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Erschütterung: Ein stadthistorisches Drama - Detmold 1917
Erschütterung: Ein stadthistorisches Drama - Detmold 1917
Erschütterung: Ein stadthistorisches Drama - Detmold 1917
eBook306 Seiten4 Stunden

Erschütterung: Ein stadthistorisches Drama - Detmold 1917

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Über dieses E-Book

Im Jahr 1916, also mitten im Ersten Weltkrieg, ließ sich der Barmener Fabrikant Walter Kellner in Detmold nieder, um hier, unterstützt von den politischen Entscheidungsträgern, mit einer Munitionsproduktion zu beginnen.
Die Aussicht auf Arbeitsplätze und vor allem auf Profit ließen die Lippische Staatsregierung und das Fürstenhaus Dank der Spendenfreudigkeit Walter Kellners über manche Stolpersteine hinwegsehen.
Kellner übernahm das baufällige Gebäude einer stillgelegten Möbelfabrik in der Elisabethstraße, mit kurzem Transportweg zum Bahnhof, die er in eine Munitionsfabrik umrüsten ließ.
Diese Fabrik betrieb er unter Missachtung sämtlicher Sicherheitsbestimmungen, so dass sie am 31. Mai 1917 um 13.31 Uhr explodierte und 72 Todesopfer forderte.

Dieser Roman erzählt die Geschichte dreier fiktiver Detmolder Familien - aus der Oberschicht, dem Bürgertum und dem Arbeitermilieu - die schicksalhaft miteinander verbunden sind, rund um die Ereignisse des Unglückes.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum10. Nov. 2020
ISBN9783752614572
Erschütterung: Ein stadthistorisches Drama - Detmold 1917
Autor

Reiner Woop

Reiner Woop, Regisseur, Bühnencoach und Autor, seit über 40 Jahren "im Geschäft", gebürtiger Detmolder, schreibt Komödien und Dramen für die Bühne. Die Liebe zu seinen Figuren hat ihn veranlasst, einige seiner Bühnenstücke in Romanform neu aufleben zu lassen. Dies gestaltet er sehr frankophil in seiner "Paris-Trilogie" . Siehe auch "Geronimo" und "Zimmer zu vermieten".

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    Buchvorschau

    Erschütterung - Reiner Woop

    Mein besonderer Dank geht an Stefanie Zeuner,

    für ihre ausgezeichnete Unterstützung.

    Inhaltsverzeichnis

    Dies am Rande …

    Jürgen und Renate

    Beerdigung

    Im Hause Möller

    Kottmanns

    Steckrüben

    Elisabethstraße

    Schokolade

    Alles neu…

    Frische Luft

    Freundinnen

    Gewissen

    Apotheke

    Tausch

    Abendmahl

    Vorlauf

    Erschütterung

    Seelennot

    Rekapitulation…

    Was wurde aus den Überlebenden?

    Dies am Rande …

    Der Verfasser dieser Erzählung nimmt sich die Freiheit, darauf hinzuweisen, dass sie nicht als Geschichtsunterricht, Tatsachenbericht oder gar der Aufklärung dient. Vielmehr ist sie eine Liebesgeschichte. Ein Drama. Ein Drama über drei Familien aus grundverschiedenen gesellschaftlichen Schichten. Sie „lebten" in der Zeit des größten Unglücks der jüngeren Stadtgeschichte Detmolds, das sich im Ersten Weltkrieg, am 31. Mai 1917, in der Mittagszeit gegen 13.31 Uhr abgespielt hat.

    Gespickt ist die Erzählung sehr wohl mit historischen Daten und Fakten, vermischt aber mit Fiktion. Eine sogenannte historische Fiktion also. Und eine Liebeserklärung an die Stadt selbst.

    Die Namen der Familien und handelnden Menschen sind frei erfunden. Jede Übereinstimmung mit damals Lebenden oder deren Nachkommen wäre also rein zufällig. Einzig der Fabrikant Kellner und Staatsminister Biedenweg sind als historische Personen in die historische Fiktion eingebunden.

