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Als Jonathan starb: Roman
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eBook219 Seiten4 Stunden

Als Jonathan starb: Roman

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Über dieses E-Book

Der junge Maler Jonathan lebt allein und abgeschieden auf dem Land. Immer wieder wird Serge zu ihm 'abgeschoben', der Sohn einer Freundin aus Paris, die keine Lust hat, sich um ihn zu kümmern. Serge ist im wörtlichen Sinn ein 'ungezogener' Junge: egoistisch, amoralisch, ohne Werte. Er brät Regenwürmer, experimentiert mit Schnecken und Kröten und spielt an seinem Körper herum. Und an dem von Jonathan. Jonathan weiß, dass das nicht sein darf. Dennoch gibt er Serge den Raum, den der sich sowieso erobert.

Mit großer Diskretion schrieb Duvert Ende der 1970er Jahre diesen komplexen Gesellschafts-, Erziehungs- und Liebesroman, der von der französischen Presse hoch gelobt wurde.

"Ungewöhnliche Sinneseindrücke und tiefgehende Erinnerungen. Man lernt, dass Liebe stirbt, wenn sie gesellschaftsfähig wird." (Le Monde)
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Feb. 2011
ISBN9783863000202
Als Jonathan starb: Roman

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    Buchvorschau

    Als Jonathan starb - Tony Duvert

    TONY DUVERT

    ALS JONATHAN STARB

    Roman

    Aus dem Französischen

    von Joachim Bartholomae

    Männerschwarm Verlag

    Hamburg 2011

    «... zwei Buben, die nicht weiter vorwärts dachten

    Als solch ein Tag wie heut sei morgen auch

    Und dass wir ewig Knaben bleiben würden.»

    Shakespeare, Wintermärchen

    ERSTER TEIL

    Der kleine Junge kam in die Küche, und ihm fiel auf, dass merkwürdige Dinge auf dem Boden standen.

    Aber er sagte nichts. Seine Mutter unterhielt sich mit Jonathan. Also machte Serge sich auf Erkundungsreise durch das unbekannte Haus. Es gefiel ihm nicht, vom Gespräch ausgeschlossen zu sein.

    Dann ging seine Mutter ohne ihn fort. Er sah ihr nach. Ein kleiner Weg führte zur Straße; dort stand ihr Wagen. Jonathan schloss die Gartenpforte, fasste das Kind an den Schultern und schob es zurück in die Küche. Es war Vesperzeit. Serge nahm ein Butterbrot mit Marmelade und ein Glas Milch. Und während es sich den Mund vollstopfte, zeigte das Kind Jonathan die seltsamen Dinge auf den Fliesen.

    «Warum tust du das dahin?»

    «Es ist für die Mäuse», sagte Jonathan.

    Eine Schale mit Milch, eine Schale mit Marmelade und eine dicke Kruste Brot.

    «Trinken sie Milch?»

    «Ja, sie trinken Milch.»

    Serge gefiel Jonathans leichter Akzent. Ein deutscher Akzent oder ein englischer oder ein holländischer, schwer zu sagen: Jonathan war zu viel gereist, er hatte keine Herkunft mehr. Serge wollte diese Stimme nachahmen; die Worte waren sehr deutlich, ruhig, ein bisschen schüchtern, wie naive Gegenstände, die keinen Schatten warfen.

    «Haben sie eine Zunge?», fragte Serge.

    «Ja, sicher. Eine kleine rosa Zunge, sehr beweglich. Sie mögen das. Sie lecken auch die Konfitüre aus; es ist Himbeere, die kleinen Körner lassen sie liegen.»

    «Also wenn ich so was esse, dann mag ich das lieber von Aprikosen», sagte Serge, der wohl fand, dass sein Vesperbrot den Vergleich zur Mahlzeit der Mäuse nicht standhielt. «Warum gibst du ihnen denn überhaupt zu essen?»

    «Das weiß ich nicht.»

    Serge aß sein Butterbrot von innen nach außen. Er zerrte das Weiße mit der Butter heraus und ließ die hufeisenförmige Kruste liegen.

    «Ich mag sie gern», fuhr Jonathan fort. «Sie sind hübsch, hast du schon welche gesehen? (Serge verneinte.) Ihr Schwanz ist ungefähr so lang, sie können damit wackeln, so ähnlich wie die Ohren von deinem Hund, wenn er mit dir redet (Serge sagte sehr schnell, wir haben keinen Hund mehr, Mama hat ihn weggegeben), wirklich? und Pfoten wie eine Katze oder ein Eichhörnchen, hast du schon Eichhörnchen gesehen? (Serge sagte, ja, wir haben eine Katze, es ist ein Junge und er heißt Julie), sie sind weich, ganz weich!»

