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Umsteigen in Babylon
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eBook278 Seiten6 Stunden

Umsteigen in Babylon

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Über dieses E-Book

'Linoleum-Thais' und 'Kuckucksuhren-Osteuropäer', Iraner mit Rolex und Kubaner mit Kapuzenshirt – Marko Martin reist um die Welt, flaniert durch Berlin und lässt sich mitnehmen, aufpicken, abschleppen. Der Blick in die Wohnungen, in die Schlafzimmer fremder Länder fördert manche Wahrheit zutage, die sexuellen Gewohnheiten, Lebenslügen und Sehnsüchte seiner Dates erst recht: 'Aber wovon sie alle schwärmen, alle, ist Tel Aviv. Stell dir vor, ausgerechnet das verbotene, ihnen unzugängliche Tel Aviv, der Traum von nackten Israeli-Soldaten.' Wenn der Weg zum Kennenlernen auch erst einmal durchs Bett führt, taugt diese geballte Ladung internationaler Affären kaum als Porno, denn seine Geschichten sind umrankt und durchdrungen von vielfältigen literarischen Inspirationen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum26. Juli 2016
ISBN9783863002220
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    Buchvorschau

    Umsteigen in Babylon - Marko Martin

    Liebe

    Weshalb

    In den Büchern der klugen alten Meister ist davon die Rede – auffindbar in versteckten Antiquariaten, geführt von kurzsichtigen Alten mit gichtigen Händen –, in den Autobiografien längst oder kürzlich Dahingegangener. Wohin gegangen?

    Immerhin waren sie sich über das Woher im Klaren gewesen – oder gaben zumindest glaubhaft vor, es zu sein. Kleinbürger, Großbürger, Gymnasiasten, enthusiastische Entdecker väterlicher Bücherschränke oder staubiger Leihbibliotheken. Wir entdeckten die Stadt, den Sex, den Alkohol, die Freundschaft. Oh Octavio Paz! Oh Neruda, Moravia, Carpentier und Milo Dor! Oh Vargas Llosa! Ja, ein von jeglicher falscher und bemühter Ironie befreites, offenen Auges staunendes Oh all den Großen, die in höheren Jahren, nun selbst in ihren Bibliotheken sitzend oder jungen Journalisten bevorzugt weiblichen Geschlechts Auskunft gebend, des Surrealismus nicht vergaßen. (Oh Breton und Eluard, oh Nadia und Elsa!) Eine vielfältige Gier: das Leben und die Bücher, die Straße und die Studierstube, die Bars und die Einsamkeit in der Menge der Kinobesucher. Zeit der Schwarzweißfilme, Hotel du Nord, Zeit der Jugend. Erste Frauen, erste Zigaretten, Gedichte, und den Mantelkragen hochgeschlagen. Und sie waren sechzehn, höchstens zwanzig.

    Oder aber: Diese schlaksigen Jugendlichen, derer Du manchmal in der U-Bahn oder auf Parkbänken ansichtig wirst: nachlässig rasiert, die Brillengläser verschmiert, in den verschwitzten Händen die Secondhand-Paperbacks von Jack Kerouac. Und dazwischen mitunter einer der ganz Schlauen, ganz Schwierigen, ganz Ausgebufften oder schlichtweg auch nur absolut Vereinsamten, vertieft in die Poeme von Ginsberg, Gary Snyder oder die Verse des frühen Wondratschek. Oh Chuck, oh Carmen! Du aber, Schreiber dieser Zeilen, Ende dreißig / Anfang vierzig, und noch immer Gast in heruntergekommenen Hotels, deren materialisierte, in Maßen jüngere Sternchen Du wie einst als Jüngling mit Herzklopfen erwartest, wenn sie die Klinke einer Sperrholztür drücken, was ist mit Dir?

    Warum diese Absteigen in Mexico-City Madras Santiago Vientiane oder Alicante? Fusseliger Teppich, Zigarettenlöcher in Fenstervorhang und Bettdecke, mitunter eine Kakerlake im Bad, furchterregend flüchtige Hieroglyphe auf schlierigen Kacheln. Unter dem schmalen Balkon ein Ausschnitt vom Meer oder auch nur der Blick auf eine Seitenstraße, nach Sonnenuntergang unter verdächtigem Neongeflacker belebt – und Du, Du mit um die Hüfte geschlungenem Badetuch, Zigarettenrauch in die Luft blasend, kryptische Kringel als Fortsetzung Deines seltsamen Lächelns? Welche Begründung also für diese Art Existenz, für Paz und Wondratschek – ja ebendiese ! –, weiterhin auf Deinem Nachttisch, gleich neben den Präservativen, und auf dem Bettlaken noch immer der Abdruck eines zweiten oder dritten Körpers? In Deinem Alter, Mann, und statt Triumph, Scham oder gar der befremdenden Passivität Pasolini’scher Vorstadtwiesen-Dankbarkeit nichts weiter als diese Deine frohgemute, skeptische Verwunderung. Sie aber kamen vom Surrealismus und gingen in ihre Bücher.