    Wenn man auf der Landkarte eine Linie zieht, angefangen von Paderborn nach Osnabrück, von dort nach Minden, von dort weiter nach Hameln, um sie wieder in Paderborn enden zu lassen, dann entsteht das Bild eines etwas zu schief geratenen Trapezes, dieser geometrischen Figur. Irgendwo da innerhalb befand sich das Fürstenthum Lippe. Oder wenn man es topographisch fixieren wollte: eingekesselt. Aber freundlicher ausgedrückt sollte es doch besser heißen: eingerahmt. Eingekesselt hört sich sofort nach Feldherrenhügel an, und lässt auf gewiefte militärische Manöver schließen; darum also eingerahmt. Obwohl unsere Geschichte doch unvermeidlich von militärischen Einflüssen tangiert wird, denn sie beginnt kurz nach Anfang des Ersten Weltkrieges. Aber soweit sind wir noch nicht.

    Eingerahmt also vom Teutoburger Wald, vom Wiehengebirge und vom Weserbergland. Auf dem Lippischen Abschnitt des Teutoburger Waldes befindet sich die Grotenburg, die höchste Erhebung im Gelände über einem Dörfchen namens Hiddesen. Ein Berg also und nicht wie irreführend angenommen, eine Burg. Auf diesem sehr dicht bewaldeten Berg Grotenburg erhebt sich stolz das berühmte Hermannsdenkmal, von 1835 an erbaut von Ernst von Bandel und 1875 unter großer Beachtung des ganzen Landes eingeweiht von Kaiser Wilhelm I. persönlich. Das Denkmal ist aus allen Himmelsrichtungen aus der Ferne gut auszumachen, so hoch liegt die Grotenburg. Hermann, der Cheruskerfürst reckt stolz sein Schwert in die Lüfte und blickt in das Tal westlich, in dem er angeblich 9 nach Chr. die Römer verdroschen haben soll.

    Unterhalb der Grotenburg liegt Hiddesen und wenn man so will, liegt unterhalb von Hiddesen die Landeshauptstadt des Fürstentums: Detmold. Darin zentral das Schloss, bis 1895 Sitz derer zu Schaumburg-Lippe. Weil nach dem Tode Fürst Woldemars, der 1895 kinderlos starb, der als Nachfolger in Frage kommende Bruder Alexander wegen Geisteskrankheit entmündigt war, kam es zum Streit um die Erbfolge mit derer zu Lippe-Biesterfeld. Und da es im Volksmund immer heißt, die sind sowieso alle miteinander verwandt, gemeint ist der Adel, war dies im besten Sinne eine Familienfehde. Die Rose gehört, nebenbei, ins Lippische Wappen. Ein Lippischer Rosenkrieg also, der 1897 zu Gunsten der Biesterfelder von einem Schiedsgericht unter König Albert von Sachsen entschieden wurde.

    Seitdem dürfen die den Fürsten stellen. Alexander war notabene der zweite bekannte Fall von Entmündigung in Folge von Geistesschwäche in der Schaumburger Linie. Viel früher nämlich zeigte Fürst Leopold I in 1790 ähnliche Symptome und wurde entmündigt – was später zwar teilweise aufgehoben wurde – was aber seine Frau, die Fürstin Pauline in die Historie des Fürstentums spülte und sie zu einer der bedeutendsten Herrscherinnen Lippes machte.

    In ihrer sozialen Haltung ihrer Zeit weit voraus, war sie durchaus ein Vorbild. Sie ließ Waisenhäuser und Kindergärten errichten. Und sie sorgte für die Gründung der Fürstlich Lippischen Hofkapelle, quasi den Vorgänger des heutigen Orchesters des Landestheaters.

    Es gibt Leute, die sagen, die Besetzung des Fürstenthrons in Lippe sei immer schon eine turbulente Veranstaltung gewesen. Man hätte das auch ausschießen können, wie auf einem Schützenfest. Aber keine Angst, dies wird kein Geschichtsunterricht. Wir sind lediglich dabei, uns umzuschauen.

