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Ragazzi di vita
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eBook334 Seiten5 Stunden

Ragazzi di vita

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Über dieses E-Book

Das unbestrittene Hauptwerk Pasolinis, mit dem Italiens großer Schriftsteller und Ketzer den Verlorenen und Geächteten aus den Elendsquartieren der römischen Vorstädte ein unvergängliches Denkmal setzt – zur anhaltenden Wut bigotter Reaktionäre von rechts und links.
Dies ist der Roman von Ricetto und seinen Freunden, die, von Eltern, Gott und der Welt verlassen, durch die Eingeweide des römischen Großstadtuniversums streunen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum17. Feb. 2022
ISBN9783803143327
Ragazzi di vita
Autor

Pier Paolo Pasolini

Pier Paolo Pasolini (1922-75) was an Italian film director, poet, writer and one of the most controversial and provocative intellectuals of his time. He worked together with Mauro Bolognini, Bernardo Bertolucci and Franco Rossi. Mostly known for his first and last films, Accattone and Sal�, as well as The Gospel According to St. Matthew and Decameron, he was also a prolific essayist and activist. He was murdered in 1975.

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    Buchvorschau

    Ragazzi di vita - Pier Paolo Pasolini

    Aus dem Italienischen und mit einem Nachwort von Moshe Kahn

    Die Originalausgabe erschien 1955 bei Garzanti Editore in Mailand, die deutsche Erstausgabe 1990 im Verlag Klaus Wagenbach.

    E-Book-Ausgabe 2022

    © 1955, 1988, 1996 Garzanti Editore s.p.a.

    © 1999, 2000, 2005, 2009, Garzanti Libri S.r.l., Milano

    Gruppo editoriale Mauri Spagnol

    © 1990, 2000, 2009, 2022 für die deutsche Ausgabe:

    Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

    Covergestaltung nach einem Konzept von Julie August. Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph. Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

    Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

    ISBN: 978-3-8031-4332-7

    Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2614 6

    www.wagenbach.de

    DER FERROBEDÒ

    Und unterm Denkmal von Mazzini

    Volkstümliches Lied

    Es war ein sehr heißer Tag im Juli. Riccetto der Lockenkopf sollte mit zur Ersten Heiligen Kommunion und zur Firmung gehen und war schon um fünf aufgestanden, doch als er in seiner langen grauen Hose und dem weißen Hemd die Via Donna Olimpia runterging, sah er nicht gerade wie ein Erstkommunikant oder ein Soldat Jesu aus, sondern eher wie eins von den Jüngelchen, die aufgedonnert am Lungotevere rumschlendern und aufs Abschleppen aus sind. Mit anderen gleichaltrigen Jungs, alle in Weiß, ging er runter zur Kirche der Divina Provvidenza, wo Don Pizzuto ihm um neun die Kommunion verabreichte und der Bischof ihn um elf firmte. Riccetto aber hatte es eilig und wollte abhauen: von Monteverde bis runter zum Bahnhof von Trastevere war nichts anderes zu hören als ständiger, monotoner Autolärm. An den Steigungen und in den Kurven hörte man Hupen und das Aufheulen von Motoren, was den schon am frühen Morgen von der Sonne ausgebrannten Vorort mit ohrenbetäubendem Dröhnen erfüllte. Kaum hatte der Bischof seine kurze Predigt beendet, führten Don Pizzuto und zwei, drei junge Diakone die Knaben für die Erinnerungsfotos in den Innenhof des Jugendheims: der Bischof schritt zwischen ihnen her und segnete ihre Angehörigen, die niederknieten, als er vorbeiging. Riccetto spürte, wie er, mitten unter all den anderen, auf heißen Kohlen saß, und beschloß, sie einfach im Stich zu lassen. Er ging durch die leere Kirche, stieß aber an der Türe auf seinen Firmpaten, der ihn anredete: »He du, wo gehst’n hin?« – »Nach Haus«, sagte Riccetto, »hab Hunger.« – »Dann komm doch mit zu mir, oder? Alter Hurenbolzen«, rief der Firmpate ihm nach, »das Mittagessen is fertig.« Doch Riccetto scherte sich nicht um ihn und rannte über den Asphalt davon, der unter der Sonne brodelte. Ganz Rom war ein einziges Gedröhne, nur oberhalb, da herrschte Stille, aber die war geladen wie eine Mine. Riccetto ging sich umziehen.

