Wie ich die Holmer Müllerstochter kennenlernte: Psychodynamik einer Begegnung von Kunst und Heimat
Von Ingo Engelmann
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Über dieses E-Book
Ingo Engelmann
Dr. phil, Dipl.-Psych., geb. 1951. fast vierzig Jahre psychiatrischer Tätigkeit als Psychotherapeut und Musiktherapeut. Fotograf und Publizist.
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Buchvorschau
Wie ich die Holmer Müllerstochter kennenlernte - Ingo Engelmann
Erna Oehlke, Tochter des Holmer Müllers, ca. 1924
Für Linda
Inhalt:
Vorwort
Erstens: Zur Geschichte der Holmer Mühle
Zweitens: Die Mühle und ihre Zeit
Mühlen im Lebensraum
Mythos Mühle
Mühle und Müllerin in Kunst und Literatur
Gender-Handwerk
Vom Mühlenhandwerk zur Industrie
Drittens: Die Müllerin und der Fotograf
Die Annäherung an die Müllerin
Verbindungen nehmen zu
Feste und Traditionen
Holm und die Welt
Gegenübertragung verbindet Vergangenheit und Gegenwart
Der künstlerische Prozess
Bilder und Worte: Ein Irrweg
Die Musik der Müllerin
Viertens:Die Ausstellung
Fünftens: Die Kunst des Lebens
Geschichte der Eigenheit
Das Fremde in mir
Fremdheit, Traumdeutung, Unbewusstes
Glossar
Anhang
Literatur
Verzeichnis der Abbildungen und Musikstücke
Der Autor
Vorwort
Am Anfang stand ein Foto. Fast hundert Jahre alt war es, und es zeigte die Tochter der Müllersleute Oehlke aus der Holmer Mühle bei Buchholz. Im Jahr 2018 sollte die jährliche Kunstausstellung in der Mühle, die seit langem regelmäßig ausgerichtet wurde, nicht nur Kunst in die Mühle bringen, sondern die Mühle selbst und die, die dort gelebt hatten, zum Gegenstand der Kunst machen. Vor allem sollte es um die Frauen gehen, die in nahezu jedem Mühlenbetrieb eine tragende Rolle gespielt hatten, aber traditionell kaum beachtet worden waren. Ich wurde gefragt, ob ich als Fotograf mich an der Ausstellung beteiligen wolle. Das interessierte mich.
Mich beschäftigte vor allem das, was wir von der Müllerin und ihrer Tochter auf dem Foto nicht wussten: wofür sie sich interessiert hatten, wie sie sich selbst und die Welt erlebten, wonach sie sich ganz bewusst oder mehr unterschwellig gesehnt hatten. Wie mochte das Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen sein?
Zunächst lernte ich vieles über Mühlen im Allgemeinen und die Geschichte der Holmer Mühle. Ich durchsuchte Lieder und Texte, las Romane und versetzte mich so ansatzweise in eine Welt, die ich nie kannte. Dann fand ich überraschend viele Berührungspunkte zu meiner eigenen, ganz anders verlaufenen Biografie. Das führte zu intensiverer Auseinandersetzung mit psychoanalytischen Instrumenten, die ich aus meiner Berufstätigkeit kannte und die vieles vorstellbar und nachspürbar machten, was ich selbst nicht erlebt hatte.
So fand ich zu einer Sichtweise, die über die Mühle und die Müllerin hinaus vieles erhellte, was mich selbst schon lange beschäftigt hatte. Das Eigene und das Fremde begegneten mir immer wieder, wie schon häufiger in den letzten Jahren (Engelmann 2016). Die Müllerin hat mir dazu verholfen, ein paar spannende Fragen neu zu stellen und neue Antworten zu versuchen. Das führt mitten hinein in das Spannungsfeld von Kindheit, Spiel, Traum und Kunst, und von dem Prozess möchte ich berichten.