    Vor dem Schloss der Schlossgarten, vor dem Schlossgarten das Landestheater, das 1912 den Flammen zum Opfer fiel, von Leopold IV. aber schnell wieder aufgebaut wurde. Um das Schloss herum, ein Wassergraben, der es absichern soll vor Feind und Untertan. Neben dem Schloss die Marktkirche, die wohl bereits im Jahre 800, als Detmold noch Theotmalli hieß, errichtet wurde. Daneben das „neue" Rathaus, welches zwischen 1828 bis 1830 nach Plänen des Landbaumeisters Kühnert aus Rinteln an der Stelle des alten, abgerissenen Rathauses, das noch Hühner- und Kuhstall beherbergte, errichtet wurde. Kein Gebäude, bei dem man unbedingt in verzückte Aah- und Ooh-Rufe ausbrechen müsste, durch sein Säulenportal, welches Kühnert auf der davor befindlichen Freitreppe installierte, aber diesen gewissen Charme besitzt, dem man sich nur schwer entziehen kann.

    Vor dem Rathaus der behaglich-einladende und idyllische Marktplatz mit seinen schattengebenden Linden und dem Donopbrunnen, der seit 1902 ziemlich in der Mitte des Platzes steht. Obenauf die in Bronze gegossene Quellnymphe des sanft plätschernden Baches Berlebecke, welcher, in Detmold angekommen, Knochenbach heißt. Irgendwelche Spaßvögel in der Verwaltung der Stadt wollten Anfang 1940 den Brunnen – dessen Errichtung im Übrigen damals stolze sechstausend Taler kostete – abreißen lassen, was eine Bürgerinitiative aber zu verhindern wusste. Aber auch das nur am Rande.

    Direkt am Marktplatz entlang die Lange Straße mit teilweise geschichtsträchtigen, prachtvollen Häusern aus der Weserrenaissance, Bürgersteig und Straßenbahnschienen. Mitunter fuhr schon mal mit viel Getöse eine dieser neumodischen, stinkenden Benzinkarossen vorbei, wobei ein jeder stehen blieb und staunend hinterher gaffte.

    Als Kleinstaat hatte das Fürstenthum Lippe selbstverständlich eine Regierung. Der Regierende Fürst hieß seit 1904 Fürst Leopold IV, Sohn des Ernsts zu Lippe Biesterfeld. Von Kaiser Wilhelm II. weder gemocht noch geschätzt, der hätte viel lieber seinen Schwager Prinz Adolf zu Schaumburg-Lippe an dessen Stelle gesehen, aber nun ja, die Biesterfelder …, soll er angeblich gedacht haben. Lassen wir es dabei.

    Kulturell war das Fürstentum sicher das, was man einen Magneten nennen durfte, zog es doch später so prominent gewordene Künstler und Musiker wie Lortzing, Brahms, Klara Schumann an, die damals alle am Anfang ihrer Karriere standen. Oder die Schriftsteller- und Frauenrechtlerin Malwida von Meisenbug.

    Politisch allerdings ging unser Fürstentum eher in der Bedeutungslosigkeit unter. Es war von 1816 bis 1866 Teil des Deutschen Bundes, ab 1866 Mitglied im Norddeutschen Bund und ab 1871 Teil des Deutschen Kaiserreiches. Die mächtigste Landesbehörde war das Staatsministerium, dem die höheren Verwaltungs- und Justizbehörden untergeordnet waren. Staatsminister war seit 1913 Karl Ludwig von Biedenweg, ein aus Hannover stammender durch und durch preußischer Jurist.

    Im Grunde war Detmold eigentlich – nach heutigen Maßstäben – ein größeres Dorf, umgeben von vielen kleineren Dörfern, Gütern und Gehöften. Aber als Sitz der Grafen und Fürsten trug der Ort bald die Bezeichnung Residenzstadt. Aber auch das nur am Rande. Was hier geschehen ist, darum soll es gehen.