    Der Weg von Monteverde Vecchio bis zur Kaserne der Grenadiere war kurz, man mußte nur über die Wiese gehen und dann die Abkürzung zwischen den Häusern nehmen, an denen in der Umgebung vom Viale dei Quattro Venti gebaut wurde: Lawinen von Unrat und Abfällen, Häuser, die, noch nicht einmal fertig, schon wie Ruinen aussahen, riesige Schlammlöcher, Müllhalden. Die Via Abate Ugone war zwei Schritt weit entfernt. Die aus den ruhigen, kleinen, asphaltierten Straßen von Monteverde Vecchio kommende Menschenmenge strömte auf die Hochhäuser zu: schon konnte man die Lastwagen sehen, endlose Schlangen, Kleinlaster darunter, Motorräder und gepanzerte Fahrzeuge. Riccetto mischte sich unter die Menge und stürzte mit ihr auf die Lagerschuppen zu.

    Der Ferrobedò war wie ein riesiger Hof, eingezäuntes Weideland in einer Senke, und hatte die Größe eines Platzes oder eines Viehmarkts. In der Abzäunung öffneten sich Tore: auf der einen Seite standen kleine, ganz gleich aussehende Holzbarakken, auf der anderen die Lagerschuppen. Riccetto durchquerte, von der Menschenmenge umtost, den ganzen Ferrobedò und kam zu einer dieser Baracken. Aber da standen vier Deutsche, die keinen durchließen. Neben der Türe lag ein kleiner umgestürzter Tisch: Riccetto hievte ihn sich auf die Schultern und lief wieder zum Ausgang. Kaum war er draußen, stieß er auf einen älteren Jungen, der ihn fragte: »Was machste’n da?« – »Ich bring ihn nach Haus bring ich ihn«, antwortete Riccetto. – »Komm doch mit mir, du Blödmann, schnappenwer uns bessern Kram.«

    »Bin gleich da«, sagte Riccetto und warf den Tisch weg, den sich ein anderer im Vorübergehen schnappte.

    Mit dem Älteren ging er wieder zurück in den Ferrobedò und drängte sich in die Lagerschuppen: dort rafften sie Unmengen Schnur zusammen. Dann sagte der Ältere: »Komm jetz und schaff die Nägel weg.« – So machte Riccetto, mal mit Schnur, mal mit Nägeln, mal mit anderem Kram, insgesamt fünf Touren in die Via Donna Olimpia. Obwohl die Sonne gleich nach der Mittagszeit die Steine fast platzen ließ, war der Ferrobedò noch immer brechend voll von Menschen, die um die Wette mit den Lastwagen, die runter nach Trastevere, zur Porta Portese, zum Schlachthof und nach San Paolo fuhren, die glühendheiße Luft zum Dröhnen brachten. Als die beiden zum fünften Mal zurückkamen, sahen sie am Zaun zwischen zwei Baracken ein Pferd samt Karren. Sie schlichen sich heran, um zu sehen, ob sich was machen ließ. Riccetto nämlich hatte inzwischen in einer der Baracken ein Waffenlager entdeckt, sich ein Maschinengewehr übergehängt und zwei Pistolen in den Gürtel gesteckt. So bis an die Zähne bewaffnet, schwang er sich auf den Rücken des Pferdes.

    Aber dann kam ein Deutscher und jagte sie davon.

    Während Riccetto mit Säcken voller Schnur zwischen der Via Donna Olimpia und den Lagerschuppen hin und her trabte, hing Marcello mit den anderen Jungs im Pfarrheim des ›Buon Pastore‹ rum. Im Wasserbecken planschte, grölend und kreischend, eine Unmenge von Kindern. Andere spielten Ball auf den verdreckten Wiesen ringsum.

    »Wo is’n Riccetto?« fragte Agnolo.

    »Der is mit zur Kommunion gegang’ isser«, rief Marcello.

    »Seelenwichser!« sagte Agnolo.

    »Jetzt isser sicher bei seim Firmpaten zum Mittagessen«, sagte Marcello.

    Oben am Planschbecken beim ›Buon Pastore‹ hatte man noch keine Ahnung. Die Sonne knallte auf die Vororte von Madonna del Riposo, Casaletto und, weit hinten, Primavalle. Als sie vom Schwimmen zurückkamen, gingen sie über die Wiese, wo ein Lager mit Deutschen war.