Buchholz, Juli 2019
Ingo Engelmann
Erstens
Zur Geschichte der Holmer Mühle
Wassermühlen klappern im heutigen Landkreis Harburg seit über achthundert Jahren. Man kann das urkundlich bis mindestens in das Jahr 1200 zurück verfolgen (Borstelmann 1935). Bei diesem Kunstprojekt geht es speziell um die Holmer Mühle im südlichen Zipfel der heutigen Stadt Buchholz. Die Holmer Mühle wurde für den Winsener Amtmann von Hodenberg gebaut, als er 1567 das Dorf Holm in ein Rittergut umgewandelt hatte und ein erstes Gutshaus errichten ließ. Um 1580 entstand dann die Kapelle auf dem Gutshof, heute das älteste noch original erhaltene Gebäude auf dem Gebiet der Stadt Buchholz.
Gut Holm (2018)
Die Mühle war Zwangsmühle (G1)¹ für die Dörfer Holm, Handeloh, Höckel und Wörme, das heißt die Bauern aus dieser Gegend mussten ihr Mahlgut nach Holm bringen und durften nicht in Seppensen, Dierkshausen oder Bendestorf mahlen lassen (und schon gar nicht selbst auf ihrem Hof). Das tatsächliche Einzugsgebiet der Holmer Mühle erstreckte sich aber wohl darüber hinaus bis weit in die Lüneburger Heide. Dass Bauern auf eine Mühle „gebannt wurden, d.h. dort mahlen lassen mussten, war seit dem Mittelalter eine Festlegung der Obrigkeit. Es gab Mühlen, die keinen Bann hatten und daher keine regelmäßigen „Zwangs-Kunden
, wie beispielsweise die vom Stift Ramelsloh erbaute Mühle in Horst. Diese Mühlen waren dann noch stärker als die Zwangsmühlen darauf angewiesen, Nebenverdienste zu schaffen: Ausschank von Bier und Branntwein, Fischerei, Imkerei usw. Diese Bereiche waren ihrerseits mit Gerechtsamen (G2) belegt, es war also festgelegt, wer welche Rechte wahrnehmen durfte.
Die erste urkundlich nachzuweisende Erwähnung der Holmer Mühle stammt aus dem Jahr 1615 (Kegel 1983). Der Bendestorfer Müller Tamke erstattete Anzeige und beklagte sich bei der Winsener Obrigkeit über die Bevorzugung der Holmer Mühle. Tamke warf „den Harburgern" vor, lieber nach Lindhorst oder Holm zu fahren als zu ihm nach Bendestorf. Solche Eingaben gab es eher häufig, und meist blieben sie ohne Konsequenzen. Bei der behördlichen Würdigung spielten auch andere Faktoren eine Rolle als nur die oft über den Preis beeinflusste Nachfrage: Wie war der Müller beleumdet? Hielt er seine Mühle gut instand? Mahlte er feines, weißes Mehl oder blieb es grau und spelzig? Zahlte er seine Steuern regelmäßig?
Holmer Mühle (2018)
Die Gutsherren Hodenberg bzw. durch Einheirat später Schenk von Winterstedt bewirtschafteten auch weitere Ländereien und die Mühle in Lindhorst. Außerdem übernahm das Gut Holm später auch noch die Mühle in Schmalenfelde bei Marxen (Borstelmann 1935). Bis weit in die Heide (z.B. Undeloh, in: Reins, 1967) waren Höfe dem Holmer Gut zehntpflichtig (G3). Das Holmer Rittergut war mithin ein recht ansehnliches Anwesen.
In Kirchenbüchern findet man immer Angaben über Besitzverhältnisse, Erwerb von Flächen und alles, was in einer Kirchvogtei so von Bedeutung ist. In den Jesteburger Kirchenbüchern ist allerdings nur festgehalten, dass die Holmer Mühle rechtsseitig der Seeve liegt und somit zum Kirchspiel Jesteburg und zum Amt Winsen gehört.