    Unsere Geschichte beginnt, wie gesagt, irgendwann nach Beginn des Ersten Weltkrieges, im Sommer 1915, zu einer Zeit also, in der man dem Residenzstädtchen Detmold ohne weiteres noch das Prädikat „idyllisch" beglaubigen konnte.

    Zuvor hatte sich die politische Lage rund um das Kaiserreich angespannt. Allianzen hatten sich verschoben oder wurden neu gestaltet. Wegen des als Auslöser des Ersten Weltkrieges bekannt gewordenen Mordes von Sarajewo wurde Österreich quasi ein Blankoscheck ausgestellt. Und mit ausgekochten Argumenten drehte man die Wahrheit solange um die eigene Achse, bis sie zum Angriff taugte, nach Ost und West.

    Die Bevölkerung, zu Beginn darüber frenetisch jubelnd, war vom Kriegsgeschehen selbst nicht direkt betroffen, spürte aber die Wirkungen hinein bis ins Mark. Es kam zu Versorgungsengpässen, dazu gesellten sich Missernten, die zu Hungersnöten führten und zu dem berühmten Steckrübenwinter.

    Und, dies sei noch explizit erwähnt, ein neuer lippischer „Volkssport hielt Einzug: Das Brennen von Wacholderschnaps, welches so gut wie jeder zweite Haushalt beherrschte. Dieser Fusel diente als Daunendecke bei kurz- oder langfristigen Sorgen, von denen es zu der Zeit reichlich gab. Es gibt Erzählungen, dass „zu jener Zeit halb Lippe angeheitert durch die Gegend lief. Nun ja, Erzählungen halt. Die Krise verschärfte sich. Das sogenannte Hindenburg-Programm, davon hören wir später noch, tat sein übriges. Unter anderem sah es vor, in Deutschland flächendeckend Munitionsfabriken zu errichten. So geschehen auch in Detmold.

    Jürgen und Renate

    Lippe-Detmold, eine wunderschöne Stadt, darinnen ein Soldat. Und der muss marschieren in den Krieg, und der muss … Wieso geht mir ausgerechnet jetzt dieses blöde Lied nicht aus dem Kopf, dachte Jürgen. Jetzt! Die Lippische Nationalhymne. Die Lippische Nationalhymne, wiederholten seine Gedanken ironisch, jede Silbe komplett auskostend. Unwillkürlich huschte ein schalkhaftes Lächeln über seine Lippen.

    Er stand an diesem schönen Donnerstagmorgen, am 17. Juni 1915, auf der Treppe des Hauses der Heeresleitung, in dem die Abteilung für Frontdienstbefreiung untergebracht war. Er grübelte, hatte er doch gehört, dass diese „Zeremonie", also die Aushändigung der Befreiung vom Frontdienst, ein wahrer Spießrutenlauf sein sollte. Dass man ihn zuvorkommend und höflich behandelt hatte, war wohl der Tatsache geschuldet, dass er der Sohn war von Stadtrat Friedrich Möller und seiner Gattin Hedwig, geborene von Breitenbach. Die Tochter des Majors von Breitenbach, der durch einen Schuss in den Unterleib 1870/71 sein Leben ließ. Das hatte Gewicht. Und zudem noch ein Attest des renommieren Bielefelder Arztes Dr. Richard Krüger vorlegen konnte, der ihm eine veritable Lungenschwäche bestätigte.

    Wieder entfuhr ihm dieses böse, spöttische Lächeln. Er, Jürgen Möller, Fußballer aus Leidenschaft beim FC Teutonia Detmold und Lungenschwäche! Da lachen doch die Hühner. In der Tat ginge Jürgen ohne weiteres als Siegfried-Darsteller durch. Er war ein Hüne, wie seine Mutter immer zärtlich über ihn sprach, wenn sie mit ihm aufschneiden wollte. 18 Jahre alt, 188 cm groß, muskulös, durchtrainiert, dunkelblond, blaue Augen, Abitur in der Tasche, 100 m in 11,6 Sekunden, tadellose Umgangsformen und ein Lächeln, bei dem jede Schwiegermutter Tränen in die Augen bekam und jedes Mädchen Schmetterlinge in den Bauch. Er gehörte zu jener Sorte junger Männer, die ohne eigenes Zutun von mehr oder weniger aufdringlichen Sympathien aller Art geradewegs umgerannt wurden.