    Sie schlichen näher, um es zu beobachten, aber ein Motorrad mit Beiwagen kam heran, und der Deutsche im Beiwagen brüllte zu den Jungs rüber: »Raus da, Seuchengebiet!« – Gleich daneben lag das Militär-Krankenhaus. »Sollnwer uns deshalb etwa ein’ runterwichsen?« rief Marcello. Inzwischen hatte das Motorrad seine Geschwindigkeit verringert, der Deutsche sprang aus dem Beiwagen und scheuerte ihm so ein Ding, daß Marcello auf die andere Seite flog. Mit dick angeschwollenen Lippen schoß er herum wie eine Schlange, und während er, immer noch maulend, mit seinen Freunden die Böschung runtersprang, machte er mit dem Mund einen Furz hinter dem Deutschen her: dann ergriffen sie schreiend und lachend rasch die Flucht, bis sie direkt bei der großen Kaserne ankamen. Dort trafen sie noch ein paar andere Freunde. – »Was macht’n ihr hier?« fragten die, völlig verdreckt und heruntergekommen.

    »Wieso?« gab Agnolo zurück, »was solln wir’n tun?« – »Geht mal zum Ferrobedò, wenner was sehn wollt.« – Die Jungs flitzten gleich hin und steuerten, kaum angekommen, durch das Gedränge direkt auf die Autowerkstatt los. »Baunwer doch den Motor aus«, rief Agnolo. Aber Marcello ging aus der Werkstatt raus und stand mitten in dem Tumult allein, direkt vor dem Teerloch. Er war drauf und dran, hineinzufallen und unterzugehen wie’n Indianer im Treibsand, als er von einem Schrei zurückgehalten wurde: »Eh, Marcè, paß auf, eh Marcè!« Das war dieser Hurenarsch von Riccetto, mit’n paar Freunden. Und so zog er mit ihnen los. Sie drangen in einen Lagerschuppen und sackten ein, was sie an Staucherfettbüchsen, an Keilriemen und Eisenzeug fanden. Marcello schleppte einen Zentner von dem Kram nach Hause und warf es in einen kleinen Hof, wo es seine Mutter nicht sofort entdecken konnte. Seit früh morgens war er nicht mehr zu Hause gewesen: seine Mutter empfing ihn mit Prügeln. »Wo warst du, du gemeiner Lump?« schrie sie, während sie auf ihn eindrosch. – »Ich bin baden gegang’ bin ich«, sagte Marcello, während er versuchte, die Schläge abzuwehren. Er war leicht gekrümmt und dürr wie eine Heuschrecke. Dann aber kam der ältere Bruder nach Haus und sah im kleinen Hof den abgestellten Krempel. »Du Blödarsch«, schrie er Marcello an, »klaut einfach das Zeug da, dieser Wichser.« – Also ging Marcello mit seinem Bruder wieder runter zum Ferrobedò, aber diesmal schleppten sie von einem Waggon Autoplanen weg. Es ging schon auf Abend zu, und die Sonne wurde noch heißer. Der Ferrobedò war längst voller als ein Markt, und bewegen konnte man sich überhaupt nicht mehr. Hin und wieder rief einer: »Haut ab, die Deutschen kommen«, damit die anderen verschwanden und er alles alleine klauen konnte.

    Tags drauf gingen Riccetto und Marcello, auf den Geschmack gekommen, zur Caciara runter, wo der Großmarkt war. Aber der war zu. Überall liefen unzählig viele Leute rum und Deutsche, die hin und her gingen und in die Luft schossen. Doch mehr noch als die Deutschen gingen einem die Polizisten vom Italienischen Afrika-Korps, die Apais, auf den Sack. Die Menschenmenge wurde immer größer, stemmte sich gegen die Gittertore, lärmte, brüllte und fluchte auf teufelkommraus. Der Angriff ging los, und selbst die Stinklappen von Italienern ließen die Sache einfach laufen. Die Straßen um den Großmarkt herum waren schwarz von Menschen, der Markt selbst verlassen wie ein Friedhof, unter einer Sonne, die ihn zerbröselte: kaum wurden die Tore geöffnet, füllte er sich im Handumdrehen.

