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Kiel Hofkapellmeister - Die Fürstlich Lippische Hofkapelle oder: Was wollte Brahms in Detmold?
Kiel Hofkapellmeister - Die Fürstlich Lippische Hofkapelle oder: Was wollte Brahms in Detmold?
Kiel Hofkapellmeister - Die Fürstlich Lippische Hofkapelle oder: Was wollte Brahms in Detmold?
eBook544 Seiten6 Stunden

Kiel Hofkapellmeister - Die Fürstlich Lippische Hofkapelle oder: Was wollte Brahms in Detmold?

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Über dieses E-Book

Alles dreht sich um Musik, Orchester und Politik. Um Liebe, Eifersucht und Kabale. Um Gesellschaft, Tratsch und Intrigen. Um Zufall oder Bestimmung? Um Zweifel und Bestätigung.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum15. Juni 2023
ISBN9783347935570
Kiel Hofkapellmeister - Die Fürstlich Lippische Hofkapelle oder: Was wollte Brahms in Detmold?
Autor

Reiner Woop

Bühnenautor, Theatercoach und Regisseur, der gelegentlich, wenn ihn der Hafer sticht, auch selbst auf der Bühne steht. Seit 40 Jahren in der "Branche". Kulturschaffender aus Überzeugung. Von Hause aus mit der Komödie verbandelt, hat er die Vorliebe zu "historischen Fiktionen" entdeckt. Insbesondere was Personen, prominent oder namenlos, betrifft, die im 19. Jahrhundert leben und überleben mussten.

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    Buchvorschau

    Kiel Hofkapellmeister - Die Fürstlich Lippische Hofkapelle oder - Reiner Woop

    Erster Teil

    Wilhelm Wieneke freute sich über die milde Mailuft, über den Betrieb, der auf dem kleinen Marktplatz in Detmold herrschte und über das gutgehende Geschäft an diesem Samstagmorgen. Er war Marktbeschicker. Vor einem Jahr, genau gesagt am 1. August 1849, praktisch mit dem Ende der Revolution, hatte er endlich die Genehmigung von der Marktaufsicht erhalten, zum Wochenmarkt einen Stand direkt an der Treppe zum Neuen Rathaus aufzustellen.

    Hier bot er Kartoffeln, Eier, selbstgeschlachtete Kaninchen, Kräuter und lebende Hühner feil. Alles aus eigener Produktion: Sein Lebensunterhalt. Das machte ihn zwar nicht zu einem wohlhabenden Manne, es vermittelte ihm aber das Gefühl, kein »armer Schlucker« zu sein. Er war frei, sozusagen.

    Wilhelm war nicht mit allzu großer Bildung ausgestattet, aber er konnte rechnen und seine handwerklichen Fähigkeiten gestatteten ihm, eine kleine Kate in Meiersfeld unter- und instandzuhalten. Außerdem war er durch und durch ein angenehmer, positiver Mensch, den man nie schlecht gelaunt antraf.

    Mit einem Pferd und Leiterwagen zog er dann an Markttagen gen Detmold. Damit hatte er sich seinen Traum erfüllt.

    „Guten Morgen, Frau Böddeker. Das wird ein herrlicher Tag heute, oder? Was darf es sein?", so begrüßte er die Haushälterin von Clemens August Kiel, dem stadtbekannten Hofkapellmeister der Residenz, von dem noch häufig die Rede sein wird.

    Maria Böddeker, eine ebenso energische wie korpulente Frau, so um die 50, trat an seinen Stand.

    Sie war, was ihren Lebenswandel und die Haushaltsführung des Hofkapellmeisters anging, über jeden Zweifel erhaben.

    „Guten Morgen, Herr Wieneke. Heute brauche ich nur ein Netz voll Kartoffeln." Sie reichte ihm das Netz, das wohl praktischste Transportmittel für den Einkauf. Sie schaute auf den Kirchturm. Die Sonne stand bereits über den Giebeln der Häuser und trocknete die letzen Reste des Nachtregens. Es war schon wohlig warm. In den umstehenden Linden übertrafen sich Singdrossel, Zilpzalp und Mauersegler gegenseitig mit ihrem Gezwitscher.

    Alles und jeder sandte Düfte aus. Die Linden, die Marktstände, die Tiere und die Menschen. Das Stimmengewirr der Marktbesucher, einer Mischung aus edlen, vornehm gekleideten, sowie in robuster Alltags-Tracht steckender Menschen, erfüllte den Platz.

    Man ging ja nicht nur zum Einkauf hierhin. Mitnichten. Man wollte flanieren, ein Schwätzchen halten und solcherlei. Und vor allem: Man wollte sich zeigen.

    Aber nicht Maria Böddeker. Für derlei Sperenzchen hatte sie keine Zeit.

    „Schauen Sie sich mal das Kaninchen hier an. Das wird ein Braten, kann ich Ihnen sagen", lächelte Wilhelm fröhlich und zeigte auf das vom Fell befreite Tier, während er die Kartoffeln ins Netz warf.

    Maria versuchte, den abgezogenen, reichhaltigen Leib unauffällig, aber genau zu beäugen, was Wilhelm natürlich mit Luchsaugen beobachtete. Für ihn das deutliche Signal, dass nur noch ein paar Worte fehlten, um ihr dieses Prachtstück schmackhaft zu machen.

    „Ich habe es heute Morgen geschlachtet, Frau Böddeker. Also frischer geht´s nicht."