    Und so einem stellte dieser Dr. Krüger ein Attest aus, das ihn vom Frontdienst befreit? Natürlich hatte das, wie alles andere auf der Welt, wie Friedrich Möller, sein Vater, immer zu sagen pflegte, seinen Grund. Und dieser Grund lag darin, dass der junge Stadtrat Friedrich Möller dem ehemaligen Studienkollegen Dr. Richard Krüger, seines Zeichens Lungenspezialist, einst eine Baugenehmigung für ein strotzendes Anwesen am Hiddeser Berg verschafft hatte, die in dieser Form niemals die Ausschüsse hätte passieren dürfen.

    Jürgen schüttelte den Kopf. Eine Krähe wäscht der anderen die Hand, so sann er. Nun denn. Es kam ihm nicht ungelegen, so war das nicht. Im Gegenteil. Er hätte wohl selber Kopf und Kragen riskiert, dem Frontdienst zu entkommen. Notfalls durch Verweigerung. Dass es nun auf diese kuriose Weise zustande kam, nahm er achselzuckend in Kauf.

    Er hatte sich nämlich in vielen Diskussionen mit dem Pfarrer des Ortes, Johannes Pfahl, den er liebevoll, wie im Grunde jeder in Detmold, Bruder Pfosten nannte, zu einem wahrhaftigen Kriegsgegner entwickelt. Obwohl der Herr Pfarrer, wie überhaupt die gesamte Evangelische Kirche, eher zu den Kriegstreibern gezählt werden musste. Allen voran der Generalsuperintendent Weßel. Aber das war ein Thema für sich, entschied Jürgen.

    Pfahl konnte, wenn er die nötige Menge Wacholder intus hatte, in bestechender Weise philosophieren. Da wo andere anfingen, mit schwerer Zunge zu reden, sprudelten aus ihm die Gedanken, so klar wie die Berlebecker Quellen. Glasklar. Und so einer muss im Kirchenmief versauern, bedauerte Jürgen ihn. Jedoch: Ohne jegliche Ambition versah Pfahl seinen Dienst und der Alkohol verhinderte jeden weiteren Aufstieg innerhalb der Hierarchie der Kirche in Lippe. Er war vor Detmold einer, den man dauernd hin und her schob. Er war geduldet, nicht mehr und nicht weniger. Von der Gemeinde, von seinen direkten Vorgesetzten und vom Kirchenoberhaupt, dem Fürsten Leopold IV. in persona. Eigentlich Potentialverschwendung. Eigentlich ein armes Schwein, dachte Jürgen.

    Aber bei ihm und durch ihn hatte er gelernt zu differenzieren. Sein Vater betrachtete Jürgens Besuche bei Pfahl stets mit Wohlwollen. Immerhin waren sie mal Schulfreunde gewesen und waren auch jetzt noch dicke miteinander, wie man so schön sagt. Dieses Wohlwollen hätte sicher ein anderes Gesicht gehabt, wenn der Stadtrat über den Verlauf der Debatten zwischen Jürgen und Pfahl informiert gewesen wäre.

    Denn durch Pfahl kam Jürgen in den Genuss, Karl Marx zu lesen, Heinrich Heine, Hegel und Lasalle. Heimlich natürlich. Du liebe Zeit, wenn seine Eltern gewusst hätten … Aber dass einer mit so einem Hintergrund wie Pfahl ihn besaß, ein kaisertreuer Kriegsbefürworter ist …? Wie passt das? Ach, was soll´s?