    Auf dem Großmarkt gab es gar nichts, nicht mal’n Kohlstrunk. Die Menschenmenge begann, die Magazine abzuklappern, unter den Schutzdächern und um die Verkaufstände rumzugehen, weil sie sich einfach nicht damit abfinden wollte, mit leeren Händen dazustehen. Schließlich entdeckte eine Gruppe von älteren Jungs einen Keller, der aussah, als wäre er vollgestapelt: durch die Gitter an den Fenstern konnte man einen Haufen Verdecke, kleine Rohre, Wachsplanen, Zeltbahnen und, in den Regalen, Käse erkennen. Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile: fünf-, sechshundert Leute drängten den vorderen in den Rücken. Die Türe wurde eingedrückt, und alle, wie sie da waren, stürzten hinein und quetschten sich gegenseitig. Riccetto und Marcello mittendrin. Vom Sog der Menge wurden sie, fast ohne den Boden zu berühren, durch die Türe getragen. Man mußte eine Wendeltreppe runtersteigen: die Masse drängelte von hinten nach, und Frauen schrien halb erstickt. Die Wendeltreppe quoll über von Menschen. Ein dünnes Eisengeländer gab nach, brach, eine Frau stürzte schreiend runter und schlug mit dem Kopf auf eine Stufe. Die draußen drückten weiter. »Sie ist tot«, rief ein Mann von hinten aus dem Keller. »Sie ist tot«, fingen die Frauen entsetzt an zu schreien, doch sie konnten weder vor noch zurück. Marcello ging die Stufen weiter runter. Unten machte er einen Satz über die Leiche, hechtete in den Kellerraum und stopfte die Einkaufstasche mit Abdeckplanen voll, genau wie die anderen Jungs, die zusammenrafften, was sie kriegen konnten. Riccetto war verschwunden, vielleicht war er wieder rausgegangen. Die Menschenmenge hatte sich aufgelöst. Wieder kletterte Marcello über die tote Frau und rannte nach Hause.

    Am Ponte Bianco stand die Miliz. Marcello wurde angehalten, und sie nahmen ihm das Zeug weg. Er aber ging nicht weg und blieb vollkommen niedergeschlagen mit seiner leeren Tasche ein Stückchen weiter sitzen. Kurz darauf kam auch Riccetto von der Caciara zum Ponte Bianco rauf. – »Na?« sagte er fragend. »Hatte mir Planen geholt, und jetz hamse se eingesackt«, antwortete Marcello, grau vor Wut. – »Was verdammtnochmal kümmert’n das diese Arschlöcher, warum kümmernse sich nich um ihre eignen Eier!« rief Riccetto.

    Auf der anderen Seite vom Ponte Bianco standen keine Häuser, sondern ein riesiges Bauareal, hinter dem sich, gleich in der Nähe des Grabens am Viale dei Quattro Venti, der tief wie ein Wildbach war, Monteverde kalkweiß ausdehnte. Riccetto und Marcello setzten sich in der Nähe auf eine dunkle, plattgetretene Wiese in die Sonne, um die Apais zu beobachten, wie sie die Leute beschissen. Kurze Zeit später jedoch kam die Gruppe von Älteren mit Säcken voll Käse zur Brücke. Die Apais wollten sie anhalten. Sie aber packten die Polizisten an der Brust und fingen mit brutalen Mienen eine derart wüste Streiterei an, daß die Apais es für besser hielten, die Dinge laufen zu lassen: sie ließen den Kerlen die Sachen und gaben auch Marcello und allen anderen, die sich drohend um sie rumstellten, wieder, was sie ihnen vorher weggenommen hatten. Riccetto und Marcello sprangen begeistert in die Luft, rechneten sich aus, wieviel sie daran verdienen würden, und gingen in die Via Donna Olimpia. Auch die anderen liefen in alle Richtungen auseinander. Bei den Apais am Ponte Bianco blieb nur der Gestank der von der Sonne aufgeheizten Schweinerei zurück.

    Auf dem Ascheplatz unterhalb des Monte di Splendore, eines Erdbuckels von zwei, drei Meter Höhe, der Monteverde, den Ferrobedò und, am Horizont, den Meeresstreifen aus dem Blickfeld verschwinden ließ, stellten sich eines Samstags, als die kleinen Jungs keine Lust mehr zum Spielen hatten, ein paar ältere mit einem Ball zwischen den Füßen im Tor auf. Sie formten einen Kreis und spielten sich den Ball zu, wobei sie ihn mit trockenen Spannschüssen weitergaben, so daß er wie an der Schnur gezogen dicht über den Boden flog. Kurze Zeit später waren alle schweißgebadet, wollten aber auf keinen Fall ihren Festtagsstaat oder ihre schwarz beziehungsweise gelb gestreiften blauen Wollpullover ausziehen, denn sie hatten sich ja einfach so, locker zusammengefunden und zu spielen begonnen. Weil aber die um sie herumstehenden kleinen Jungs hätten denken können, das wären Fanatiker, die da, so angezogen, in der glühenden Sonne spielten, lachten sie und nahmen sich in einer Weise auf die Schippe, die den anderen jede Lust nahm, Witze über sie zu reißen.