    Maria überlegte kurz: Heute ist der 3. – Kiel hatte ihr vor 2 Tagen das Haushaltsgeld hingelegt. Er überreichte es ihr nie persönlich, er deponierte es immer auf der Anrichte in der Küche, über der linken Schublade – da könnte sie doch eigentlich ruhig … Ja, sicher. Sie wiegte den Kopf hin und her. Warum nicht! Außerdem ist morgen Sonntag.

    „Wie viel wollen Sie dafür?", fragte sie dann entschlossen.

    „Frau Böddeker! Er wiegte ebenfalls theatralischwichtig den Kopf hin und her. „Weil Sie es sind: Nur 18 Groschen, antwortete er fast im Singsang:

    Maria zog die linke Augenbraue hoch: „Herr Wieneke!", sagte sie in einem Ton, der scherzhaft klingen sollte, aber ziemlich deutlich vermittelte, dass dies nicht der Preis war, der ihr vorschwebte.

    „Also schön, Frau Böddeker, was halten Sie von 15 Groschen?"

    „Hört sich schon besser an, knurrte sie bewusst, aber lächelnd, womit sie ihren Status als Haushälterin eines Beamten unterstrich und trotzdem nicht hochnäsig erschien. „Geben Sie mir noch drei große Möhren, eine Stange Porree und eine halbe Sellerie dazu.

    „Eine gute Wahl, Frau Böddeker, lachte Wilhelm und packte das eingewickelte Kaninchen und das Gemüse zu den Kartoffeln ins Netz. „Macht dann zusammen 28 Groschen. Für Sie 25. Er reichte ihr das Netz, während sie ihm die Münzen in die Hand drückte.

    „Vielen Dank, Frau Böddeker. Geht das so?", fragte er höflich.

    „Das geht sehr gut so. Danke, Herr Wieneke", erwiderte Maria und freute sich darauf, für ihren Herrn Kiel einen leckeren Sonntagsbraten anzurichten.

    Sie nahm ihr Netz und machte sich auf den Weg nach Hause, wo sie dringend nach ihrer 18 Jahre alten Tochter Johanna sehen wollte. Der ging es nämlich gar nicht gut. Sie lag mit einem starken Husten, der sich schon seit Wochen hartnäckig hielt, im Bett und konnte nicht aufs Gut in Herberhausen gehen, wo sie Ende der Revolution glücklicherweise eine Stelle als Magd ergattert hatte.

    Das Praktische an der Wohnsituation war, dass beide, Mutter und Tochter, über der Wohnung von Clemens August Kiel in der Krummen Straße lebten. Das machte die erforderlichen Zugeharbeiten sehr angenehm. In der Tat eine krumme Straße, in der sich ein Fachwerkhaus an das andere reihte.

    *

    Etwa zur gleichen Zeit saß Sigismund Landowsky, seines Zeichens Mitglied der Fürstlich Lippischen Hofkapelle, in seiner Küche bei einem kargen Frühstück und war, um es gelinde auszudrücken, stocksauer.

    Er ärgerte sich maßlos über die Kürzung der Entlohnung als Mitglied des Orchesters. Immerhin war er dem Range nach Erster Geiger, und damit faktisch Konzertmeister. Also nicht einfach Irgendwer.

    Und dann diese Kürzung! Mitten in einer Aufführungsreihe! Die pure Frechheit! Eine Erhöhung des Gehaltes wäre angebracht gewesen! ‚Man wird hier nur am Nasenring durch die Manege geführt‘, dachte er.

    Zwar hatte er lobende Worte wegen seines Engagements und Fleißes vom Kammerherrn des Fürsten, Karl von Meysenbug erfahren, aber dafür konnte er sich nicht das kleinste Stück Mettwurst kaufen.

    Er war nicht im Stande, die aufsteigende Wut zu unterdrücken. Nein, dachte er, nicht mit mir! Er schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Kaffeetasse tanzte.

    Seine Entscheidung, das Orchester zu verlassen, würde er auf gar keinen Fall rückgängig machen. Und selbst wenn Kiel auf Knien daher gerutscht käme. Der hatte sich nämlich für morgen, Sonntagmittag, angekündigt, um ein Gespräch zu führen, das ihn umstimmen sollte.

    ‚Das soll er versuchen. Nicht mit mir!‘, wiederholte er in Gedanken und fluchte auf Polnisch:

    „Przynajmniej wiem, co mogę, a czego nie mogę zrobić, do cholery." (Immerhin weiß ich, was ich kann und was ich nicht kann, verdammt nochmal.)

    Denn Landowsky war Pole. Mit Herzblut. Er tunkte sein Stück Butterbrot in den Kaffee und saugte es aus, bevor er es zerkaute.

    ‚Kiel soll nur kommen. Der Trunkenbold, der.‘

    Abschied

    Clemens August Kiel, ein fescher 37-jähriger, griff in seinen Schreibtisch und holte hastig eine Flasche Rotwein hervor. Er schaute sich um, nahm schnell einen großen, einen sehr großen Schluck aus der Flasche – den vierten heute Morgen – und verstaute sie wieder heimlich. Dann ging er in den Flur, nahm seinen Spazierstock mit dem silbernen Knauf aus dem Ständer an der Garderobe und setzte sich den Zylinder auf den Kopf. Heute am Sonntag hatte er seinen besten Gehrock angezogen. Maria Böddeker erschien in der Küchentür und ließ äußerst streng verlauten:

    „Seien Sie bitte zum Essen zurück, Herr Kiel! - Also zeitig." Das klang beileibe nicht nach der Bitte einer Dienstmagd, sondern eher nach der Anweisung einer gestrengen Frau Mutter.