    Ist es also vielleicht doch ein wenig Neid, gar eine versteckte Trauer? Aber nein, Du siehst dich höchstens um und hörst Dich antworten – Si, amigo, si –, Berührungen empfangend und gebend, schwitzend und in Maßen keuchend, doch weder Geld noch Manuskripte, noch Erfahrungen wechseln ihre Besitzer, und das Einzige, was Du in diesen Nächten, wenn das orange Laternenlicht von draußen und das Rattern der Klimaanlage alles ins Tropische verklären, was Du in solch verlotterten Stunden vermisst, ist lediglich die Kompaktheit einer Metapher, eines einzigen Satzes für all das. Oder etwa doch nicht, mein Freund? Weshalb nämlich schwelgt Deine Begründung, Dein Eingeständnis, Deine halbe Konkurserklärung dann derart in Details? Und weshalb noch immer dieses impertinente Grinsen, unangemessen einem Alter, in welchem andere bereits Väter sind, wissende Erzeuger von Söhnen, Töchtern und anderen bleibenden Memoiren.

    Double

    Die Hemden, die T-Shirts und die Adidas-Schuhe, Babak, die ganzen Klamotten.

    Blaue Jogginghose, selbstverständlich irgendein Markenname, und dazu das weiße Muskelshirt: der erste Eindruck im Dämmer des Clubs, an der Bar hinter der Tanzfläche. Danach die erste Nacht, zusammen verbracht. Und am nächsten Abend jenes bis zur Mitte seiner dunkel behaarten Unterarme hochgekrempelte Hemd. Natürlich auch die Jeans. Pierre Cardin, du erinnerst dich. Sind wir etwa Dritte Welt? Die perfekte Dopplung, mein Freund. Das Wagenfenster bis zum Anschlag heruntergedreht, Musik im Autoradio, Ellenbogen im Fensterrahmen. Die Rolex an der linken Hand, die das Steuer hält. Herumfahren in der Stadt, Herumsuchen, ab und zu ein scheues, ein werbendes Lächeln in meine Richtung: Siehst du? An den Kreuzungen – träge trieft der vom Rot der Ampel gefleckte Regen auf den schadhaften Asphalt, versinken die Häuschen in der Zona Una in zusätzlicher Dunkelheit – schnell die Scheiben hochgedreht, und ich frage, vielleicht ein bisschen benebelt von all den geleerten Cervezas zuvor: «Wegen der Basidsch?» Logisch, ich höre dein Lachen.

    Natürlich versteht Lucas nichts. Sieht mich von der Seite an, kneift die Augen zu und reißt sie wieder auf, beugt sich dann auf seinem Sitz ein wenig nach vorn, schaut nach oben auf den Wechsel von Gelb zu Grün und startet, ein winziges Schlingern der Reifen auf regennasser Straße.

    «Was sagst du?»

    «Wegen der Revolutionswächter, der Basidsch. In der Unterstadt rekrutierte Schlägertruppen des Regimes, die Jagd machen auf Frauen ohne Schleier, auf händchenhaltende Paare, auf Leute, die im Auto Musik hören …»

    «Und wo soll das sein?»

    Ich sag’s ihm, und er schaut mich an, als hätte ich Mars gesagt; die Welt ist zu groß. Babak, hörst du: Wo soll das sein?

    Lucas schüttelt den Kopf, ein wenig ungläubig. «Nicht deswegen. Ich möchte nur nicht beklaut werden, keine kalte Knarre vor meinen Augen haben. Nicht heute Abend und vor allem nicht hier.»

