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Kritische Masse: Radsport-Krimi
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eBook250 Seiten3 Stunden

Kritische Masse: Radsport-Krimi

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Über dieses E-Book

Nur 500 Kilometer trennen Rom von der afrikanischen Küste. Der Schwarze Erdteil ist plötzlich ganz nah, als sich zwei Radfahrer aus Uganda in der Ewigen Stadt aufhalten, denen Rudi, ein deutscher Journalist und besessener Radfahrer, und seine römischen Fahrradfreunde durch Spenden helfen wollen. Rudis Partnerin, die karrierebewusste Chiara, verhandelt indessen mit einem ugandischen Politiker. Geht es dabei um Waffen? Diplomatische Verwicklungen sind unausweichlich. Der Charme der amerikanischen Jazz-Sängerin Cherry verführt Rudi, dubiose Agenten tauchen auf, und die Handlung gipfelt in einem Showdown: In Rom findet ein „Critical Mass“ statt, am Tag nach dem US-Einmarsch im Irak, und niemand ahnt, dass es dabei um Leben und Tod gehen wird … Ein ambitionierter literarischer Krimi, der gekonnt die Faszination Roms einfängt und auf mehreren Ebenen spannend und zeitlos ist.

SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum21. Apr. 2017
ISBN9783957642141
Kritische Masse: Radsport-Krimi

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    Buchvorschau

    Kritische Masse - Manfred Poser

    1

    Auf der Piazza Venezia winkt ein Mann in dekorativer Uniform von seinem Podest herab mit weißem Handschuh einen schwarzen Motorroller an der Einmündung der Via del Corso vorbei. Das Geknatter ebbt ab; kein motorisierter Kunde sonst. Der Blick des verhinderten Verkehrsdirigenten fällt in den Corso hinein, überstreicht ein Gewimmel von Fußgängern und erreicht mit Lichtgeschwindigkeit die entfernte Piazza del Popolo. Dann schaut der Polizist in die entgegengesetzte Richtung und sieht jenseits der Via dei Fori Imperiali über ein paar Buden hinweg ein Stück vom Kolosseum. Schön, gewiss, aber lieber würde er den Verkehr dirigieren, der ausbleibt, und so wirkt er wie eine Statue, die sich aus den Kapitolinischen Museen hierher auf die stille Piazza Venezia verirrt hat.

    Später Vormittag mitten in Rom. Die kleinen Pflastersteine, Sanpietrini genannt, brüten unter der Sonne. Man hört plötzlich um elf Uhr Kirchenglocken, was einen Trupp japanischer Touristen mitten auf der Fahrbahn zum Stehenbleiben veranlasst. „Subarashiga okorimashita!" rufen sie. Ein Wunder!

    Fünf Möwen kreisen über dem „Altar des Vaterlandes", dem marmornen Obermonster der italienischen Republik. Ein Elektroroller befährt die Via Labicana, die vom Kolosseum weiterführt in Richtung Manzoni. Eine orangefarbene Tram steht verlassen mit aufgeklappten Türen da wie im Freilichtmuseum. Rechts geht es den Hügel hoch zur Basilika San Giovanni in Laterano: Auch da hängen nur grüne Bäume über leeren Asphalt. Erhebend ist der Blick die kilometerlange Straße Cristoforo Colombo entlang, die sich bis zum Verwaltungsviertel EUR darbietet als stilles blasses Band. Heute ist die Stadt, in der wir leben, fast leer. Was ist da los?

    Wenn Ferdinand Gregorovius das wüsste! Als er neu war in der Stadt, dichtete er: „Rom ist so tief still, dass man hier in göttlicher Ruhe empfinden, denken und schaffen kann. Diesen Satz las ich mit großen Augen. Sieben Jahre später, im April 1859, hatte sich nichts geändert: „Auf dem faulsten Fleck Europas lebt man wie im Traume fort. Gregorovius, ein Ostpreuße, der das Preußische nicht leiden konnte, war eigentlich Journalist. Er träumte davon, die Geschichte Roms zu schreiben, und er erfüllte sich den Traum. Beschwatzte verarmte Adelige und verhärmte Bürokraten, ihn in ihre Archive zu lassen, wo er in Kellern alte Folianten wälzte und staubbedeckt wieder emporstieg. Es war eine einsame Arbeit zwanzig Jahre lang, während der ihn niemand störte. „Rom ist still und schwül, wie aus der Welt verloren, wie in sich eingesponnen und verzaubert. Der Scirocco weht auch immerdar. Die aufgeregtesten Momente der Zeit fallen hier wie tonlos in die Ewigkeit nieder." Wie schön!