    „Ganz wie Sie meinen, Frau Böddeker. Also, bis nachher." Kiel grinste breit. Der Wein am Morgen hatte seine Stimmung gehoben, die in Wahrheit alles andere als beflügelnd war.

    Damit verließ er die Wohnung im unteren Teil des Hauses in der Krummen Straße, dort wo sie in die Bruchstraße mündete und stapfte, den einen oder anderen grüßend, auf den Marktplatz zu.

    Er hatte vor, sich heute am Sonntag mit Landowsky, dem wahrhaft besten Geiger, den er bisher kennengelernt hatte, zu treffen. Der wohnte in der Friedrichstraße. Eine Strecke von ca. 10 Minuten oder gut 800 Metern.

    Landowsky war als Geiger sowohl technisch als auch musikalisch ein Genie. Ihn zu verlieren, wäre ein nicht wieder gut zu machender Verlust für die Hofkapelle.

    Das hatte Kiel dem Kammerherrn von Meysenbug zwar demütig, aber nachdrucksvoll erklärt. Der hatte es an den Hofmarschall³ Funck von Senftenau weitergegeben und dieser an Fürst Leopold II. So bestimmte es die Regel bei Hofe. Der Fürst ließ sich jedoch nicht beeindrucken und blieb hart, was die Kürzungen der Gehälter der Hofkapelle anging.

    Schließlich hatte er den Vorgaben der Stände Folge zu leisten und in der gesamten Haushaltsführung den Rotstift anzusetzen.

    Ein Nachbeben dieser vermaledeiten 48er-Revolution. Die sich zwar in Detmold nur als laue Windbewegung zeigte, während sie anderenorts wahre Orkanböen mit tosenden Gewittern entfachte. Aber immerhin.

    Im Sechs-Augen-Gespräch – Fürst, Hofmarschall und Kammerherr – hatten sie dann entschieden, die Kürzungen in Angriff zu nehmen. Allerdings nur bei den Gehältern der Orchestermitglieder.

    Kiel sah es nun als seine vornehmste Aufgabe an, Landowsky davon zu überzeugen, die Fürstlich Lippische Hofkapelle eben nicht zu verlassen.

    Inzwischen war er in der Friedrichstraße angekommen, die direkt an der Werre entlangführte, einem Bach der zum Flüsschen wurde und bei Bad Oeynhausen in die Weser kroch.

    Er klopfte an die Eichenholzpforte des alten Fachwerkhauses Nr. 2, das an der Einmündung zum Rosenthal stand. Landowsky bat ihn, ein bisschen mürrisch wohl, aber trotzdem höflich, einzutreten.

    „Herr Hofkapellmeister, seien Sie mir willkommen. Er sprach perfektes Deutsch mit polnischem Akzent. „Bitte legen Sie ab. Wir wär´s mit einem Wodka aus meiner Heimat?

    „Mein lieber Landowsky, wissen Sie, ich sollte eigentlich keinen …, ach, was soll’s. Einer richtet keinen Schaden an."

    „Sag ich auch immer. Kommen Sie, wir gehen hier rein. Er lächelte verschmitzt. ‚Kiel und Alkohol ablehnen? Das gibt’s nur als Gerücht‘, dachte er und zeigte auf die Wohnzimmertür. „Bitte nehmen Sie Platz. Ich hole nur … Einen Augenblick.

    Kiel setzte sich auf den Sessel, der in der Ecke stand, mit Blick auf das kleine Fenster zur Werre. Er schaute sich um. Der ganze Raum sah aus wie und roch nach: Musik. Überall Notenblätter, Notenständer, ein Metronom, Bilder und Zeichnungen von Theaterhäusern und Bühnen an den Wänden.

    Und eine Sammlung von sieben Geigen, die schon auf den ersten Blick einen ungeheuren Wert erahnen ließen. Auf einer langen Stange darunter hingen dekorativ aufgereiht sieben Bögen. Ein kleiner runder Ofen an der Wand gegenüber. ‚Äußerst behaglich, das Gesamtbild‘, dachte Kiel. ‚Der Kerl hat Geschmack.′

    Landowsky kam mit einer Flasche Wodka und zwei Gläsern und setzte sich auf den Sessel gegenüber. Er zeigte Kiel die Flasche, als kredenze er eine Kostbarkeit. Während er eingoss sprach er:

    „Worüber wollen wir reden, Herr Hofkapellmeister?"

    „Ach, kommen Sie, Landowsky, lassen wir das Titel-Gedöns mal außen vor", sagte er bewusst leger.

    ‚Einfach auf Kollegen machen. Eine Stufe!‘, dachte sich Kiel. ‚Auf keinen Fall den Vorgesetzten herauskehren, das erzeugt nur Widerstand.‘

    „Wie Sie wünschen, Herr Hof…, Herr Kiel. Wenn Sie der Meinung sind, wir sollten über dieses Schriftstück reden, welches von diesem Hofmarschall …, er zögerte, „…äh … ich kann mir einfach seinen Namen nicht merken … wie heißt er gleich …?

    „Senftenau. Funk von Senftenau."

    Landowsky sah ihn mit einem spöttischen Augenaufschlag an. Er überlegte und schüttelte den Kopf.

    „Richtig. – Wie kommt man auf so einen Namen?"

    „Nun ja. Das könnte man bei Kiel oder Landowsky sicher auch fragen. Auf Namen kommt man nicht, die be-kommt man."