    Erneut waren wir unterwegs in Zone 1 der Hauptstadt. Schäbige, verfallene Palacios, Eisenjalousien, Rollgitter, übereinandergenagelte, morsche Bretter anstelle von Ladentüren, bröckelnde Balustraden, flügellahme, zu Fratzen entstellte Engel und Putten über Portalen, schiefe Dachtraufen neben winzigen, menschenleeren Balkonen, Regenfäden-Schicksalsfäden im Zentrum der Macht. Plaza Mayor, Kathedrale, Bischofssitz, und der Präsidentenpalast genau wie in Asturias’ Roman ein dunkelgraues Steinmonster mit barocker Lügenfassade. La nación, la dignidad, Allahu akbar! Klapp-klapp der Soldatenstiefel davor und das auf die Gewehre aufgepflanzte Bajonett nicht etwa mit blitzender, sondern enttäuschend stumpfer Spitze senkrecht über den Epauletten.

    Macht Lucas, während wir die 6. Calle hinunterfahren, das Fenster aus Angst vor den an den Ecken Herumlungernden noch immer geschlossen, Madonnas neueste CD im Rekorder, irgendwelche Bemerkungen über Kasernenspiele, über willige, geile Soldaten, kennt er Geschichten von Freunden, die irgendwann einmal mit einem von diesen …? Natürlich macht er, natürlich kennt er. Mehr noch.

    Babak, denkst du noch an meinen Spott und deine Antwort? Damals, als wir jeden zweiten Abend durch den Park Mellat schlenderten, vor und zurück, zickzack und diagonal, Blicke im Laternenlicht der Nacht, schnell weggedrehte Köpfe angesichts der Wärter mit ihren Schlagstöcken, aber trotzdem laufen laufen gucken laufen. Was haben wir schon außer dem Park? Höchstens noch die Shopping-Mall und die Terrasse von Our Fried Chicken, das vor der Revolution, höchstens meine Eltern wissen’s noch, Kentucky geheißen hatte.

    «Lucas, zeigst du mir die Stadt noch einmal?»

    «Komm schon, Stadtbesichtigung war gestern. Wir fahren ins SO 36

    Nein, kein Witz: Er hat mir eure Stadt gezeigt. Sie haben sie mir gezeigt, Lucas und zwei seiner angeblichen Freunde aus dem Club, die auf den Rücksitzen lümmelten, sich jedoch immer wieder vorbeugten, Lucas berichtigten oder ergänzten, ihn langsamer fahren hießen, um mir – da links, dort rechts – etwas zu zeigen. Oder unvermittelt zu schreien anfingen, um uns alle zu schützen. «Letzte Woche ist hier einer draufgegangen, Dios, gib endlich Gas.» Lucas, östlich des Parque Central gerade an der Iglesia La Merced angelangt, fährt dennoch weiter im aufreizenden Schritttempo, um mich auf das Kuppelmosaik und den Löwen aufmerksam zu machen und: «Da vor dem Portal hat’s einen der Helden von El Señor Presidente erwischt, dem Roman unseres Nobelpreisträgers.»

    Darauf das Protest-Stakkato von hinten: «Von wegen Held. Ein Schwein war das, Oberst José Parrales Sonriente. Außerdem haben die unseren Nobelpreisträger dann fast fürs ganze Leben ins Exil getrieben, ich hab an der Universität studiert, anstatt mich dort nur aufm Klo herumzutreiben und Typen aufzureißen, amigo

    «Und wo bist du schließlich gelandet?»

    Lucas drehte den Kopf zu mir und wiederholte laut, für alle im Wagen bestimmt: «Und wo ist er gelandet? Bei Nuestro Diario, dem Schundblatt! Nur deshalb weiß er, dass vor ein paar Tagen an der Merced wieder mal einer erstochen wurde, vom Kinn bis zum Kehlkopf aufgeschlitzt. Klaro, sie haben’s ja selbst erfunden, die Burschen, und am Morgen danach hatten’s alle, mit Bild und rotem Kreis über der Wunde, vor ihrer Nase, als sie in den klapprigen Bussen zur Arbeit fuhren.»

    «Als ob du jemals in deinem Leben Stadtbus gefahren wärst, Lucas. Hör zu, wir sind gleich da, setz Bernardo ab und dann mich. Übrigens, fahrt ihr weiter zu deiner Mutter oder ergatterst du dir eine Hotelnacht, wieder mal?»

