß entdeckte er die Kollegin Susanne Sahlenburg. Er erhaschte ihren Blick. Sie musterte ihn kalt. Frauen können ihre ganze Verachtung ohne ein Wort, nur durch ihre Mimik und Gestik ausdrücken, schoss es ihm durch den Kopf.

    Anders hatte seine Arbeit beendet. Er grinste ihn an und ging auf das Podium. Setzte sich auf den freien Stuhl hinter dem Tisch, fünf Schritte von der ersten Stuhlreihe entfernt. Dort warteten neben ihm die weiteren Betriebsratsmitglieder. Sie waren damit beschäftigt, letzte Punkte zu erörtern. Sich abzustimmen, wer zu welchen Themen eventuelle Fragen beantworten sollte. Vier Frauen rechts; vier Männer links von Krapps. Ihre Oberkörper, besser noch ihre Gesichter, waren für alle sichtbar. Nicht von irgendwelchen technischen Geräten halb oder ganz verdeckt. Über ihren Köpfen die weiße Leinwand.

    Karl Krapps sah auf seine Armbanduhr. Es war jetzt zehn. Er setzte sein einstudiertes Lächeln auf. Nickte rechts und links den Betriebsratsmitgliedern zu. Schaute erwartungsvoll zur Saaltür. Er trat an das Rednerpult. Am Morgen hatte er sich lange im Spiegel betrachtet. Sein Äußeres gefiel ihm. Seine kurzen, grauen Haare waren akkurat geschnitten. Hinter der randlosen Brille die tief liegenden blauen Augen. Darüber die Stirnfalten, die er gekonnt einsetzte, um sein Missfallen, seine Zweifel auszudrücken. Mit seinem Runzeln dokumentierte er es dem jeweiligen Gesprächspartner. Besonders die von ihm einstudierte Mimik bei Entrüstung oder Betroffenheit gefiel ihm. Als er mit der Moderation beginnen, die Anwesenden begrüßen wollte, verebbte das Stimmengewirr. Die Tür quietschte erneut. Herein kamen die drei Vorstandsmitglieder, Dr. Sebastian Truts, Dr. Rolf Rellinger und Heribert Vogelsang. Ein Zischen und Wispern war zu vernehmen. Sie ließen sich ihren eingeübten, bedeutenden Auftritt nicht stören. In gebührendem Abstand folgte Edith Braun, die rechte Hand von Truts. Sie hatte die Aufgabe, drei Mappen in unterschiedlichen Farben hinterherzutragen.

    Karl Krapps stand wartend am Rednerpult. Die Finger seiner linken Hand trommelten nervös auf das braune Holz. Das eingeschaltete Mikrofon verstärkte das Geräusch. Die zuletzt Gekommenen ließen sich auf die Stühle in der ersten Reihe fallen. Der Kunststoffbezug gab nach. Luft entwich. Er hörte mit dem nervösen Trommeln auf.

    »Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich begrüße Sie herzlich zu der außerordentlichen Betriebsversammlung der Titanus-Versicherung.« Er stockte, wartete ab, bis auch der Letzte im Saal mit dem Hüsteln und Räuspern fertig war.

    »Ich begrüße die Herren des Vorstandes, Dr. Truts, Dr. Rellinger und Vogelsang, die der Einladung der Arbeitnehmervertretung gefolgt sind. Ferner gilt ein besonderer Dank Herrn Sanders von der Gewerkschaft Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft.«

    Bei der Erwähnung des Gewerkschaftlers brandete Applaus unter den Anwesenden auf.

    Karl Krapps nickte zustimmend. Die Vorstandsmitglieder starrten angeödet auf ihre Mappen, die Frau Braun ihnen ausgehändigt hatte.

    »Die Tagesordnungspunkte der heutigen Veranstaltung sind Ihnen bekannt.«

    In diesem Moment erhob sich Anders erneut. Ging an den Overheadprojektor. Er legte die entsprechende Folie auf. Die Schrift erschien in großen schwarzen Buchstaben auf der weißen Leinwand über den Köpfen der anderen Betriebsratsmitglieder. Aufgereiht, wie bei einem Gericht oder einer Karnevalssitzung.