    Ich möchte stundenlang mit meinem alten Tourenrad dahinpedalieren und tue es auch und winke lässig schönen Frauen zu. Es ist ein frühsommerlicher Tag. Ich umkurve mit dem Rad den Sportpalast von 1960 und rolle hinunter zum kleinen See, beschleunige auf vierzig und zische an den breitbeinigen, schwerknochigen Ministeriumspalästen des Viertels EUR vorbei, frei und frei und nochmals frei. So kann Rom bleiben.

    2

    Der „ökologische Sonntag, bei dem Autos die Zufahrt ins Zentrum verwehrt ist, findet leider nur alle vier Wochen statt. Die restlichen 29 oder 30 Tage verbringt, wer Italien liebt, besser in Torvajanica oder Cerveteri. Gerade ist dieser „Domenica ecologica zu Ende gegangen, der Umweltsonntag mit seinen geführten Radtouren durch die Parks und den vielen Ständen von Umweltverbänden zwischen dem Vaterlands-Altar und dem Kolosseum, auf der holprigen Straße der Kaiserforen. Die linke Stadtverwaltung macht das am Sonntag, um die Autofahrer der Stadt nicht allzu sehr zu behelligen und weil da der motorisierte Verkehr ohnehin minimal ist.

    Radfahrer dürfen jubeln. Sie sind sonst die barfüßigen Bettelmönche im Verkehr Roms, die unsichtbaren Kapuzenträger, die Todgeweihten. Morituri te salutant, Schumi, du großer Gott der Geschwindigkeit! Wir setzen jeden Tag unser Leben aufs Spiel, aber sich Verstecken gilt nicht. Nach einer überschlägigen Rechnung gibt es 5.000 Alltagsradler unter den drei Millionen Bewohnern Roms. Auf zehntausend Autos entfällt ein Fahrrad. Von hundert Römern lenken siebenundsiebzig ein Automobil, und die restlichen sind Säuglinge, Rentner, Kranke oder Versager.

    Ein Wahnsinn ist der Verkehr dieser ehemals ruhmreichen Stadt, einem heute stinkenden, zugestauten und zugeparkten „Biwak auf Ruinen", wie der Schriftsteller und Satiriker Ennio Flaiano geschrieben hat. Rom stranguliert und vergiftet sich selbst. Die Römer sind hoffnungslos abhängig von Motoren. Auch in größter Not ist immer noch Geld für einen kleinen silbernen Flitzer da. Es gibt 35 Kilometer U-Bahn, wo man 350 Kilometer bräuchte. Es gibt 40 Kilometer Radwege, wo das kleine Freiburg im Breisgau 400 Kilometer hat. Man könnte jeden Freiburger in ein Auto in Rom setzen, und es wären immer noch 1,6 Millionen Autos übrig. Dann packt man alle Kölner hinein, und immer noch sind 600.000 Autos ohne Fahrer. Nehmen wir noch Nürnberg dazu. Nein, es gibt keine Rettung mehr, denn jedes Jahr werden es 30.000 Autos mehr. Demnächst will man das Kolosseum zur Parkgarage machen und San Paolo fuori le Mura entweihen, denn innen ist noch Platz für 100 Autos, und wenn die Besitzer täglich 7 Euro zahlten, wäre das viel warme Suppe für den Vatikan.