    „Auch richtig. Auf Ihr Wohl, Herr Kiel. Er hob sein Glas und trank es in einem Zuge aus. Kiel tat es ihm gleich und Landowsky schenkte sofort nach. „Kommen Sie. »Auf einem Bein kann man nicht stehen«, sagt der Deutsche, juxte Landowsky aufgesetzt.

    „Oh, danke. Nicht so schnell", freute sich Kiel, und trank dankbar den zweiten Wodka hinunter, wie Landowsky auch. Ohne zu fragen goss der den Dritten nach. Kannte er doch Kiel und dessen Ruf, ein standfester Trinker zu sein.

    „Also, um nochmal auf dieses Dokument zu kommen, das ich vorhin erwähnte: Das ist de facto die Aufforderung, das Orchester und damit auch Detmold zu verlassen", brummte Landowsky eloquent.

    Kiels Tonfall war, auf Grund des Weines zu Hause und des Wodkas hier, verstärkt freundschaftlich.

    „Ich glaube, ich verstehe, was Sie sagen wollen. Wissen Sie Landowsky, wir sind beide Musiker. Und dennoch unterscheidet uns eins."

    „Ja. Ich bin Pole und Sie sind deutsch."

    „Das stimmt. – Doch das meine ich nicht."

    „Was dann?"

    „Ich bin auf Sie angewiesen, Sie aber nicht auf mich", lehnte sich Kiel, zufrieden über seine taktische Formulierung, zurück.

    „Und warum nicht? Warum bin ich nicht auf Sie angewiesen?", stutzte Landowsky

    „Weil Sie der Beste sind. Der beste Geiger, den ich jemals dirigiert habe. Das wissen Sie und ich brauche Sie. Sie schauten sich an. „Landowsky.

    Der lachte herzhaft auf. „Ha. Und wissen Sie, was ich brauche? Ich brauche Geld, um meine Miete zu bezahlen und mein Brot zu kaufen, wenn Sie verstehen, was ich meine."

    „Als wenn ich nicht die gleiche Bürde hätte. Natürlich verstehe ich Sie. Aber schauen Sie, Landowsky, Dank meiner Intervention bei von Meysenbug wird Ihre Kürzung um einen bedeutenden Teil geringer ausfallen als beim übrigen Orchester." Er schaute sich um.

    „Aber bitte!" Er hielt bedeutsam den Zeigefinger vor die Lippen.

    „Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Herr Kiel? Kürzung bleibt Kürzung. Basta." Er schob sein Glas hin und her, geradeso als hätte er noch etwas auf dem Herzen.

    „Ich habe mich ohnehin bereits an Leipzig gewandt. Erfolgversprechend, kann ich anfügen."

    „Leipzig!?", fragte Kiel neugierig und panisch zugleich und dachte: ‚Das wäre natürlich ein Aufstieg. Das muss ich verhindern.’ Er fuhr fort:

    „Hören Sie, mein guter Landowsky, ich …"

    „Geben Sie sich keine Mühe und vor allem keine Blöße, Herr Kiel. Mein Entschluss steht fest."

    Sein Tonfall nahm an Schärfe zu. „Selbst wenn Sie mit der Nachricht kämen, es gäbe keine Kürzung. Das Verfahren kränkt mich, verstehen Sie? Diese unsensible Geschmacklosigkeit. Das kann ich meiner Seele nicht zumuten. Es kränkt mich. Ich gehe."

    „Landowsky, bitte überlegen Sie doch mal die Vorzüge, die Sie hier in Detmold haben."

    Sein Tonfall wurde flehentlich. „Der kurze Weg zum Arbeitsplatz. Das Umfeld. Der Teutoburger Wald. Sie sind hier heimisch geworden. Beinahe schon ein Lipper … Ihre Stellung im Orchester …"

    „Trotzdem hätte ich weniger Geld in Tasche als jetzt, Herr Kiel. Und alles wird teurer. Hören Sie auf, das ist vergebene Liebesmühe."

    „Und: Man kennt sie, Landowsky. Ihre Violine-Abende, Ihre Soloauftritte sind nach wie vor Stadtgespräch. Sie sind hier jemand."

    „Herr Kiel! Ich sag Ihnen was. Sie können mir noch so viel Honig … in den Alterswertesten? Sagt man so?"

    „Zucker! Oder Bart!"

    „Wie jetzt?"

    „Zucker in den A … oder Honig um den Bart…"

    „Dann wählen Sie, Herr Kiel. Meine Entscheidung steht."

    „Streichen oder stecken."

    „Was?"

    „Egal jetzt! Kiel begann zu schwitzen. „Ihr letztes Wort? Landowsky?

    Der schaute schweigend, aber unmissverständlich aus dem Fenster. Diese Kränkung, die er erwähnte, die war im Grunde ausschlaggebend. Klar, das Geld auch. An zweiter Stelle. Aber die Kränkung an erster.

    „Mein letztes Wort. Und da wir jetzt von Mann zu Mann reden, Herr Kiel, und nicht mehr von Untergebenem zu Vorgesetztem, erlauben Sie mir noch ein deutliches Wort."

    „Selbstverständlich, Herr Landowsky."

    „Passen Sie ein bisschen mit dem Trinken auf. Als ich Sie kennenlernte, waren Sie noch nicht soweit wie jetzt." Kiel lachte abwinkend auf.

    „Ich denke, das liegt außerhalb des Bereichs, über den Sie sich Sorgen machen müssten."