    Karl Krapps drehte sich zur Leinwand. Die Knöpfe seines blauen Jacketts schnürten seinen Bauch ein. Er öffnete sein Jackett und schaute auf die vierzehn Punkte. Drehte sich wieder den Mitarbeitern zu. Vertiefte sich einen Moment auf die vor ihm liegende Papierversion. Er kannte die Wirkung. Verstand das Spiel, sein Spiel. »Gibt es noch Wünsche, Vorschläge oder Ergänzungen? Neue Punkte?«

    Er schaute von dem Blatt Papier auf. Suchte den Blickkontakt mit Jupp und Ernst. Starrte in die Menge. Wartete auf Wortmeldungen. Es erhob sich keine Hand.

    »Keine Fragen, Anregungen oder Ergänzungen«, stellte er nüchtern fest. Damit wandte er sich an seine Kollegen auf dem Podium. »Das für das Protokoll.« Er drehte seinen Oberkörper und erklärte: »Somit eröffne ich die außerordentliche Betriebsversammlung. Insbesondere vor dem Hintergrund«, und die Bemerkung konnte er sich nicht verkneifen, »der Presseveröffentlichungen zu der Unternehmensneuordnung und den damit verbundenen Änderungen.« Er nahm mit der rechten Hand das vor ihm auf dem Pult stehende Wasserglas. Trank bedächtig einen Schluck. Erhöhte somit die Aufmerksamkeit des Publikums. Verkündete: »Aufgrund der knappen Zeit des Vorstandes …«, hierbei schmunzelte er und wurde unterbrochen.

    »Hört, hört«, rief Jupp vorwitzig aus der Menge. Dieser Einwurf löste Heiterkeit aus. Die drei Herren des Vorstandes quittierten diese Aktion mit leichenbitterer Miene. Frau Braun blickte pikiert auf ihren Rocksaum. Zog daran. Krapps wartete belustigt ab. Er genoss als Hausherr die Situation. Sagte mit dunkler Stimme: »Aufgrund des engen Zeitplanes unseres Vorstandes werden wir die Punkte drei, sechs und acht der Tagesordnung vorziehen.« Er ließ diese Information auf die Zuhörer wirken.

    »Zu Punkt drei, Zusammenlegung der Antrags- und Schadensabteilungen der Haftpflichtsparte, wird Herr Dr. Rellinger Stellung beziehen. Zu Punkt sechs, Auswirkung dieser Verschmelzung für den Angestelltenbereich und Auswirkungen für den Außendienst, Herr Vogelsang. Interessant, und von Ihnen allen mit Spannung erwartet, werden die Ausführungen zu Punkt acht sein. Herr Dr. Truts gibt Ihnen in seiner Eigenschaft als Vorstandsvorsitzender aus erster Hand die neue Strategie am Markt bekannt. Ebenso die damit verbundene neue Unternehmensstruktur, die die Schließung von Filialen und die Aufgabe von Standorten umfasst.«

    Die Sätze wurden von ihm heruntergeleiert. Ein Raunen ging durch die Zuhörerschaft. Die Stimmung war aufgeheizt.

    »Aufgrund der Brisanz werden wir«, und hier lächelte Krapps gönnerhaft, »den Punkt acht vorziehen. Zunächst erteile ich dem Kollegen Sanders von Verdi das Wort, um sich und die Arbeit der Gewerkschaft vorzustellen. Es folgt der Rechenschaftsbericht des Betriebsrates.«

    Krapps setzte sich. Er nahm wahr, wie die Herren des Vorstandes tuschelten. Frau Braun lehnte sich zurück, damit die Köpfe der Herren sich näherkommen konnten. Anschließend blätterten die Vorstandsmitglieder gelangweilt in den Mappen. Stoisch, mit reservierter Miene, hörten sie sich den Redebeitrag des Gewerkschafters an. Dokumentierten ihren Unmut über die Verzögerung, das Vergeuden nutzloser Zeit. Karl Krapps präsentierte den Rechenschaftsbericht des Betriebsrates. Die Vorstandsmitglieder lehnten sich entspannt in ihren Stühlen zurück. Bis endlich Dr. Truts von ihm aufgefordert wurde, zu seinem Tagesordnungspunkt Stellung zu nehmen.