    Klaro, Babak: Wahre Freunde. Denen man den Fremden vorführt, die sich als Stadtführer gegenseitig übertrumpfen, bis der Überdruss, die Eifersucht überhandnimmt, la gossip, nicht wahr? Was dir Shahriyar über den Weißen Palast erzählt hat, stimmt schon. Dort haben sich ’43 tatsächlich Stalin, Roosevelt und Churchill getroffen. Aber Gott, als ob er dabei gewesen wäre. Oder einer aus seiner Familie, den neureichen Protzen. Weißt du, was sein Großvater war? Sockenverkäufer! An der Ecke zur Zitadelle hat er gestanden und die von seiner Frau gestrickten Socken verkauft. Weshalb sollte ich mich nicht erinnern? Einen Knuff in deine Schulter als ziemlich sanfte Art, meinen Ärger abzureagieren. Nicht, dass Shahriyar, die aufgedrehte Tunte mit der Digitalkamera, weniger Schmock als ihr alle gewesen wäre. Aber du – gern doch, Habibi – sahst eben besser aus. Noch besser als deine aufgestylten Kumpane, so ein richtiger Good-for-nothing zum Reinbeißen und Durchnehmen, und als ich dir den Knuff gab, war doch das deine Antwort: Recht hast du. Bestraf mich. Fang schon mal an, ja? Er wird mir jetzt schon steif.

    Ich sage: «In Berlin gibt es eine Diskothek mit gleichem Namen. SO für den Südosten der Stadt, ehemaliger Postbezirk 36. Alternativ-Punk und noch immer ein Kultladen.»

    Lucas sagt, den Ellenbogen wieder über dem heruntergesurrten Wagenfenster: «Wahrscheinlich ist sie das Original. Wirst gleich sehen, was die hier daraus gemacht haben.»

    Die hier, Babak. Die Schweine, von denen einer Oberst Sonriente hieß, wenn auch nur in einem Roman. Jedenfalls nicht seine Stadt, nicht deine Stadt. Besetztes Territorium, eigentlich Feindgebiet, nur per Mittelklassewagen zu durchqueren, in regelmäßig wechselndem Outfit. Um es denen zu zeigen. Dazu sieht er ja auch noch aus wie du. Die gleiche Körpergröße und diese Witze über mich, den einen Kopf Größeren. Die penibel wegrasierten Rückenhaare, das George-Michael-Bärtchen gestern, heute die glatte Haut mit dem Duft von importiertem Aftershave. Und selbst beim Sex, ich schwör’s, die gleichen Bewegungen. Beckenkreisende Schlampenmutwilligkeit und die ewigen Dreier-Fantasien (nicht, dass ihr euren Freunden jemals gönnen würdet, gemeinsam an euren zufällig aufgepickten Ausländern herumzumachen), diese Obsession mit Orgien in Ermanglung anderer Aktivitäten, aus Mangel an Zeit, Zukunft, Hoffnung. Time is not on our side. Und gerade deshalb diese noch in winzigster Hautreibung wiedererkennbaren Umarmungen, eure Umarmungen, stammelndes Geflüster ins Ohr, Schwimmer in Seenot auf der Suche nach Land. Anfang dreißig, die Brille mit dem modisch schwarzen Rahmen regelmäßig ins Handschuhfach des Autos, in die Brusttasche des Armani-Hemds gesteckt, um blinzelnd jünger zu wirken, das ebenfalls schwarze Haar dennoch am Hinterkopf schon einen winzigen Tick gelichtet – deshalb der Kurzhaarschnitt –, und bei alldem eure dunklen Augen erschrocken oder werbend, mitunter sogar abwehrend: So schlimm ist es hier ja auch wieder nicht. Die Mundwinkel, die euch in solchen Momenten Lügen strafen. Selbstverständlich erzähl ich ihm von dir, was glaubst du? Lucas weiß nur nicht so recht, ob er begeistert sein soll, geschmeichelt oder irritiert.

    «Unser SO 36 … Dort kannst du in Ruhe was machen oder jemand mitnehmen, dem du vertraust. Der aus guter Familie kommt und dich nicht ausraubt. Nicht, dass ich allzu oft dort wäre.» Babak, hab ich’s nicht gesagt?

    Wie Lucas, nachdem er seinen Wagen in einer abschüssigen Nebenstraße geparkt, den CD-Player unter dem Vordersitz versteckt und die Türen abgeschlossen hat, dem hier schon wartenden, in Lumpen gekleideten Strichmännchen ein paar zerknitterte Quetzalscheine in die schwielige, verschmutzte Hand drückt. Wie er kurz vorm Ausflippen ist, als der Abgerissene mit schiefem Lächeln und devot gebeugtem Rücken – eine Bitte, Señor, vielleicht auch eine kleine Drohung – das Doppelte erheischt und ein weiteres labbriges, ausgeblichenes Scheinchen zugesteckt bekommt, damit er im Halbdunkel der Nacht auf den Wagen aufpasst. Schmierige Intimität, deine Worte, Babak, deine Worte. Wie nebenbei hingeworfen nach jenem Dinner in Shahriyars Wohnung, an dem Abend, als er sich – Überraschung! – angeblich zwei boys aus der Unterstadt kommen lassen wollte. Downtown-people, aber sie ficken ihn; nötig, wie er’s hat.