    «Oh, hast du schon welche angefasst? Meine Mutter war das, die unsere Katze Julie genannt hat, aber sag mal, hast du wirklich Mäuse angefasst?»

    «Nein, sie haben zu viel Angst. Hat deine Mutter diesen Kater wirklich Julie genannt?»

    «Ja, natürlich, also du hast keine angefasst.»

    «Doch, aber sie war tot. Ich habe sie trotzdem berührt. Sie lag neben meinem Bett.»

    «Hast du Mäuse im Zimmer?»

    «Ja, sie kommen am Abend. Um die Zeit gehen sie spazieren, und ich lauere ihnen auf. Ich habe nämlich Butterkekse auf dem Nachttisch liegen.»

    «Du legst ihnen Kuchen hin?»

    «Nein, nur für mich; wenn ich nachts aufwache und nicht schlafen kann, dann bekomme ich Hunger.»

    «Sag mal, sind Mäuse Jungen oder Mädchen?»

    «Mach keine Witze, es gibt beides.»

    «Ach ... Also manche Mäuse sind auch Jungen?»

    «Ja.»

    «Und kann man sehen, ob es Jungen sind, wenn sie essen?»

    «Nein, das sieht man nicht. Man muss sie beim Schwanz packen und dann ganz genau dahin gucken.»

    Jonathan zeigte vorsichtig mit dem Finger auf den Hosenschlitz des Kleinen. Serge fing an zu lachen:

    «Wie bei Julie, da kann man die Eier auch sehen! Du musst mich waschen, ich bin ganz dreckig.»

    Das Haus, das Jonathan gemietet hatte, lag einen knappen Kilometer vom Dorf entfernt. Auf einer schadhaften Lehmpiste an Büschen, Wiesen und kleinen Bauernhäuschen entlang konnte man diese Strecke leicht zurücklegen. So gelangte man schließlich zu einigen lichtüberfluteten Hügeln, die zum schattigen Fluss hin abfielen. Die Haselnuss-sträucher hingen so tief in den Weg, dass man hindurchkriechen musste, und die Kätzchen puderten einem dabei Gesicht und Nacken.

    Jonathans Haus war klein, wie auch das Dorf klein war. Es lag in einem lächerlich kleinen Garten, denn Gärten auf dem Lande sind immer winzig. Jenseits des von Winden überwucherten Zauns erstreckten sich, hügelig und still, die kahlen Äcker. Die Bäume schienen aus tausend Funken zu bestehen, die unentwegt blinkten, und das feuchte Gras der Wiesen wogte nur leicht.

    Es wurde Juni.

    Kein Zweifel, Jonathans Haus hatte einmal zu einer kleinen Siedlung gehört: Das einzige Nachbarhaus, gleich nebenan, war ihm sehr ähnlich. Es sah eigenartig aus, der Baustil war unverfälscht erhalten, und es war schmutziger. Eine alte Bäuerin wohnte darin. Auf der Wiese stand außerdem die Ruine eines großen Gebäudes, die noch nicht von Efeu und Unkraut überwuchert war: Die Mauern, so gelb, steil und verfallen sie waren, hätten sich ebenso gut in der grellen Wüstensonne emporrecken können, wären sie nicht von Brennnesseln gesäumt gewesen, die höher und dichter wuchsen als Farn.

    Ein Brief hatte Jonathan die Ankunft Barbaras und ihres Sohnes Serge angekündigt. Er hatte sie vor achtzehn Monaten durch einen Freund kennengelernt. Wegen des Jungen hatte er sie manchmal besucht. Damals wohnte er noch in Paris: Serge war damals sechseinhalb, Jonathan siebenundzwanzig Jahre alt.

    Das Kind und der Mann hatten sich auf ihre Art sehr geliebt. Trotzdem hatte Jonathan, von so vielem angewidert, Paris bald verlassen und sich in dieses Nest zurückgezogen, allerdings ohne mit seinen Bekannten zu brechen.

    Seitdem sprach er wenig, beantwortete selten Briefe, empfing keine Freunde, und sein Intimleben beschränkte sich auf einsame Zärtlichkeiten und weniger einsame Erinnerungen. Er arbeitete nicht mehr viel, entwarf nur einige Zeichnungen mit Tinte oder Bleistift. Seine Galerie schickte ihm dafür gutes Geld, das Jonathan gar nicht brauchte.