    Hier alles ruhig. Sonntagabend. Ich sitze auf der Terrasse, die Beine aufs Geländer gelegt, einen „Pink Gin in der Hand und denke also über den baldigen Untergang der Ewigen Stadt nach. Heute war’s noch nicht soweit. Ich habe an einer Fahrrad-Defilée mit dem Bürgermeister und dem Umweltminister des Landes vom Kolosseum bis zum Beginn der Via Appia antica teilgenommen, aber beide Funktionäre habe ich nicht gesehen. Sicher war ich zu schnell. Dann, um drei, haben Romolo und ich auf einem abseits gelegenen Platz im alten Monteverde-Viertel Fahrräder repariert, die Bürger zur Feier des Tages aus ihren Kellern und Garagen gezerrt hatten. Dass diese verrosteten, altersschwachen Krücken, an denen Spinnweben hingen, keine Alternative zum Alfa darstellen, konnte sogar ich sehen. So haben wir eben notdürftig Bremsen zurechtgebogen, Schläuche repariert, Speichen begradigt: Notfallmedizin, würde ich sagen. Auch Pietro, der Rentner von der „Tanke an der Colli Portuensi, hat mitgeholfen. Um sechs Uhr habe ich dann mein segensreiches Wirken beendet.

    Ich schwenke mein Glas, die Eiswürfel klingeln, die Flüssigkeit erinnert an den Himmel bei Sonnenuntergang und hypnotisiert mich. Und dieser Moment der geistigen Leere und gleichzeitig höchsten Konzentration ist der richtige, um eine wichtige Bemerkung zu machen. Wir befinden uns zwar in der Ewigen Stadt, doch eine Zeitrechnung kennt auch sie. Es ist der März des Jahres zweitausenddrei. Im Vatikan drei Kilometer südwestlich von hier nimmt ein kranker polnischer Papst sein Abendessen zu sich, im Palazzo Chigi drei Kilometer exakt südlich näselt der reiche Regierungschef Berlusconi eine witzige Bemerkung in elf Mikrofone, im 1800 Kilometer entfernten Berlin führen sich an einem Kiosk in der Straße Unter den Linden die gewichtigen Könige von Deutschland, die Herren Schröder und Fischer, je eine Currywurst zu, umgeben von hungrigen Leibwächtern, und Rudi Völler ist Bundestrainer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft.

    Das ist die gegenwärtige Lage. Aber von der Perspektive einer „ewigen Stadt" aus ist es nur eine Momentaufnahme. Regierungen und Staatsmänner kommen und gehen, Trainer werden entlassen, die Zeit verrinnt, und Momente und Monumente fallen in die Ewigkeit, tonlos, ohne große Wirkung zu hinterlassen.

    Im „Corriere della Sera (in Italien gibt’s auch am Sonntag die Zeitung), den ich kurz durchblättere, steht im Lokalteil der Artikel „Tod in der Camilluccia. Fünf Mädchen und Jungen sind vorgestern in der Nacht von einem Abend mit Freunden heimgefahren, es ist 4.40 Uhr, vielleicht sogar 4.44, sie rasen die Via Camilluccia im Volkswagen Polo entlang, dann bricht der Wagen aus, fährt zweihundert Meter im Zickzack und zerschellt am Pfosten der Einfahrt einer Villa. Alle fünf waren am Gymnasium „Villa Flaminia", und gestorben sind Eleonora und Alberto, beide 18 Jahre alt. Sie saßen beide hinten, dem Fahrer ist nichts passiert. Was für eine Verschwendung von Leben! Es macht mich rasend.

    Hinter mir öffnet sich die Haustür, ein Stöhnen ist zu hören, und jemand lässt ein Objekt auf den Boden plumpsen. Chiara ist vom Außenministerium gekommen, das da drüben wuchtig aufragt am Ende des Tals. Das Gebäude ist nah, also geht sie auch sonntags mal ‘rüber in Lederjacke, Jeans und High Heels, ganz zivil also, um zu arbeiten. „So schlecht geht’s uns? lacht sie schon im Schlafzimmer. Sie holt sich einen Stuhl, setzt sich neben mich und gibt mir einen Kuss. „Was gibt es zu essen? Es wird gesunden Salat geben aus Möhren und Tomaten, dazu Brot und Schinken und süßen Senf aus Bayern, begleitet von kühlem Weißwein aus Frascati. „Um neun ist das Konzert, im Teatro dell’Opera. Was ziehst du an?" Sie steht schon wieder auf, geht nach rechts und zupft an der Kalla herum, richtet das Blatt der Kamelie gerade.