    Zwischen Flanken und Stops warfen sie sich ein paar Worte zu. »Heiliger Strohsack, Alvà, heut biste aber schlapp!« rief einer, der sich Brillantine ins schwarze Haar gegossen hatte, und dann: »Ehja, Frauen«, und zog den Ball überkopf. »Leck mich doch«, antwortete Alvaro, dessen knochiges Gesicht ganz verbeult aussah. Sein Kopf war so groß, daß ein Floh beim Versuch, einmal die Runde zu machen, an Alterschwäche gestorben wäre. Er versuchte etwas ganz Raffiniertes, indem er den Ball mit der Hacke schoß, aber das ging daneben, und der Ball rollte bis weit zu Riccetto und den anderen rüber, die auf dem schmutzigen Gras lagen.

    Der rothaarige Agnolo stand auf und schoß den Ball ganz gemütlich wieder zu den Älteren zurück. »Schließlich willer sich ja nich verausgam«, rief Rocco und meinte damit Alvaro, »heut abend musser nämlich zentnerweise schleppen.«

    »Die machen in Wasserrohrleitungen«, sagte Agnolo zu den anderen. In diesem Augenblick heulten am Ferrobedò und in den anderen Fabriken unten am Testaccio, am Hafen und bei San Paolo die Dreiuhrsirenen los. Riccetto und Marcello standen auf und gingen, ohne den anderen auch nur ein Wort zu sagen, die Via Ozanam runter. Völlig ausgelaugt latschten sie unter der glühenden Sonne zum Ponte Bianco, wo sie sich an die 13 oder die 28 hängten. Angefangen hatten sie mit dem Ferrobedò, dann waren die Amerikaner dran, und jetzt machten sie in Zigarettenkippen. Schon wahr, daß Riccetto für kurze Zeit auch gearbeitet hatte: er wurde als Hilfsjunge für Lieferwagen von irgendeinem in Monteverde Nuovo beschäftigt. Aber dann hatte er seinem Brötchengeber ’nen halben Riesen geklaut, und der hatte ihn an die Luft gesetzt. Deshalb verbrachten sie die Nachmittage mit Nichtstun in der Via Donna Olimpia oder auf dem Monte di Casadio mit den anderen Jungs, die auf dem Platz der kleinen, von der Sonne ausgeblichenen Mulde rumfußballerten, und später dann mit den Frauen, die ihre Wäschestücke auf dem versengten Gras ausbreiteten. Oder sie gingen auf den Platz zwischen den Hochhäusern und dem Monte di Splendore Fußball spielen, unter Hunderten von anderen Jungs, die in den sonnenbeschienenen Innenhöfen oder auf verdörrten Wiesen, in der Via Ozanam oder in der Via Donna Olimpia, vor der mit Evakuierten und Ausquartierten vollgestopften Giorgio-Franceschi-Volksschule rumkickten.

    Als Riccetto und Marcello am Ponte Garibaldi ankamen und von den Puffern der Straßenbahn sprangen, lag die Brücke vollkommen menschenleer unter der afrikanischen Sonnenglut: doch unten an ihren Pfeilern, im Flußstrandbad Ciriola, wimmelte es nur so von Menschen. Riccetto und Marcello waren allein auf der ganzen Brücke, sie legten ihr Kinn auf das glühende Brückengeländer und sahen den Badenden eine Weile zu, die in der Sonne auf dem Floßhaus lagen, Karten spielten oder sich da, wo ein Lüftchen ging, breitgemacht hatten. Nachdem die beiden sich dann kurz gekabbelt hatten, was sie als nächstes machen sollten, hängten sie sich wieder an die alte, halbleere Straßenbahn, die ratternd und quietschend nach San Paolo fuhr. Am Bahnhof Ostiense sprangen sie ab und gingen wie Hammel mit herunterhängendem Kopf zwischen den Tischen einer Café-Bar und den Geländern der Fahrkartenschalter hin und her, am Zeitungskiosk und an den Verkaufsständen vorbei, um ein paar Zigarettenkippen aufzusammeln. Davon hatten sie die Nase allerdings bald voll. Vor Hitze konnte man kaum atmen, und es wäre nicht auszuhalten gewesen, hätte vom Meer her nicht eine Brise geweht. »Du, Riccè«, sagte Marcello, »wieso gehnwer eigentlich nich auch schwimm’?« – »Na, dann gehnwer doch«, sagte Riccetto, verzog seinen Mund und zuckte die Achseln.