    Das Eisengittertor vor dem Club. Das Kopfnicken des bulligen Wachmanns im Schatten dahinter, als er im trüben, flackernden Licht der einzigen Straßenlaterne Lucas erkennt. Lucas’ jetzt schon besser versteckter Ekel, nachdem die Tür sich geöffnet hat und die schwielige Pranke des Wachmanns auf seinem dezent nach Bulgari duftenden Nacken gelandet ist. («Du hast es erkannt, nicht wahr? Mein Lieblingsduft, diese Klasse! Nein, nicht hier in der Stadt, das wäre zu teuer. Im Flughafen von San José, bei einem Zwischenstopp, zu einer dieser Superpreis-Aktionen. Eau de Toilette plus Shampoo und Aftershave, unschlagbar.» Abu Dhabi, erinnerst du dich? Die Shopping-Malls von Abu Dhabi und die verdammten Wunschlisten deiner Freunde.)

    Und auf einmal der Geruch von Sex in der Luft. Bier, Reinigungsmittel, das Rauschen der Fernseher in den türlosen Räumen. Schlierige Schemen von Achtzigerjahre-Pornos huschen über schadhafte Bodenfliesen, Quietschen der zerschlissenen Ledersofas, Stöhngeräusche aus lichtlosen Holzverschlägen, und dein Blick, Lucas, dein Blick: Hättest du hier nicht erwartet, was? Kann sich schon sehen lassen im Vergleich zu Amsterdam oder Berlin, nicht? SO 36!

    «Nicht, dass ich Berlin kennen würde. Weder London noch Madrid. Und von den Staaten auch nur San Diego, als wir, Mutter und ich, einmal Vater besucht haben, als er dort eine Art Ausbildung machte.»

    «Eine Ausbildung?»

    Klar, Babak, wieder mal richtig getippt. Natürlich war das danach, nach dem Club-Besuch. Als wir wieder im Auto saßen, dem gesicherten Wagen, eurer mobilen Heimat, wo sich reden lässt ohne Angst vor gespitzten Ohren, reden von der Zähigkeit all dessen und man dennoch losbrausen kann, Touch von Gefahr und Schnelligkeit, Illusion rasanter Existenz. Africa Boulevard, Schnellstraße und Stadtautobahn, unter den gigantischen Bildern der religiösen Führer hindurch, die jedes Brückengeländer in Beschlag nehmen, flutsch!, und gleich jagen wir an den mit Brettern und Wellblech zugestellten Ständen des Mercado vorbei, irgendwann rechts eine Kopie des Eiffelturms, Idee des skurrilen Mörder-Präsidenten Ubico, Datum 1934 (Oh, ihr Stadtkenner!), doch der Wagen braust weiter, verlangsamt das Tempo angesichts der Wachleute vor einem Bankgebäude, denn schon sind wir – wie damals in der Nähe der ehemaligen Sommerresidenz der gestürzten Pahlavis – im Norden der Stadt, haben eine andere, eine bessere Zone erreicht, Una Dos Tres et Viva la Vida!

    «Eine Ausbildung, Lucas?»

    Du siehst, Babak, die gleiche Vertrautheit. Sekundenkomplizenschaft, der Schwimmer und das Ufer, das vermeintliche, dabei habe ich weder Wagen noch wohlhabende Familie, ich nicht, Reisender mit leichtem Gepäck und gewissem – ja, das schon, ich sehe dein Grinsen – sagen wir: Gespür. Eine Ausbildung?