    Jupp ließ seinen grellen Pfiff los. Ernst hustete, als müsse er sich erbrechen. Toll, dachte Karl Krapps.

    Truts hob den Kopf. Sammelte sich. Schritt bedächtig und ging mit einem breiten Lächeln ans Rednerpult. Seine Tränensäcke wirken heute noch größer, bemerkte Krapps, und die markanten Augenbrauen sind hoch aufgebürstet. Alles Show.

    Umständlich legte Truts seine Unterlagen vor sich auf das Pult. Sah kurz zu Karl Krapps herüber und nickte gönnerhaft den Damen und Herren des Betriebsrates zu. Konzentrierte sich auf die vor ihm liegenden Aufzeichnungen und begann: »Meine Damen und Herren, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Lassen Sie mich zuvor ein paar einleitende Sätze zu den Ihnen gleich präsentierten Maßnahmen unseres Unternehmens sagen. Meine Kollegen und ich vom Vorstand wissen um die Bedeutung dieses Augenblicks.« Er legte eine Atempause ein. Räusperte sich. »Ohne Visionen, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter …«

    »Wir sind nicht lieb«, warf Jupp, geschützt durch die Menge der Zuhörer, ein.

    Truts zeigte keine Reaktion. Rezitierte unbeirrt weiter: »Ohne Visionen ist die Welt ärmer. Wenn wir diese nicht hätten, würden keine Veränderungen stattfinden. Die kreativen Kräfte erlahmen. Wir müssen nicht nur die Aufgaben der nächsten Monate, der nächsten Jahre sehen.« Er beugte sich weiter zum Mikrofon. »Nein, wir müssen erahnen, was die nächsten Jahre uns an Herausforderungen bringen werden. Was auf uns zukommen wird.«

    »Kommen Sie zur Sache«, startete Ernst seinen nächsten Zwischenruf.

    Truts hob den Kopf. Sein Gesicht wurde starr. Er hielt inne, als wollte er den Ruhestörer lokalisieren. Mit harschen Worten fuhr er fort: »Wir müssen für die kommenden Herausforderungen gewappnet sein. Alle möglichen Marktereignisse erkennen und die richtigen Konzepte haben. Wir sind darauf vorbereitet. Wir sind gut aufgestellt. Jetzt müssen wir an den Stellschrauben drehen, damit im nächsten Jahrzehnt die Probleme gemeistert werden. Wir haben alle Werkzeuge im Werkzeugkasten.«

    Auswendig gelernt und hohle Sprüche, ging es Krapps durch den Kopf. Er entdeckte erste Schweißtropfen auf der Stirn des Redners.

    Der stockte. Er erwartete Applaus, der ausblieb. Daraufhin änderte er seinen Tonfall und erklärte mit einschmeichelnder Stimme: »Das bedeutet, sich von liebgewonnenen Dingen und Gewohnheiten zu trennen. Bedingt die Bereitschaft, Bestehendes infrage zu stellen.«

    »Ihre Arbeit auch?«

    Krapps bemerkte, wie Jupps Gesicht rot anschwoll.

    Bei diesem Einwurf erscholl Spottgelächter. Etliche der Angestellten klatschten, andere pfiffen. Krapps musterte Truts. Der zeigte erste Anzeichen von Unsicherheit. Er fuhr sich mit der linken Hand über den grauen Kinnbart. Er konnte seine Anspannung schlecht verbergen.

    »Glauben Sie mir, wir haben harte Monate mit hitzigen Diskussionen hinter uns. Nicht nur der Vorstand«, er straffte seinen Oberkörper und wandte sich dem Betriebsrat zu, »auch mit Ihren Interessenvertretern.«

    Er wartete ab. Suchte nach Dankbarkeit. Drehte sich den Mitarbeitern zu und ergänzte: »In einvernehmlicher Zusammenarbeit, getragen von einer Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens, haben wir das Konzept erarbeitet, das ich Ihnen gleich präsentieren werde. Gegen Seilschaften und Widerstände im Haus. Und gerade, weil ich um die Bedeutung weiß, bin ich heute hier bei Ihnen.« Er sprach über die Köpfe der Menschen hinweg.

    »Dafür gibt es ein Schmerzensgeld«, kommentierte Jupp erneut.