    Der Gedanke, Serge wiederzusehen, bestürzte ihn. Barbara wollte den Jungen eine Woche bei ihm lassen, eine kleine Reise in den Süden unternehmen und ihn dann wieder abholen. Sie war nicht verheiratet und setzte Serge manchmal hier und da ab. Sie führte ein recht lockeres Leben. Als Jonathan noch in Paris wohnte, hatte er mitunter auf den Jungen aufgepasst, dann schliefen sie zusammen in einem Bett. Morgens wusch er ihn, zog ihn an und brachte ihn zur Schule. Ihre Freundschaft war so seltsam, dass Barbara erleichtert war, als Jonathan sich zurückzog. Serge war oft jähzornig gewesen, doch als er Jonathan kennenlernte, verhielt er sich ganz sanft, allerdings nur ihm gegenüber. Nach dessen Abreise wurde er verschlossen und passiv. Das gefiel Barbara.

    Jonathan fragte sich, warum sie es wagte, ihm den Kleinen erneut anzuvertrauen. Es kam ihm vor wie ein Tauschgeschäft. Barbara war oft knapp bei Kasse, und Jonathan half ihr gern, wenn er konnte. Vor zwei Monaten hatte er ihr ein Darlehen gegeben, das den Namen nicht wirklich verdiente, denn er wusste nicht, wie man so etwas macht. Barbara hatte sich mit einem zweiseitigen Brief bedankt, der neben lauter Geschwätz auch einen Absatz über Serge enthielt, was ungewöhnlich war. Sonst schrieb sie ihm nie über das Kind.

    Dieses unerwartete Geschenk hatte Jonathan überrascht. Ich hoffe, Du erinnerst dich manchmal an meinen entzückenden Sohn!! ... Er scheint Dich vollkommen vergessen zu haben!!!! ... Ich erzähle ihm von Dir – wir hätten uns fast im Dezember Deine berühmte Ausstellung angesehen! ... Aber das interessierte den Herrn dann nicht so sehr ... Nun, in seinem Alter vergisst man schnell, vielleicht ist es besser so, findest Du nicht ... Aber Du weißt nicht, wie entzückend er jetzt ist!!!!, schrieb Barbara in ihrer Sprache aus Strichen und Punkten. Sie fügte hinzu, dass Serge in der Schule endlich Disziplin lernte, sie immer mehr liebte, abends wie ein kleiner Liebhaber in ihr Bett kroch; er war eine Heulsuse geworden, aber so lieb. Ehrlich gesagt ist mir das lieber, als wie er noch die ganze Bude in Stücke schlug!! Ach, diese Kinder! ...

    Diese wunderbaren Nachrichten hatten Jonathan in Verzweiflung gestürzt.

    Der Brief, der den Aufenthalt des Sohnes versprach, erwähnte auch die Geldsorgen, in denen die Mutter sich befand. Das Spiel war so unverschämt, dass Jonathan schon befürchtete, Barbara käme in Wirklichkeit allein.

    Serge ließ sich die Hände abtrocknen.

    «Du warst gar nicht schmutzig», bemerkte Jonathan.

    «Nein, ich war nicht schmutzig, nur ein bisschen, damit du mich wäschst.»

    In Paris war das Kind mit Jonathan unter die Dusche und am liebsten sogar mit aufs Klo gegangen.

    «Weißt du, ich habe hier gar keine Dusche.»

    «Und warum nicht?», fragte Serge. Er wandte den Kopf und sah plötzlich so jähzornig aus wie in seinen wilden Jahren.

    «Warum bist du weggegangen?»

    «Letztes Jahr? ... Du weißt, dass ich bei dir bleiben wollte», sagte Jonathan. «Ich hätte dableiben sollen, aber ich hatte nicht den Mut. Deine Mutter bringt mich um.»

    «Warum bist du weggegangen?»

    Jonathan lebte sparsam. Ihm fehlten viele Sachen, die er brauchte, um das Kind aufnehmen zu können. Er hatte zu wenig Laken, nur ein Kopfkissen und einen Bezug, ein einziges Küchenhandtuch. Er wusch alles selbst. Sein einziger Luxus war Wein für traurige Stunden und ein verschlossenes Zimmer, um sie zu überstehen. An solchen Tagen brauchte er Riegel, Decken, einfach alles, das ihm half, das Leben festzuhalten und daran zu hindern, ihm zu entweichen. Wenn der Kleine ihn in wenigen Tagen wieder verließ, würde Jonathan einen Schmerz erfahren, den er vielleicht nicht mehr besiegen konnte: Sein Widerstand gegen den Tod wurde schwächer und schwächer.