    So entwickelte Jürgen jedenfalls sein eigenes Weltbild. Und in dem hatten weder Kaiser noch Fürst noch Standesunterschiede Platz. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Worte, deren Inhalt ihn begeisterte. Es konnte doch nicht sein, so war seine Vorstellung, dass nur er mit dieser Anschauung durchs Leben ging.

    Durchaus nicht. Denn da gab es die Sozialdemokraten. Und mit denen sympathisierte er, sehr zum Groll seines Vaters. Immer öfter zog es Jürgen zu den Treffen jener Gleichgesinnten, was er natürlich nicht mehr verborgen halten konnte. Und das führte immer mehr zum Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn, das in endlosen Auseinandersetzungen die häusliche Atmosphäre zum Zerschneiden dick machte. Nicht andauernd, das musste man beiden zugestehen. Mit Rücksicht auf Ehefrau und Mutter Hedwig zog ohne konkrete Absprache immer wieder so etwas Ähnliches wie Burgfriede ein. Und letztendlich, dachte Jürgen, brachte es mir die Frontdienstbefreiung.

    Nun ja, und dann gab es da noch diesen einen, gleichwertigen, man könnte durchaus sagen, übergeordneten Forschungsgegenstand. Nämlich das andere Geschlecht. Und die Liebe. Oder das, was man in jugendlicher Unbekümmertheit dafür hielt.

    Sowohl das eine wie das andere Phänomen kreuzte vor einigen Wochen Jürgens Weg beim Tanz in den Mai im Dreierkrug in Spork Eichholz. Und zwar in Gestalt der 17-jährigen Renate Kottmann. Und das war nicht übertrieben, denn Renate war in der Tat ein Phänomen. Sie war kein Kind mehr. Aber auch noch keine Frau. Obwohl man leicht der Annahme hätte verfallen können, betrachtete man nur ihre äußere Erscheinung. Nicht überaus gebildet, aber auch nicht auf den Kopf gefallen, verfügte sie, auf eine angenehme und absolut liebenswerte Weise, das musste man unbedingt dazusagen, über ein gehöriges Maß an Durchsetzungskraft.

    Renate hatte die Pubertät ohne arge Kratzer hinter sich gelassen. Das war schnell vorbei. Was ihr zu schaffen machte, waren drei Dinge. Da war zunächst der schnelle Tod ihres Vaters, der begeistert, mit vielen fremden Kameraden Lieder schmetternd auf dem Detmolder Bahnhof in den Zug zur Front gestiegen war. Da hatte Renate zum ersten Mal geweint. Und Eva, ihre Mutter, natürlich auch. Aber anders als Renate. Anna, von allen nur Oma Kottmann genannt, war zu Hause geblieben, um Heinrich, ihren kranken Mann zu pflegen. Heinrichs linker Arm war ihm im Krieg 1870 einfach weggeschossen worden, so erzählte er immer. Und nun, inzwischen 81 Jahre alt, begannen die Organe ihren Dienst zu versagen. Das zweite Mal weinte Renate, als die Nachricht eintraf, ihr Vater sei gleich bei der ersten Angriffswelle gefallen.

    Doch was sie im Moment zermürbte, waren diese grundlosen Anfeindungen ihrer Großmutter. Die ließ kein gutes Haar an ihr. Egal, was Renate tat, es war nicht richtig. Und es ärgerte sie, dass Anna, ihre Großmutter, Eva, ihre Mutter herumkommandierte, als sei die ihre Dienstmagd. Dabei schuftete Eva von morgens bis abends, hatte mehrere Putzstellen und wusch die Wäsche für das Lazarett in der Hornschen Straße, während Renate eine Stelle als Näherin in der Nähstube Biere bekommen hatte.

    Renate nun war mit Doris Lehmeier befreundet, der Apothekerstochter. Sie gaben gewissermaßen ein ungleiches Paar ab. Doris wirkte selbständiger, reifer und oftmals kalkulierender als Renate. Was diese allerdings durch Offenheit, Fleiß und Zuverlässigkeit wettmachen konnte, ohne dass diese Umstände von ihnen beiden wahrgenommen wurden.