    Ich sage: „Bin leider mit Giuseppe und Romolo verabredet, im Schlachthof. Der Film über Uganda. Weißt du doch. Chiara erstarrt im Knien. „Ist nicht dein Ernst. Doch, ist es. „Hab’ ich dir vorgestern gesagt, du hörst ja nicht zu. Diese doofen klassischen Konzerte, Händels sechste Sinfonie, Rachmaninoffs Elfte ... Sie erhebt sich zu ihrer ganzen Größe von einem Meter sechsundsechzig. „Ich bin jetzt seit einem halben Jahr in der Abteilung, und Pironi kommt, auch Muratelli, beide mit Gattinnen. Ich muss auch mal meinen Partner vorzeigen, sonst meinen die, ich habe sie beschummelt. Ist der so wichtig, dieser Film?

    Na ja, wichtig nicht, aber ich bin eben verabredet, dort unten, bei den Proleten; hier oben auf dem Parioli (so sagt man, weil’s ein Hügel ist; korrekt: im Parioli-Viertel) gehen die Botschaftergattinnen mit dem Pelz in den Supermarkt zum Einkaufen, die asiatischen Dienstboten führen die Hunde aus, und bisweilen tritt man in die Häufchen der Pudel oder der Rehpinscher. Zugeparkt sind die Gehsteige mit Mercedes und BMWs, vorzugsweise schwarz. „Ein Film über Uganda, ich sag’s nochmal. Das ist dein Sprengel im Ministerium, stimmt’s nicht? Täte dir vielleicht gut, auch mal was aus dem Land zu sehen, werbe ich. – „Ich habe jetzt Feierabend. Muratelli baut einen neuen Stab für den Irak auf. Da brennt’s, und da muss ich rein. Verstanden? Los, essen wir.

    Warum der Irak-Stab? Weil wir eben Mitte März haben im Jahr 2003 und die Amis es nicht erwarten können, loszuschlagen. „Was suchst du denn in dem Buch? Brecht habe ich gesucht, das Gedicht „1940: „Mit Furcht / erwarten die Völker das Frühjahr. Wann / Werden die eisernen Raubvögel auftauchen?"

    Der Vater von Chiara meinte, wir müssten standesgemäß wohnen, im obersten Stock eines Luxusviertels. Die Gegend ist arschteuer, doch der Papa hatte vor Jahren schon vorgesorgt, die Wohnung vermietet und die Mieter dann rechtzeitig hinausgeklagt. Das Viertel ist wunderschön, zwischen Villa Borghese und dem Tiber gelegen, an den Hängen und auf dem Gipfel des Monte Parioli, der einer von den sieben Hügeln der Stadt ist; wer Rad fährt in Rom, hält mindestens siebenundzwanzig Hügel bis zu sechzig Metern Höhe für wahrscheinlich. Um zu uns zu kommen, verlässt man die Piazza del Popolo Richtung Norden, fährt die Via Flaminia lang, dann schraubt man sich bei der Kunstakademie die Viale Bruno Buozzi hoch, biegt vor dem österreichischen Kulturinstituts links steil die Via del Monte Parioli in die Höhe, nimmt eine Abfahrt, gewinnt wieder Höhe und ist schon fast da. Dort oben ziehen sich überall Straßen zirkular um den Berg, in Schleifen und Schlangen, und eine der ruhigsten, am höchsten greifenden ist die Via Archimede, und am höchsten Punkt, Hausnummer 191, sitzen wir in unserer Terrassenwohnung, im fünften Stock.

    Wenn man die schwere Tresortür aufgeschoben hat, die mit acht Sicherungsbolzen seitwärts und einem nach unten in den Boden gesichert ist, steht man im Flur. Schwarzweißer Marmorfußboden. Man schaut hinein in den fünf Meter breiten Salon, sieht gleich den querstehenden Glastisch mit den rot bezogenen Freischwingern und über sie hinweg aus den Fenstern hinaus. Draußen öffnet sich die überdachte Terrasse, die man über die Wohnküche (rechts) oder unser Arbeitszimmer (das Studio, links) betritt. Das Studio hat Verbindung zum Schlafzimmer, das man aber auch bequemerweise durch eine Tür vom Flur aus betreten kann: Schuhe aus, ins Bett fallen. Alles in allem hundertzehn Quadratmeter, spärlich eingerichtet mit Möbeln aus Mailand. Mein Beitrag, auf den ich besonders stolz bin, ist der Tisch „Tavolo Tour" im Arbeitszimmer, der soviel gekostet hat wie ein Karbon-Rennrad der neuesten Generation. Es ist eine Kreation von Gae Aulenti ― italienische Namen, ein Gedicht! ―, der künstlerischen Leiterin der ältesten Design-Firma Italiens, FontanaArte. Sie ist die große alte Dame des italienischen Designs. Bei dem Tisch handelt es sich um eine viereckige Glasplatte, die auf vier verstellbaren Radreifen ruht, deren Gabeln mit Bolzen unten an der Platte haften.