    Er überschlug seine finanziellen Möglichkeiten und ging in den Nachbarort, um Lebensmittel, Einrichtungsgegenstände und andere Dinge zu besorgen; er fuhr sogar in die Kreisstadt. Er mietete einen Kühlschrank. Auf den Bauernhöfen kaufte er mehr Lebensmittel, als er in zwei Monaten essen konnte. Er besorgte sich auch einen Spiegel – den würde er dann später zerbrechen. Er betrachtete sich darin, musterte seine Kleider, seine Haare, seine Hände und sein Gesicht und verbrachte dann den ganzen Tag damit, sich zurechtzumachen.

    Er putzte das Haus gründlich, strich den Gartenzaun, schraubte die Riegel von der Tür seines Zimmers ab und riss die Fetzen herunter, mit denen er die Fenster verdunkelte. Er stellte eine Tischuhr in die Küche, kratzte die angebrannten Töpfe aus, wischte alle Fliesen, alle Kacheln, putzte die Fensterscheiben, legte eine frische Decke auf den Tisch, ließ sich Vorhänge nähen und ersetzte die nackten Glühbirnen durch richtige Lampen. Er besorgte Spiele, Spielzeug, Bilderheftchen, Medikamente, und er ließ sich geduldig beraten, um auch das richtige Alter zu treffen.

    Beim Spielwarenhändler sagte er, er hätte einen Sohn. Kaum war er aus dem Laden, bereitete ihm diese Lüge so viel Scham und Schmerz, dass er das Paket fast auf einer Bank liegen gelassen hätte.

    «Hoffentlich kommt er nicht», dachte er schließlich.

    Sie gingen nach oben, um Serges Kleider in den Schrank zu räumen. Dort stand auch ein hohes und großes Bett. Dies war das einzige Schlafzimmer im Haus, das mitsamt der Küche nur aus drei Zimmern bestand. Neben dem Bett hatte Jonathan auf Böcken den Tisch aufgestellt, an dem er arbeitete. Auf dem Tisch lagen große, akkurat ausgeführte Skizzen, und die Holzplatte selbst war mit üblen Kritzeleien übersät.

    «Diese Zeichnungen da, hast du die gemacht?», fragte Serge.

    «Ja, die sind von mir.»

    «Sind die gut?»

    Jonathan lächelte:

    «Gefallen sie dir denn?»

    «Meine Mutter macht auch solche Zeichnungen. Und Gemälde.»

    «Ja, ich erinnere mich.»

    «Hast du denn welche verkauft? Sie hat nämlich nichts verkauft.»

    «Das ist nicht einfach.»

    «Genau. Wir gehen zu den Straßencafés und in die Restaurants, mit Dominique, wir zeigen sie den Leuten, die da essen, aber sie haben kein Geld. Verkaufst du auch in Restaurants?»

    «Hm – nein», sagte Jonathan etwas verlegen, «ich bin in Paris abends wenig ausgegangen. Meine Zeichnungen erscheinen in Zeitschriften und in Büchern, und ich habe eine Galerie; die schicken mir mein Geld.»

    «Eine Galerie?»

    «Na ja – ein Laden.»

    «Dann arbeitest du also nicht, du bist die ganze Zeit zu Hause.»

    «Ja.»

    «Mama arbeitet jetzt.»

    «Ja, sie hat es mir gesagt.»

    «Nachmittags ist sie Sekretärin. Aber nicht jeden Tag. Denn sie schreibt Musik, Lieder, sie schreibt keine Noten, sie singt. Jacques schreibt die Noten. Aber sie erfindet alles. Sogar die Worte. Er hat eine Gitarre. Kennst du Mamas Lieder?»

    «Nein, das wusste ich gar nicht. Sie hat mir nie etwas vorgesungen.»

    «Das ist auch gut so, sie singt nämlich total falsch.»

    «Hm – und singt jemand anderes die Lieder?»

    «Nö, keiner. Manchmal bringt sie mir zusammen mit Jacques welche bei.»

    «Verstehe – da hast du aber Glück.»

    «Na ja, geht so.»

    «Also gut.»

    «Aber warum machst du denn keine Zeichnungen wie Micky Maus?», fing Serge wieder an.

    «Na ja, das ist mir ... zu ... zu blöd. Ich zeichne lieber Kühe. Willst du eine Kuh?»