    Während Renate die Volksschule beendet hatte und arbeiten ging, oder gehen musste, um einen Beitrag zum Haushalt zu liefern, baute Doris gerade ihr Abitur im Lyzeum am Wall. Und dennoch: Sie hingen und gingen zusammen. Zum Turnen, sie spielten miteinander, was Heranwachsende eben spielten und machten viele Wanderungen, wann immer die Gelegenheit dazu gegeben war, wobei sie sich gegenseitig träumerisch ihre Zukunft ausmalten.

    Und Justus Lehmeier, der verwitwete Apotheker, Doris` Vater also, der nahm sie beide – mit Evas Erlaubnis selbstverständlich – mit zum Tanz in den Mai nach Spork Eichholz in den Dreierkrug.

    Nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung und Jürgens Aura zu Folge war es wohl nur zwangsläufig, dass Renate und Jürgen sich dort begegneten. Und auch Doris konnte sich von Jürgens gewinnendem Wesen überzeugen. Nur musste diese Überzeugung schnell dem Andrang etlicher Tänzer mit unterschiedlichen Absichten weichen, weil Doris alles andere als ein hässliches Entlein war. Justus Lehmeier hatte seinen Platz inmitten einer fröhlichen Schar lustiger Witwen gefunden und begann bereits mit der Sondierung.

    Jürgen und Renate hatten derweil schon fidel einige Tänze aufs Parkett gelegt, zur der einige Mitglieder der Feuerwehrkapelle, die sich als Tanzorchester zusammengeschlossen hatten, aufspielten. Jürgen, schweißüberströmt, zog Renate durch das Getümmel nach draußen in den mit Linden bepflanzten Hof, der allerdings schon von allerlei jungen Paaren, die emsig miteinander beschäftigt waren, bevölkert wurde. Er ging mit ihr in der kleinen Gasse nebenan auf und ab und sie schwiegen sich aus, ihren Gedanken nachhängend und diese sonderbare, köstliche, wohltuend prickelnde Stimmung genießend, von dem Wunsch beseelt, den anderen in den Arm zu nehmen und wenigstens einmal zu küssen. Aber jene Mischung aus Scheu, Unerfahrenheit und Angst vor unbekannten Konsequenzen hielten sie davon ab.

    Irgendwann brachte Jürgen Renate nach Hause, zu der kleinen, renovierungsbedürftigen Kate unten an der Werre, unweit des Dreierkruges. Und auch hier vor der Haustür, hinter der bereits alles fest schlief, wagten sie sich nicht übers Händchen halten hinaus. Sie schlich sich auf leisen Sohlen ins Haus, während sich Jürgen solange im Rückwärtsgang vom Haus entfernte, bis es von der Dunkelheit verschluckt wurde.

    Hab ich jetzt alles richtig gemacht, fragte er sich im Stillen. Er wusste nicht, warum er plötzlich rannte. Er rannte los mit einem von ihm vorher nicht gekannten Glücksgefühl. Von Spork Eichholz an den Kuhkämpen entlang, am Werrestau vorbei, der mehr oder weniger provisorisch angelegten Badeanstalt, gefüllt mit Fröschen und Wasserratten, dann über die neu geschaffene Leopoldstraße, hinein in die Schülerstraße bis auf den Marktplatz in Detmold, so als hätte er Flügel. Er setzte sich keuchend auf den Rand des Donopbrunnens. Die Linden strömten ihren süßen Duft aus. Machen die das immer so oder nur heute, überlegte Jürgen. Er atmete heftig. Erst mal ausschwitzen, dachte er und tauchte seinen Kopf in das angenehm kühle Wasser des Brunnens. Er blieb noch einen Moment beseelt sitzen. Dann, nach einer Weile, ging er ins Rathaus, nach oben, in die Dienstwohnung des Stadtrates. Dort schlich er auf Zehenspitzen in sein Zimmer und warf sich aufs Bett. Das Dumme war, er konnte nicht einschlafen.