    Irgendwie kam ich nicht los von dem Objekt. Gae Aulenti hat im September 2001 eine Ausstellung gestaltet, die „Die Kunst des Fahrrads hieß und im Norden bei Varese stattfand. 21 Objekte von Duchamp bis Rauschenberg, und das Tollste war der Klassiker, das erste „Ready-made der Geschichte, das auf einen Küchenhocker montierte Rad. Weltberühmt. Marcel Duchamp, der Dada-Künstler ― gelebt hat er von 1887 bis 1968, Schach hat er auch gern gespielt ― schrieb darüber: „1913 hatte ich den glücklichen Einfall, das Rad eines Fahrrads auf einen Küchenhocker zu montieren und zuzuschauen, wie es sich drehte. Das ist alles. „Tavolo Tour ist umgedreht und zu Funktion geronnen. Mein Biertisch.

    Chiara in einem von mir mitangehörten Telefongespräch mit ihrem Vater: „Der mit seinem Fahrradfimmel macht mich nochmal wahnsinnig. Wenn ich gewusst hätte, dass es so schlimm ist ... Hat er sich doch einen Tisch mit Reifen drunter gekauft. Dafür hätte er sich ein Auto holen können, der Blödmann. „Lo stupido, hat sie vermutlich gesagt. Chiara fährt natürlich auch Auto, alle tun das hier. Einen blauen Smart hat sie. Rom ist die Smartstadt dieser Welt: 32.000 dieser granatenförmigen Geräte schießen ziellos und unkontrollierbar umher. Chiaras Smart steht aber in einer Seitenstraße versteckt, für Notfälle; die Dame lässt sich lieber fahren in größeren Schlitten. Ich habe noch ein Rennrad in einer Ecke der Terrasse unter einer blauen Plane stehen, ein „Massetani aus den Marken, weiß-blau für den bayerischen Patrioten. „Mass steht auf dem Rahmen. Das sattle ich immer für die Wochenendausfahrten mit Giuseppe und Werner in die Abruzzen.

    Direkt links neben unserem weißen Haus, das aus den sechziger Jahren stammen mag und schöne hölzerne Fassadenverblendungen hat, der freilich die Zeit ihre Frische geraubt hat, mündet die kleine Straße „Barnabas Tortelloni ein. Chiara und ich haben oft spekuliert, wer dieser Mann gewesen sei. Meine nicht auf großen Beifall gestoßene Theorie war, es sei eben der „Barrabas gewesen, der damals in Jerusalem freigelassen wurde, während Jesus ans Kreuz kam. Barrabas wollte ein neues Leben anfangen und begab sich per Schiff mühevoll in die Hauptstadt des Römischen Reiches und machte am Fuß des Parioli-Hügels ein Restaurant auf, in dem er die Tortelloni erfand, seine Maxiversion der Tortellini. Petrus hatte ihm begreiflicherweise keinen Job in der Kirche geben wollen.

    Später kam auch Jesus, frisch auferstanden, bei ihm vorbei, nachdem er in der Kirche „Domine Quo Vadis Petrus zur Ordnung gerufen hatte, der sich aus der Stadt, vom Tod bedroht, hinausmogeln hatte wollen. Gilt nicht! Nach getaner Arbeit pilgerte Jesus also zu Barrabas, der sich nun Barnabas nannte und dessen Ruhm sich verbreitet hatte. Von der Appia antica ins Parioli, das macht zehn Kilometer, und das ist mit Jesuslatschen auf staubigen Straßen kein Spaß. Jesus hatte also einen Bärenhunger und aß erst einmal einen Teller Tortelloni, bevor er sich anschickte, in den Himmel aufzufahren. „Was hätte ich damals machen sollen, Meister? wird Barnabas um Verständnis geworben haben, während jener an der Pasta schlang. „Was hättest du in meiner Lage getan? Wär’ ich doch blöd gewesen, wenn ich nicht die Freiheit gewählt hätte! Jesus wird geseufzt und ihn gesegnet haben. Vermutlich ist der gute Barnabas nach dieser Begegnung auch Frühchrist geworden, und den Teller, von dem Jesus aß, wird er nie mehr abgespült, sondern ihn als Reliquie in die Auslage gestellt haben. „Signierst du mir den Teller noch? könnte er gefragt haben, doch ich nehme an, ein strenger Blick des Meisters dürfte genügt haben, um ihn zum Schweigen zu bringen.