    Sie setzten sich nebeneinander vor das Zeichenbrett, und Jonathan nahm ein großes Blatt aus der Mappe.

    «O ja. Oder warte – ein Schwein. Und eine dicke Kuh. Und Donald, du weißt schon, Donald?»

    Jonathan gehorchte. Es war ihm nicht peinlich, dem Jungen den Gefallen zu tun. Seine Hand war in allem geübt. Für die Augen des Kleinen waren nur diese klaren und ironischen Bilder lesbar, und sie bereiteten ihm das gleiche Vergnügen wie einem seriösen Komponisten, mit einem Jungen Kinderlieder zu summen.

    «Ich kann eine Katze zeichnen», sagte Serge, «ich zeichne sie da hin, sie lacht, aber sie hat keine Pfoten. Und was machst du da?»

    «Das? Das ist ein Apfel mit vielen Haaren.»

    «Was? Das gibt es nicht! Gibt es so was?»

    «Hier gibt es so was. Nein, Serge, ich zeichne dich. Schau, was jetzt kommt.»

    Und Jonathan entwickelte unter dem Schädel mit den fein verwobenen Haaren Serges Profil, wie er es neben sich sah. Sein Strich war fließend und zart, und die Schönheit, die seine Hand fast gegen seinen Willen schuf, verwirrte ihn. Aus seiner Liebe zu Kindergesichtern hatte er sich im Laufe der Jahre eine technische Fertigkeit erarbeitet, die er für sich behielt. Nie hätte er diese Porträts jemandem gezeigt. Seine bekannten Werke, die ihm einen Namen gemacht hatten, waren streng und scherten sich nicht um Figuration. Der Junge beschwerte sich, er hätte kein Ohr, und als das erledigt war, sagte er:

    «Und jetzt du, jetzt zeichne ich dich.»

    Er nahm ein halbes Dutzend farbige Filzstifte und zeichnete in Rot, Blau, Gelb und Rosa einen Jungen mit Augenbrauen wie Sterne, der von einem Ohr zum anderen grinste, eine grüne Blume in der Hand hielt und sehr lange Beine hatte, weil es ja ein Erwachsener war.

    «Das bin ich?», sagte Jonathan leise. «Ich bin hübsch.»

    «Ja, das bist du. Weil du so lange Beine hast. Und das ist dein Pullover.»

    Die Farbe des Kleidungsstücks überraschte Jonathan: ein leuchtendes Blau mit einem roten Streifen über der Brust. Seit einem Jahr hatte er es nicht mehr getragen.

    «Das ist ja mein alter, der aus Paris. Zum Glück habe ich ihn noch. Ich werde ihn wieder anziehen.»

    «Das brauchst du nicht», sagte Serge leise. Und er beschmierte seine Katze ohne Pfoten mit brauner Farbe.

    Jonathan hatte zum Abendessen zwei Tauben. Sie mussten erst gerupft werden. Das gefiel Serge. Die Vögel faszinierten ihn. Er war mit einem Mal ganz der Alte und stopfte sich blitzschnell die vier Flügel in die Taschen.

    «Mit all diesen Flügeln wird die Hose davonfliegen», sagte Jonathan.

    «Ist mir egal!», sagte der Kleine und stopfte auch die Fäuste hinein.

    «Es wird kalt. Ich nehme sie aus, und wir braten sie im Kamin, wir machen dort ein schönes Feuer, ja?»

    Der Kamin war im anderen Zimmer. Serge war mit dem Feuer einverstanden. Außerdem wollte er noch Pommes frites. Er verbrannte eine Handvoll Federn im Feuer, und weil es so stank, fing er an zu lachen. Als er aufstand, war er ganz rot und erregt.

    «Endlich wachst du auf», sagte Jonathan. «Heute Nachmittag mit deiner Mutter warst du tot.»

    «Das ist nicht wahr!», protestierte Serge. Sein Gesicht versteinerte sich. Er schmollte und blickte finster in die Flammen.

    «Außerdem habe ich keinen Hunger», behauptete er schließlich und warf Jonathan einen lauernden Blick zu.

    «Das macht nichts, man kann es auch kalt essen ... Wenn du wütend bist, habe ich Angst vor dir», flüsterte Jonathan und beugte sich ebenfalls über das Feuer. Seine Stimme zitterte, er weinte fast.

    «Bitte mach mir keine Angst, Serge», fügte er hinzu, «das halte ich nicht aus, ich habe keine Kraft. Nein, ich kann das nicht, ich gehe ins

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