    Aber Landowskys Worte saßen so gut wie sein Gehrock. Er ließ es sich nicht anmerken. „Das sagt mir ein Pole! Für den der Wodka Muttermilch ist."

    Landowsky nickte.

    „Ja, ja. Es gibt solche Deutsche und solche Polen. Glauben Sie mir. – Wollen Sie noch einen?"

    „Da sag ich nicht nein."⁴

    ³ der oberste Verwaltungsbeamte des Schlosses, zuständig für das gesamte Hofwesen: Finanzen, Anschaffung, Instandhaltung etc.

    ⁴ Natürlich sind Konversationen mit oder unter historischen Personen fiktiv bzw. nachempfunden. Der Verfasser hat Ereignisse der Zeitachse oder Zitate entsprechend einfließen lassen, um den Gesprächen einen wirklichkeitsnahen Charakter zu verleihen.

    Ressource

    Das Gespräch mit Landowsky war alles andere als erfreulich gewesen. Nein, das war ein Schlag in die Magengrube, den Kiel so schnell nicht überwand. Da halfen auch die drei Wodka von Landowsky nichts.

    Er stand jetzt genau an der Ecke Lange Stra-ße/Rosenthal. Von hier konnte er das Theater sehen, das den Spielbetrieb wegen Misswirtschaft einstellen musste. Und wenn er sich umdrehte und die Lange Straße hinauf blickte, sah er bis zum leeren Marktplatz.

    Heute, am Sonntagnachmittag, war nur wenig Betrieb auf den Straßen. Die meisten nutzten das Wetter für Ausflüge in die nahgelegenen Wälder.

    Er schaute unschlüssig auf seine Taschenuhr. Noch drei Stunden bis zum Essen. Er war gespannt, mit was ihn die gute Frau Böddeker heute wieder überraschen würde.

    Was aufgetischt wurde, darüber konnte sie entscheiden. Das war am Anfang so, das war während seiner kurzen Ehe so. ‚Und das wird auch so bleiben,′ sann er vor sich hin, beseelt vom Alkohol.

    Er steckte die Uhr zurück in die Westentasche. ‚Drei Stunden noch‘, dachte er, ‚da spricht eigentlich nichts dagegen, wenn ich kurz noch in der Ressource reinschaue.‘ Er machte sich auf den Weg zum Rathaus, denn die Gesellschaftsräume befanden sich dort in der oberen, in der Beletage:

    Die Ressource war ursprünglich, ganz am Anfang – etwa mit der Übernahme der Regentschaft des 23-jährigen Fürsten Leopolds II., also um 1802 – nichts weiter als ein Stammtischtreff.

    In der Seiffschen Gaststätte, dort, wo die Neustadt ihren Anfang nimmt, Nr. 6, traf sich also regelmäßig eine exklusive, intime Runde behufs Geplauders und Getränks.

    Im Laufe der Jahre wurde ein reger Zulauf registriert. Plötzlich war die Stammtischrunde zu groß oder vielmehr die Gaststätte hinter dem Lippischen Hof als Treffpunkt zu klein.

    Auf jeden Fall wurde die Vereinigung zu einem exklusiven Klub, der aus Kaufleuten, Intellektuellen und lauter honorigen Leuten bestand – oder solchen, die sich dafür hielten – der sich 1831 den Umzug in diese nicht ganz billige Etage im Rathaus leisten konnte.

    Da wurde gegessen, getrunken und geplaudert. Gelegentlich kamen schon mal Offiziere aus der Kaserne dazu, wogegen niemand einen Einwand erhoben hätte. Nie. Immerhin genoss das Militär einen Ruf, nicht weit abseits vom Großbürgertum. Für manche sogar drüber.

    Der Sinn dieser Einrichtung galt ganz und gar dem gesellschaftlichen Beisammensein und dem Diskurs. Allerdings sprachen Außenstehende auch von den Unantastbaren oder vom Elfenbeinturm.

    ‚Alles schön und gut′, dachte Kiel, ‚nur dieser verdammte Landowsky. Lässt mich einfach so im Stich. Was mach ich denn jetzt? Ohne Ersten Geiger?′

    Sein Verhältnis zu Landowsky war nicht unbedingt herzlich. Es war nicht so, dass man sich nicht mochte. Man respektierte sich. Doch. Mehr die Leistung als die Person. Aber Respekt war vorhanden.

    Nur, auf die Idee, mal abends gemeinsam auf ein Bier oder ein Glas Wein …? Um Gottes Willen. Darauf wäre keiner der beiden gekommen.

    Obwohl es für die Zusammenarbeit – Hofkapellmeister und Konzertmeister – fruchtbringend gewesen wäre oder hätte sein können.

    In der Ressource angekommen traf er auf seine ständigen Tischnachbarn. Schauspieler Julius Lamprecht und einen Hauptmann des Lippischen Bataillons, Heinrich Kotzenberg.

    Natürlich schüttete er ihnen über die missliche Situation sein Herz aus, worauf die anderen beiden ihn selbstverständlich ihres Mitgefühls versicherten und gleichzeitig ihr Bedauern äußerten, dass man da leider, das müsse er verstehen, auch nicht helfen könne.

    Und so wankte Kiel, dann gegen 18 Uhr, arg in Schräglage, eine Stunde über die Essenzeit, nach Hause, wo ihn Maria Böddeker mit mittelschwerem Zorn erwartete.

    Antritt

    Jetzt ist es nicht verkehrt zu wissen, wie, wo und wann sich Maria Böddeker und Clemens August Kiel kennengelernt hatten und wie sich diese Begegnung auf ihr Verhältnis auswirkte.