    Unterdessen, in 3 Kilometern Entfernung, spielte sich in Renates Zimmer ein ähnliches Szenario ab. Ob er mich hässlich findet, grübelt sie fast schon verzweifelt. Warum wollte er mich denn nicht küssen? Er muss mich hässlich finden. Oder bin ich ihm nicht gut genug? Natürlich wusste sie, dass Jürgen der Sohn des Stadtrates war. Aber dann hätte er doch nicht mit ihr getanzt und hätte sie nicht auch noch nach Hause gebracht. Dass solcherlei Gedanken überflüssig waren, bewies die konfuse Aufgeregtheit Evas, von der Renate am Morgen danach unsanft geweckt wurde.

    „Renate! Wach auf. Was hast du angestellt?"

    „Wieso? Was hab ich denn angestellt?"

    „Das will ich von dir wissen."

    „Ja, dann sag mir doch endlich, was los ist", murmelte Renate, noch gar nicht auf der Höhe des Geschehens.

    „Was los ist? Es ist zehn Uhr durch und da draußen steht der Sohn des Stadtrates. Er will dich abholen, jammert Eva aufgelöst. „Was hast du angestellt?

    Renate sprang mit einem Satz aus dem Bett und direkt ans Fenster. Sie schob die Gardine leicht zur Seite und sah Jürgen mit seinem Fahrrad auf dem Hof stehen. Ihr Herz begann zu hüpfen, zu rasen und zu drehen wie ein Kreisel, den man mit der Peitsche antreibt.

    „Ja", jauchzte sie.

    „Ja? Das ist alles, was du dazu zu sagen hast?, stammelte Eva konsterniert. „Da steht der Sohn des Stadtrates und du sagst ja?

    Renate raste im Zimmer auf und ab, riss den Kleiderschrank auf, zog eine Schublade nach der anderen aus der Kommode und warf Kleidungsstücke durch die Gegend.

    „Was soll ich denn sonst sagen? Wo sind meine Sachen? Ist noch was von dem Streuselkuchen da? Und stell mir ´ne Flasche Apfelsaft hin. Sag ihm, er soll bloß nicht wegfahren. Sie setzte sich erschöpft aufs Bett. „Ich Idiot, wie konnte ich das vergessen?

    „So, jetzt mal langsam, fand Eva zurück in die Spur. „Du machst dich erst mal startklar, dann ziehst du dich an, ich schneide den Kuchen in Stücke. Und solange kann der junge Mann sich auf die Gartenbank setzen. Ich bringe ihm ein Glas Wasser. Und dann?

    „Dann machen wir eine Radtour zur Silbermühle. Und jeder hat ein bisschen Proviant dabei, antwortete Renate überglücklich. „So, und jetzt muss ich mich beeilen. Sag ihm, ich komme gleich.

    Dies war der Beginn einer intensiven Freundschaft oder besser Beziehung zwischen zwei Kindern verschiedenartiger Welten.

    Beerdigung

    So ein Unsinn, überlegte Jürgen, was Bruder Pfosten da erzählte. Unsere Heimat ist der Himmel, an der Seite Gottes. Dann muss es da ja nur so wimmeln von glücklichen Seelen. Er senkte den Kopf, damit niemand merkte, wie er grinste. An der Seite Gottes, brütete er vor sich hin. Da hat sich bestimmt allerhand angehäuft, seit der den Laden führt. Von Kaiser Augustus bis Königin Viktoria. Von Gesocks und Gesindel über Soldaten aller Kriege bis heute. Ein Getümmel. Wahrscheinlich müssen die anbauen, da oben. Er schaute in den Himmel, der unerbittlich die Schleusen geöffnet hatte. Und das schon seit Wochen. Trotzdem, schmunzelte er in sich hinein: Dann baut mal schön an.

    Er seufzte gelangweilt. Hoffentlich macht Bruder Pfosten nicht wieder so viel Blah-Blah.

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