    Karl Krapps nahm das vor ihm liegende Handmikrofon.

    »Kolleginnen und Kollegen. Ich darf um Ruhe bitten. Wir haben gleich Gelegenheit zu einer ausführlichen Diskussion. Das hat Herr Dr. Truts uns zugesagt. Er wird sich Ihren Fragen stellen.« Krapps wusste, dass er mit dem Druck in seiner Stimme den Beifall erzwingen konnte. Was geschah.

    Die Absprachen zwischen den beiden Ruhestörern und ihm klappten. Er war mit dem bisherigen Ablauf zufrieden. Lehnte sich entspannt in seinem Stuhl zurück.

    Truts umklammerte mit beiden Händen das Rednerpult. Atmete hörbar tief durch. Für Krapps ein erstes Zeichen des Kontrollverlustes. Er führte weiter aus: »Es geht hier um unser aller Wohl. Das von Ihnen und Ihren Angehörigen. Das des Unternehmens, das für Sie den Lebensunterhalt bedeutet«, raunte er bedeutungsschwanger.

    »Für Sie doch auch. Nicht zu knapp.« Ernst nahm das Spiel wieder auf. Sein Zwischenruf wurde mit Beifall bedacht. Abgelöst von ersten Buhrufen. Die Provokation erzielte ihre Wirkung.

    Mit kalter Stimme, jede Silbe betonend, den Kopf nahe am Mikrofon, antwortete Truts: »Stehen Sie auf und zeigen Sie sich, wenn Sie meinen, durch unqualifizierte Bemerkungen glänzen zu müssen. Sehe ich da jemanden?« Er nahm die linke Hand über seine Augen. Gleich einem Matrosen im Ausguck, der nach Land späht. Dies belustigte eine Anzahl der Teilnehmer. Er wusste um die Wirkung seiner Geste. Das Mikrofon erzeugte einen schrillen Ton. Er hatte durch seine Aktion unbeabsichtigt mit der anderen eine Rückkoppelung erzielt. Der Ton verebbte, und er verkündete sarkastisch: »Das war mein persönliches Statement.«

    Er verlagerte das Gewicht auf das rechte Bein. Setzte den linken Fuß vor. Hielt sich mit der rechten Hand am Podium fest. Benetzte Daumen und Zeigefinger der linken, um die Papierseiten seines Vortrages umzublättern. »Ich fahre jetzt mit der Präsentation der neuen Unternehmensstrategie fort.«

    Die Sache läuft aus dem Ruder. Verwandelt sich in eine Peinlichkeit, feixte Krapps und lächelte in sich hinein.

    »Frau Braun, bitte.« Truts holte die Stimme tief aus seinem Brustkorb. Das war ihr Signal. Sie stand auf und ging mit erhobenem Haupt zum Overheadprojektor. Schaltete ihn an. Truts hatte sich wieder in der Gewalt. Sein Ton war verbindlich. Frei von jeglicher Schärfe. »Sie wissen, wie ich von zahlreichen Seiten für mein Engagement bespöttelt wurde. Jetzt wollen alle das Erfolgsmodell kopieren.«

    Frau Braun legte eine Folie nach der anderen auf. Ihr Chef las den Text von der vor ihm liegenden Papierversion ruhig und monoton ab. Den bedeutungsvollen Inhalt, reduziert auf knappe Schlagworte. Griffig, einprägsam. Erläuterte Zahlenreihen. Erwähnte Begriffe. Kommentierte Umsätze, Produktionen und Ergebnisse der einzelnen Sparten und Abteilungen. Setzte gekonnt seine Stimme ein. Ruhig, wohlwollend für die Leistungen, für das Erreichte. Hart, klirrend für die Managementziele. Er berauschte sich an verschiedenfarbigen Kurven, an dicken und dünnen Balkendiagrammen. Endlich kam er zu der zwölften Folie. Hier hielt er inne. Über den Köpfen der Betriebsratsmitglieder wurde der Inhalt der Folie wiedergegeben. In grüngelber Schrift erschien auf der Leinwand die Schlagzeile: Zwanzig-Prozent-Beschluss. Harmlos und griffig. Damit weckte Truts die Aufmerksamkeit der Zuhörerschaft. Jener Masse mit den schläfrigen Augen, die jetzt, da es um die Reduzierung des Personals ging, Interesse zeigte. Zahlreiche der Anwesenden bekämpften ihre Ermüdungserscheinungen. Bedingt durch den Sauerstoffmangel oder die zuvor langatmigen Ausführungen des selbstverliebten Folienziehers. Es herrschte eine gespannte Ruhe. Jetzt ging es um ihre Zukunft. Truts wurde konkret. Er kam auf das Thema zu sprechen, das sie alle verunsicherte und von dem sie vorab Anfang September aus dem Kölner Stadt-Anzeiger erfahren hatten. Eingeleitet aufgrund der Wiedergabe von Aussagen anlässlich der Pressekonferenz des Unternehmens.