    Lucas macht sich am CD-Player zu schaffen, der sich wieder an seinem Platz befindet, aber noch singt Madonna nicht, auch ist zumindest der rechte Hemdärmel – «right hand, action hand» – ach Babak, deine Sprüche – nur nachlässig nach oben gerollt, Erinnerung an das Treiben kurz zuvor in einem der Räume, in dem eine Glühbirne baumelte und zwei Plastikstühle standen, auf denen irgendwann zwei herangeschlurfte Jungs mit vollem, blauschwarz schimmerndem Haarschopf Platz nahmen. Dein Flüstern, Lucas, deine Lippen an meinem Ohr. Just Mayas, but usually they suck well. Und doch warst gleich darauf du es, der auf die Knie gegangen ist, deine Pierre-Cardin-Jeans-Knie auf dem von Zigarettenkippen und Speichel besudelten Boden, auf Shahriyars edlem Wohnzimmerteppich, und die Jungs, die du Mayas nanntest, Basari-Handlanger aus dem Südteil Teherans, bedientest, deine Augen schamhaft von meinen abgewandt angesichts ihrer ausgeleierten Slips, ihres verschwitzten Schamhaars, ihrer großen Dauer-Thema-Eurer-Partys-Schwänze, doch gleichzeitig als Geste des Vertrauens dein hochgereckter Arm (der so eilig hochgekrempelte Hemdärmel) und in deiner Faust Autoschlüssel und Geldbörse, mir zur Aufbewahrung, zum Schutz übergeben.

    Lucas fummelt weiter am CD-Player herum, der sich wieder an seinem Platz befindet, aber noch singt Madonna nicht, gerade fahrt ihr an den Betonklumpen der neuen Ministerien vorbei, unter den Bäumen davor erneut allerlei Herumlungernde, Lucas nimmt und nimmt den Fuß nicht vom Gaspedal, und auf einmal sehe ich, wie ein Aufblitzen und gleichzeitiges Verlöschen, dieses Zucken im Gesicht, schmerzversehrte Zehntelsekunde.

    «Ich lebe bei meiner Mutter. Sie hat dieses Apartment in Zone 10, und wir verstehen uns prächtig.» Lucas …?

    Natürlich ging es mich nichts an, Babak, natürlich weiß ich das. Natürlich wollte ich mehr erfahren. Erinnere dich, meine Fragen hatten dich ebenfalls gelöchert. Damals, als ich durch die Wohnung ging, deine Mutter in der riesigen Küche beim Zubereiten des Lunch und so froh für ihren Sohn, den Traurigen, den Schönen, den im abgesteckten Rahmen seiner Touristenvisa Weltreisenden, dass er in Amsterdam diesen Deutschen aufgetan und mit ihm Freundschaft geschlossen, ja ihn sogar hierher nach Teheran gebracht hatte: Komm und sieh! Und was ich sah, Babak, war deine Mutter, deren Foto auf dem Nachttisch deines Zimmers stand, in dem wir schliefen, ohne dass es hochgezogene Augenbrauen gegeben hätte – sogar geklopft hat sie, als das zweite Telefon schrillte, draußen im Vestibül, und am Apparat dein Vater. Hatte ich nach dem Abendessen bei ihm etwa keine Fragen gestellt, als wir – wieder einmal – durch die Stadt rasten, die Musik an den Ampeln schnell leise stellten und du auf den Park zeigtest wie Lucas jetzt mit seiner Rolexhand auf ein schmiedeeisernes, rundes Urinal, ebenso wie die lächerliche Eiffelturmkopie eine Marotte jener inzwischen nur noch korrupten, bis vor Kurzem jedoch blutrünstigen Herrscher, von denen er mir nicht erzählen will, weil es in diesem Urinal eben manchmal nach Einbruch der Dunkelheit ja doch action gab, mitunter sogar – oh Lucas, Dein entschuldigendes Lächeln – mit einem oder zwei der schwarz uniformierten Polizisten, die nicht zum Abkassieren oder Schlagen, sondern zum Abschlagen ihrer Körpersäfte hierhergeschlendert waren. Und dennoch wollte ich es wissen, ein wenig müde eurer mit dem schlechten Gewissen wollüstiger Pubertierender vorgetragenen Teheraner Verbotsübertretungs-Geschichten, wollte wissen, weshalb deine Mutter allein lebt, die Frau in der Küche, im Salon, die auf dem Foto neben deinem Bett aussieht wie Romy Schneider, einen kleinen Babak mit Kapitänsmütze auf dem Arm, glasgerahmtes Venedig 1973.

    «Weil sie es ihm nie verzeihen konnte, sechs Jahre später die Familie hierher zurückgebracht zu haben. Weil er das schon Erreichte im Ausland so schnell aufgegeben hatte, nur um mit den Mullahs Geschäfte zu machen, geblendet von windigen Versprechen. Weil er kurz darauf alles, fast alles verlor und wir nun hier festsitzen und nicht mehr rauskönnen. Weil sie wegen lackierter Fingernägel im Haus der Revolutionswächter zusammengeschlagen wurde, während er gerade mit einflussreichen Basaris, die gute Drähte nach oben besaßen, um irgendwelche Konzessionen feilschte.

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