    Man könnte nicht sagen, dass es eine besonders gastliche Gegend sei: In jeder Straße gibt es mindestens eine rotweiße Schranke mit einem nicht zu übersehenden Schild „Zutritt für Fremde verboten" und mit Hinweis auf das im Falle des Übertretens anzuwendende Gesetz, sechstausendirgendwas. Chiara machte mir klar, dass mich ihr Papa, der Professor für Ökonomie an der Universität Perugia, auch für einen Eindringling hielte, einen Tagedieb, einen Nichtsnutz, und wieso sie ausgerechnet diesen Deutschen ... Das kam so: Sie war tätig im italienischen Konsulat von Freiburg im Breisgau, diesem Stück Italien im Schwarzwald mit Beamten, die sich in Zeitlupe wie Faultiere über die Gänge schleppen und mit Erschwerniszulagen dafür entschädigt werden, nicht in Italien leben zu dürfen; es gab da ausgedehnte Kaffeepausen trotz stundenlang im Flur wartender Antragsteller. Ich weiß nicht, wie ich da hineingeraten war, ich sollte wohl für eine Bekannte etwas erledigen. Sie saß hinter dem Schreibtisch, Chiara, und ich hatte Karten für ein Jazzkonzert beim Zeltmusikfestival, und so zum Spaß frage ich, ob sie mit mir dahin gehen würde. Die Würfel waren gefallen.

    Von unserer 40 Quadratmeter großen Terrasse sieht man hinunter ins Tibertal; wenn man sich vorbeugt, hat man die Baustelle des Auditoriums vor sich, wo soeben ein großer blecherner Fisch, eine Konzerthalle, im Entstehen begriffen ist, die jetzt schon große Ausfallstraßen umgürten. Links, in Richtung Monte Mario, ist Osten, und da geht die Sonne auf. Unterhalb des Hügels, auf der Zone nach rechts, von mir aus gesehen, erhebt sich aus dem zubetonierten Boden das Olympiastadion, Tatort vieler sportlicher Taten und vandalistischer Untaten, und daneben steht das Tennisstadion mit den markigen, der Antike nachempfundenen Statuen aus weißem Stein: Sportler mit Knackärschen und dicken Muckis. Das mochte man zu Mussolinis Zeit.

    Drei Monate später, on and off, up and down ging es mit unserer Beziehung, bekam sie diese Stelle im Außenministerium in Rom, und ich, der ich mich in einer öden Freiburger Pressestelle langweilte, sagte, ich hätte nicht übel Lust, mit ihr nach Rom zu gehen, und da unsere Beziehung sich gerade in einer Hochphase befand, schmiedeten wir Pläne. Damals fand sie meine Fahrradmanie noch ganz putzig, erst nach ein paar Monaten in Rom meinte sie, ob ich mir nicht auch einen kleinen Jaguar zulegen wolle, die Räder in der Wohnung müssten weg, hinaus auf die Terrasse, jetzt wehe ein anderer Wind, sie wolle Karriere machen, dazu brauche man auch einen adäquaten Partner. Meine adäquaten Partner waren Giuseppe und Romolo, Werner, Mario und Ernesto, eisenharte Radfahrer, die ohne zu jammern an einem Samstag 150 Kilometer in den Abruzzen herunterstrampelten oder 100 Kilometer an der Küste entlang pedalierten. Ich war glücklich.

    Chef des Außenministeriums war seinerzeit der Chef der Regierung selbst, Berlusconi, er wollte das keinem anderen überlassen. Da er mit Italien genug Arbeit hatte, war es ein ruhiges Leben im Außenamt. Doch dann kam an seiner Stelle ein Experte

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