    Gesellschaftlich und politisch, sowie in der Moralvorstellung war die Frau zu jener Zeit ein untergeordnetes Wesen. Sie war Erfüllungsgehilfe und Gebärmaschine. Dinge und Handlungen, die dem Manne erlaubt, zugestanden oder geduldet wurden, respektive die von ihm erwartet wurden, durfte die Frau nur mit Genehmigung oder Billigung eines »Verantwortlichen« erledigen oder vollziehen.

    In der Regel durch Vater oder Ehemann, die die Frau „de jure" aber auch gesellschaftlich sozusagen »verwalteten«, überwachten und anwiesen.

    Die Frau war dem Manne Untertan, so wie es schon in der Bibel steht. Wobei gerne vergessen wird, das das sogenannte Wort Gottes vom Menschen geschrieben wurde. Aber das am Rande.

    Durch den frühen Tod ihres Ehemannes (dazu später mehr) und den Einfluss des Kriminalrates Sterzenbach, wurde Maria in eine Rolle geschubst, die sie ein wenig aus diesem Bild entließ. Die ihr eine gewisse Eigenständigkeit verlieh.

    Jener Kriminalrat nämlich war von der Fürstin Pauline beauftragt worden, das Hautboisten-Corps, das nunmehr aus Berufsmusikern bestand, mit freier Hand zu leiten.

    Er hatte seine Pläne umgesetzt und die Kapelle ständig peu-à-peu erweitert. Die Spielleute hatten bald die Anzahl 20 überschritten.

    Kiels Vater nun war ein ausgezeichneter Gesangslehrer und hatte eine Stelle am Sondershausener⁵ Hoftheater als Inspizient. Sein brillanter Erziehungsstil machte aus seinen Kindern hochanständige, kultivierte Menschen. Das traf besonders auf seinen Sohn August zu, den man getrost frühreif nennen durfte.

    Der Vater schickte ihn in jungen Jahren zur erfolgreichen Violin- und Kompositionsausbildung nach Kassel, zu dem berühmten Komponisten Louis Spohr. Clemens August kehrte als fertiger Violinist mit Auszeichnungen in sein ruhiges Sondershausen zurück.

    Allerdings nur, um die geliebte Heimat im Juni 1832 als 18-jähriger in Richtung Detmold wieder zu verlassen, um hier als Mitglied im Hautboisten-Corps vereidigt zu werden. Er wurde vom inzwischen zum Intendanten beförderten Chef des Corps´, Sterzenbach, empfangen.

    Sterzenbach nahm ihn unter seine Fittiche und führte ihn zu einem Fachwerkhaus in der Krummen Straße. Hier kam es zu einer schicksalhaften Begegnung.

    Sterzenbach stellte ihm eine junge Frau vor, Anfang dreißig etwa, die für Kiel mit seinen 18 Jahren aber altersmäßig in sehr weiter Ferne lag und ganz offensichtlich hochschwanger war: Maria Böddeker. Sie bildete so etwas wie sein Empfangskomitee.

    „Das ist Maria. Maria, dieser Bursche ist Clemens August Kiel, der hier einziehen wird, wie Sie wissen! Meine Bitte an Sie: Gehen Sie ihm zur Hand. Helfen Sie ihm, sich in Detmold einzuleben. Wie geht es ihrer werten Frau Mutter?"

    Marias Mutter, über 60, machte immer noch den Haushalt bei den Sterzenbachs. Allerdings hatte sie seit Wochen mit schweren Bauchschmerzen zu tun. Sie konnte auch nichts mehr bei sich behalten. Schmerzen und Durchfall wurden zunehmend zur Qual. Maria musste täglich nach ihr sehen.

    „Ach, sagte Maria betrübt. „Es geht ihr gar nicht gut. Ich fürchte …, sie sprach den Satz nicht zu Ende, aber Sterzenbach und auch August, der wie bestellt und nicht abgeholt daneben stand, war klar, dass Maria vom bevorstehenden Tode ihrer Mutter sprach. Sie zeigte auf ihren Bauch: „Was will man machen? Der eine geht, der andere kommt."

    „Wie geht es ihrem Herrn Gemahl?" raunte Sterzenbach feierlich

    „Danke, bestens. Er ist jetzt Polier bei Kampmeier."

    „Na, wenigstens das hört sich gut an." Und, als hätte er einen Hebel umgelegt, wandte er sich an Kiel:

    „Mein lieber Kiel, ich möchte, dass Sie wissen, so begann Sterzenbach eine väterliche Begrüßungsrede, „dass Detmold für Sie quasi das Sprungbrett für Ihre weitere Zukunft werden kann. Sie wissen ja: Ohne Fleiß …

    „… kein Preis", ergänzte Kiel mit gesenkten Augen.

    „So ist es, junger Freund. Gut! Hier können Sie wohnen und üben nach Herzenslust, niemand wird Sie stören. Und …, er hob den Zeigefinger, „… machen Sie mir keinen Kummer.

    „Gewiss nicht, Herr Intendant. Und vielen, vielen Dank für …", er zeigte in den Raum.

    „Nicht der Rede wert. So, ich muss. Maria, Sie wissen Bescheid! Kiel, wir sehen uns:

    Probe morgen früh um zehn! Komödienhaus, Musikzimmer. Sie finden hin?"