    Damals berichtete Truts über das Ziehen der Reißleine, sprach von gravierenden Veränderungen und einem Umbau, ohne näher darauf einzugehen. Eine gezielte Indiskretion, wie zahlreiche Mitarbeiter des Konzerns vermuteten. Er ließ sich nicht in die Karten schauen. Ergriff die Möglichkeit, den Prozess in seinem Sinne zu gestalten, selbst mit einer lancierten Pressenotiz. Der Betriebsrat, darauf angesprochen, konnte seinerzeit nur nebulös erklären: »Wir verhandeln noch und haben Stillschweigen vereinbart.«

    Daran erinnerte Krapps sich. Der Redner strich sich durch sein schwarzes Haar, das vor Schweiß wie angeklebt wirkte.

    Truts warf das Schlagwort »Bereinigung« in die Stille des Raumes. Er wartete die Wirkung ab, um nach einer Atempause die Unternehmensentscheidung zu verkünden. Die Hintergründe zu dem Zwanzig-Prozent-Beschluss.

    Krapps beugte sich vor. Verschränkte die Arme und legte sie auf die Tischplatte. Die anderen Betriebsratsmitglieder folgten seinem Tun. Lauernd, wie Tiger vor dem Sprung. Sie blickten auf den Redner, der mit ruhiger, monotoner Stimme erklärte: »Durch die Verschlankung der Organisations- und Kostenstruktur werden wir weiter die Sachkosten reduzieren. Das schließt einen moderaten, und ich wiederhole, moderaten Personalabbau nicht aus. Durch das Modell der Altersteilzeit und / oder dass freie Stellen nicht neu besetzt werden.«

    Sein letzter Satz, ruhig und wohlwollend vorgetragen, sollte beschwichtigen. Was misslang. Protest formierte sich. Eine Welle der Empörung schlug ihm entgegen. Unbeirrt davon führte er, jetzt in einem schnoddrig-robusten Tonfall, aus: »In den kommenden Monaten wird kein Stein auf dem anderen bleiben. Das kann zu betriebsbedingten Kündigungen führen. Das schmerzt, weil eine große Anzahl der Bereiche sich gut geschlagen haben. Selbst beim Management wird künftig auf eine Ebene verzichtet werden.« Seine Stimme war samten. Die Worte klar. Er lehnte sich mit dem Unterarm auf das Rednerpult. Legte eine seiner einstudierten Unterbrechungen ein, um seine Aussage wirken zu lassen. Rhetorisch geschult, wartete er ab. Erste Unruhe breitete sich aus. Es war die Stimme von Jupp zu vernehmen.

    »Auf eine Managementebene verzichten. Was haben die getan, wenn darauf künftig verzichtet werden kann?«

    Es läuft prima, dachte Karl Krapps und ergriff erneut zu dem vor ihm liegenden Handmikrofon.

    »Herr Dr. Truts, wollen Sie direkt darauf antworten.« Er lehnte sich genüsslich in seinem Stuhl zurück.

    Doch der war zu gewieft. Tappte nicht in die Falle. Kommentierte knapp: »Das heißt nicht, dass die Jobs automatisch wegfallen – Restrukturierungsprogramm.« Er ließ diesen Sammelbegriff unkommentiert.

    Karl Krapps notierte sich diesen Begriff. Ich werde ihn später darauf festnageln, beschloss er. Sah auf und entdeckte, dass sich die Schweißperlen auf der Stirn von Truts verstärkten. Er mustere die Zuhörer. Registrierte, dass viele verständnislos den Kopf schüttelten.