    „Natürlich, Herr Intendant", antwortete Kiel, obwohl er nicht den blassesten Schimmer hatte, wo sich das Haus befand. Er würde sich schon durchfragen.

    „Dann einen guten Abend", murmelte Sterzenbach und verschwand nach draußen.

    Maria musterte den Neuankömmling von oben bis unten. ‚Ein feiner Bursche‘, dachte sie. ‚Groß, schlank, na ja, dürre eigentlich, dichtes lockiges Haar, gut gekleidet und ein wenig schüchtern. Na, den kriegen wir schon hin‘, befand sie in Gedanken. Und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie eine Zwitterrolle übernahm: Die Zugehfrau und gleichzeitig den Mutterersatz.

    „Also. Damit wir uns gleich verstehen, junger Mann: Sie wohnen hier, das ist Ihr zu Hause und ich gebe das Kommando. Ist das soweit klar?"

    „Ja, Frau Böddeker", antwortete Kiel unsicher. Es war nicht die Umgebung, die ihn leicht erbeben ließ. Er hatte schon in Kassel unter fremden Dächern schlafen müssen. Es war auch nicht die Tatsache, dass diese Frau Böddeker in solcher Weise mit ihm sprach.

    Er kannte seinen Vater nur im strengen Befehlston und seine Mutter, die ständig mit dem Vater drohte, wenn sie etwas durchsetzen wollte. Was ihn viel mehr beschäftigte, war die Vorfreude auf die neue, unbekannte Freiheit.

    Keine Geschwister um sich, keinen Mitschüler, keine Mutter, keinen Vater. Einfach nur: frei. Absolut frei! Da kann die Frau Böddeker ruhig das Kommando führen. ‚Wenn es ihr gefällt? Bitte schön.‘ Er zuckte unbemerkt grinsend die Schultern.

    „Gut, sagte die Schwangere. „In zwei Wochen ist es bei mir soweit. Solange ich kann, erledige ich die Einkäufe, koche für Sie und mache die Wäsche. Danach sehen wir weiter.

    „Und was mache ich?", stotterte Kiel.

    „Sie benehmen sich einfach nur anständig. Alles anders kommt von ganz alleine. So. Kommen Sie, ich zeige Ihnen jetzt die Wohnung. Oben wohnt niemand. Sie können alles was hier steht ändern, verschieben, umstellen nach Ihrem Geschmack. Nur nichts kaputt machen. Klar?"

    „Klar."

    Sie machten einen Rundgang und in Kiel tobte von Zimmer zu Zimmer zunehmend die pure Lebenslust. ‚Alles für mich allein. Und niemand sagt, wann ich was zu tun habe‘, dachte er und hatte Mühe, vor Freude nicht laut loszuschreien.

    „Ja, das war´s, sagte Maria Böddeker nach der Besichtigung. „Und wenn Sie was brauchen und ich bin nicht da, schreiben Sie mir einen Zettel. Klar?

    „Klar."

    Woraus sich quasi das spätere Verhältnis zwischen den beiden – und Marias Rolle – von selbst erklärt. „Schön. Dann gehe ich mal nach Hause. Meinem Mann das Abendbrot machen. Wenn der vom Bau kommt, hat der immer Hunger wie ´n Wolf. – Kommen sie heute alleine zurecht?"

    „Ich glaub schon", sagte er brav und freute sich auf den Augenblick in dem er für sich sein würde. Darauf wartete er schon den ganzen Tag.

    ⁵ Kreisstadt in Thüringen, Kyffhäuser Kreis

    Ausnüchtern

    Er musste sich jetzt zusammenreißen. So sehr er das auch tat, dass er stark angetrunken war, das konnte er vor Maria nicht verheimlichen. Dafür kannte sie ihn zu gut.

    Er stützte sich gegen die Wand. Maria spürte, wie sich zu ihrem Zorn so eine Art Fürsorge einerseits und Erleichterung andererseits mischte, dass er es unbeschadet nach Hause geschafft hatte.

    Ach, Herr Kiel. Aber wirklich. Isses wieder mal soweit?, ließ sie ihrem Ärger freien Lauf. „Ich möchte nicht wissen, was Ihre Frau dazu gesagt hat, wenn sie Sie so sah.

    „Ich weiß nicht, was Sie meinen, Frau Böddeker?", kicherte Kiel leicht enthemmt.

    „Das wissen Sie ganz genau! Und Sie wissen auch, dass Sie gut und gerne eine Stunde über die Zeit sind, maulte Maria und führte ihn an den Wohnzimmertisch. „Sie haben eine Fahne bis …, mein Gott. Irgendwann bringt das Zeug Sie noch mal um. Oder es passiert was ganz Schreckliches. Das können Sie mir glauben. Geben Sie mir Ihre Jacke.

    Er zog sich kichernd und umständlich den Gehrock aus. Maria ging zurück in den Flur und kam mit einem Kleiderbügel und Hausschuhen zurück, stellte sie ihm vor die Füße und spannte den Gehrock mit gekonnten Griffen auf den Bügel.

    Seine Zunge war wohl schwer, aber sie gehorchte ihm. Kiel versuchte ernst und nüchtern zu klingen, verfiel aber wieder in sein albernes Lachen.

    „Ich hab´ nicht viel getrunken, Frau Böddeker. Ehrlich nicht."

    „Natürlich nicht. Viel und nicht viel ist ja bei jedem was anderes, murrte sie. Während sie mit ihm sprach, half sie ihm aus den Straßenschuhen in die Hausschuhe. „Nun machen Sie doch mal ein bisschen mit, Herr Kiel.

    „Ja, ja." Er versuchte es, aber die Koordination seiner Füße wollte einfach nicht gelingen. Mit der einen Hand stütze er sich an der Wand ab, mit der anderen auf Marias Rücken. Das war für sie nichts Neues. Sie wurde damit fertig.

    „Ich war nur kurz bei einem Kollegen von der Kapelle, lallte er mit schwerer Zunge weiter, „und dann hab ich noch einen Abstecher in die Ressource gemacht. Wie üblich.

    „Sicher. Wie üblich. So, fertig, stieß sie verdrießlich aus. „Ressource! Der Sündenpfuhl im Rathaus.

    „Na, na. Frau Böddeker. Sündenpfuhl! Das ist die Wiege so manch guter Idee. Glauben Sie mir."

    „Ja ja. Die Wiege des Alkohols. - So. Setzen Sie sich an den Tisch, Herr Kiel. Ich hab´ das Abendessen lange genug warm gehalten." Er tat wie ihm geheißen und nahm dort Platz.

    Maria hatte bereits Teller und Besteck, ein Glas und eine angebrochene Flasche Wein hingestellt. Jetzt wollte sie in die Küche und den Kaninchenbraten mit Kartoffelknödeln servieren – für den sie im Übrigen den ganzen Nachmittag am Herd gestanden hatte – und machte sich auf den Weg. Kiel hielt sie auf und kicherte wieder albern:

    „Ach ja. Das Essen. - Sagen Sie mal, Frau Böddeker, wie lange machen Sie das eigentlich schon?"

    Sie blieb abrupt stehen:

    „Seit heute Mittag, wenn Sie es genau wissen wollen. Der Unmut war nicht zu überhören. „Herr Kiel.

    „Ach! Nicht doch. Er kicherte. „Ich meine, mich bemuttern. Mich beköstigen. Auf mich aufpassen.

    „Och, Herr Kiel. Als ob Sie das nicht selbst wüssten. Das sind jetzt 18 Jahre. Als Sie damals aus Kassel hier ankamen, da hat der alte Herr Sterzenbach mich beauftragt, Ihnen hin und wieder zur Hand zu gehen, den Haushalt zu führen und so. Ich war ja noch mit Johanna schwanger. Das wissen Sie doch." Kiel schaute ins Leere.

    „Ja. Ich weiß. Ich habe Johanna ja praktisch mit erzogen, seid Ihr Mann damals … Er schwenkte um. „Und der alte Sterzenbach. Ein akribischer Kriminalrat, ein guter Musiker und ein noch besserer Organisator. Ohne den hätten wir jetzt keine Hofkapelle, wussten Sie das Frau Böddeker?

    „Ts. Natürlich weiß ich das, gab sie ungehalten zurück. „Und ohne Alkohol hätten Sie noch ihre Frau, Herr Kiel.

    „Ach, hören Sie endlich damit auf, raunzte er. „Ich bin froh, dass dieses Kapitel ausgelesen ist. Diese Ehe, wenn man sie überhaupt so nennen konnte, existierte eh nur auf dem Papier. Und das war gut so. Aber der Sterzenbach und die Pauline …

    Sie nickte nur, ohne zu antworten. Sie wusste ja, was jetzt kam. Geschichten um die Fürstin Pauline und ihren emsigen Musikliebhaber Sterzenbach.

    Louise Althof

    Bevor nun aber Clemens August Kiel Geschichten über Sterzenbach und Pauline erzählt, wollen wir einen Blick auf seine kurze Ehe mit Johanne Louise Wilhelmine Florentine Althof werfen.

    Wir wissen: Kiel war von Haus aus mit einem untrüglich hohen Grad an Bildung, Auftreten und Diktion ausgestattet. Er verfügte über ein außerordentliches Taktgefühl und hatte die treffliche Gabe, sich in das Seelenleben anderer hineinzuversetzen.

    Allgemein bekannt ist aber auch die Tatsache, dass die Grenzen zwischen Genie und Hochmut mitunter fließend sind und der Betroffene selbst außerstande ist, dies zu erkennen. Fragwürdige Allüren und Ignorieren der Verhältnisse eingeschlossen. Wobei das Ganze von einem gewissen Charme emailliert wird.

    Dieser Umstand hatte sich leider Gottes im Laufe der steilen Karriere des Clemens August Kiel – inzwischen 25 – manifestiert, was sich in einer geradezu halsbrecherischen Leichtfertigkeit niederschlug. Dazu gesellte sich die anschwellende Zufuhr des Alkohols.

    Einem Fremden fallen solcherlei Wesenszüge nicht auf Anhieb ins Auge. Mit anderen Worten, die Wahrscheinlichkeit, jenem Charme zu erliegen, ist nicht gerade gering.

    So erging es dem Richter, Kanzleirat und Landtagsmitglied Johann Christian Althof, dessen Nichte Louise, trotz ihrer blühenden Schönheit, mit 26 immer noch nicht unter der sprichwörtlichen Haube war.

    Da nun beide, sowohl Kiel als auch Althof, notorische Ressourcen-Gänger waren, kannte man sich natürlich. Gesellschaftlich war man eh nicht weit auseinander.

    Dass man in der heiligen Gedankenschmiede aufeinandertraf, war im Grunde vorherzusehen.

    Nach reichlichem Weingenuss und gehörig vernebeltem Gedankenspeicher entwickelte sich ein folgenschweres Gespräch, das hier in komprimierter Form skizziert wird, in dem der knapp

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