    Truts berichtete, wie es bei seinem Firmeneintritt war. Da hatte es Unternehmensentscheidungen gegeben, die nicht zielgerichtet und erfolgsorientiert waren. Darüber und über anderes schwadronierte er.

    Jetzt fleht er um die Anerkennung seiner Leistung, dachte Krapps.

    Truts fing sich. Kam in der Gegenwart mit der Äußerung an: »Wir haben, um die Allgemeinkosten in den Griff zu bekommen, uns zu diesem moderaten Prozentsatz durchgerungen. Entsprechen jetzt dem Benchmark der Konkurrenz.«

    »Herr Dr. Truts«, es war Karl Krapps, der ihn hier unterbrach, »moderat, und das erwähnen Sie wiederholt, bedeutet, dass jeder fünfte Mitarbeiter seine Anstellung verliert.«

    Pfiffe gellten auf. Andere schrien: »Benchmark, Benchmark.«

    Truts stoppte seinen Vortrag. Wartete ab, dass sich das Gejohle legte. Frau Braun schaltete den Overheadprojektor aus, als müsse sie die Folie zwölf schützen. Behielt ihre leicht gebückte Haltung bei. Sie blinzelte zu ihrem Chef. Wartete auf dessen Kopfnicken zum erneuten Einsatz.

    »Herr Krapps«, Truts wandte sich diesem direkt zu, »ich kann verstehen, dass Sie jetzt in Ihrer Eigenschaft als Vorsitzender des Betriebsrats …«

    »Gesamtbetriebsrats«, unterbrach Krapps, um ihn zu verunsichern.

    »Dass Sie so reagieren! Sie wissen, dass wir ursprünglich von anderen Zahlen auszugehen hatten. Als ich Ihnen und den anderen Mitgliedern des Gesamtbetriebsrates …«, das letzte Wort betonte er genüsslich, »als wir erklären mussten, dass es vor gut einem halben Jahr fünf vor zwölf war …«

    Er beendete den Satz nicht; schaute entspannt und zufrieden ins Publikum.

    »Wir alle sind aufgefordert, das Ruder herumzureißen. Und das Ergebnis, das ich hier präsentiere, ist das mit Ihnen erzielte. Das tragen alle hier versammelten Betriebsratsmitglieder mit. Überdies gibt es nicht nur beim Personal Einsparungspotenziale. Wir werden auf allen Feldern unseres Unternehmens Einschnitte vornehmen.« Er umklammerte mit den Händen seinen Kugelschreiber, um diese ruhig zu halten.

    Frau Braun bediente den Plastikschalter des Overheadprojektors. Eine neue Folie erschien. Der Zwanzig-Prozent-Beschluss war verschwunden.

    Truts blickte herausfordernd zu den Betriebsratsmitgliedern. Wandte sich der Mehrheit im Saal zu. »Das schmerzt die Bereiche, die sich gut geschlagen haben«, setzte er hinzu. Er stutzte und bemerkte, dass er das bereits vorgetragen hatte. Die Folienfolge war nicht richtig.

    Frau Braun wisperte: »Folie dreizehn. Kennziffern.«

    Truts drehte sich um. Sah auf die Leinwand, unter der die Betriebsratsmitglieder saßen. Er entdeckte die neue Folie. Lächelte den Betriebsratsmitgliedern entschuldigend zu. Drehte sich zu den Mitarbeitern.

    »Wir haben uns ausschließlich von sozialen Gesichtspunkten leiten lassen. Wir haben uns intensiv damit auseinandergesetzt. Alle Möglichkeiten berücksichtigt. Wir haben es uns nicht leicht gemacht. Jeden einzelnen Fall haben wir intensiv studiert, untersucht, gesondert betrachtet.« Er wiegte bedeutungsvoll sein Haupt.

    »Ich erwähne Alter, Betriebszugehörigkeit, Familienstatus, Unverzichtbarkeit. Wir haben uns damit intensiv befasst. Das alles ist in unsere Kennziffern eingeflossen.«

    Krapps zählte mit. Drei Mal hatte der Redner das Adjektiv intensiv verwandt! Davon wird sein Vortrag nicht besser.

    In seinen Gedanken hinein rief Jupp, der sich abrupt

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