    Hinter dem Parco Paolino und der goldenen Fassade von San Paolo floß auf der anderen Seite eines hohen, dicht beschilderten Deichs der Tiber: und dort war es leer, keine Strandbäder, keine Boote, keine Badenden, und rechts davon war alles mit Kränen, Antennen und Schornsteinen bespickt, mit dem gigantischen Gasometer vor dem Himmel und dem gesamten Wohnviertel von Monteverde am Horizont, oberhalb der stinkenden, versengten Böschungen und seinen alten Villen, die wie kleine, sich im Licht auflösende Schachteln aussahen. Genau da unten standen die Pfeiler einer nicht fertig gebauten Brücke, um die herum schmutziges Wasser strudelte. Das Ufer von San Paolo war dicht mit Schilf und Gestrüpp bewachsen. Dazwischen rannten Riccetto und Marcello hinunter und gelangten unter dem ersten Brückenpfeiler ans Wasser. Aber hinein gingen sie erst einen halben Kilometer weiter flußabwärts, wo der Tiber eine lange Biegung machte.

    Riccetto lag nackt im Gras, die Hände unter dem Nacken verschränkt, und starrte in die Luft.

    »Schon mal’n Ostia gewesen?« fragte er Marcello völlig unerwartet. – »Du bist vielleicht gut«, antwortete Marcello, »weißde’n nich, daß ich da geboren bin?« – »Mann, du Wichser«, sagte Riccetto, verzog sein Gesicht und musterte ihn scharf, »haste mir ja nie erzählt!« – »Na und wenn schon?« sagte Marcello. »Biste schon mal mit ’nem Schiff auf ’m Meer draußen gewesen?« fragte Riccetto neugierig. – »Wieso’n nich«, sagte Marcello in anbiederndem Ton. – »Bis wohin’n?« fing Riccetto wieder an. – »Heiliger Strohsack, Riccè«, sagte Marcello mit tiefer Befriedigung, »was du alles wissen willst! Wer soll sich’n daran erinnern? Ich war ja nich mal drei war ich!« – »Ich glaub, du bist genau so auf ’nem Schiff gewesen wie ich, du Blödmann!« sagte Riccetto verächtlich. »Jetz hör sich einer den Wichser an«, gab Marcello zurück, »jeden Tag binnich mit’m Segelboot von meim Onkel rausgefahren!« – »Leck mich doch, du!« sagte Riccetto schnalzend. – »Sieh mal, der Holzkram da«, sagte er dann und blickte aufs Wasser, »so viel Holzkram!« Auf dem Wasser trieben ein paar Wrackteile, eine verfaulte Kiste und ein Nachttopf. Riccetto und Marcello gingen zum Uferrand, wo der Fluß schwarz war von Öl. – »Wie gern würd ich mal Boot fahren!« sagte Riccetto melancholisch und sah auf die Kiste, die inmitten von Unrat schaukelnd ihrem Schicksal entgegentrieb. – »Weißte’n nich? Am Ciriola kann man Boote mieten«, sagte Marcello. – »Schön, und wer gibt uns die Kohle dafür?« fragte Riccetto finster. – »Mann, du Trottel, machenwer doch auch in Rohrleitungen, was soll’s«, sagte Marcello und war ganz begeistert von seiner Idee, »Agnoletto hat’s Stemmeisen schon beschafft.« – »Bin dabei!« sagte Riccetto.

    Sie blieben bis spät an dieser Stelle liegen, ausgestreckt, mit dem Kopf auf ihren kurzen Hosen, die von Staub und Schweiß schmutzig geworden waren: schließlich zwang sie keiner, sich aufzuraffen und zu gehen. Ringsum war alles voller Gestrüpp und verdorrtem Schilf, aber im Wasser lagen auch Kiesel und Steine. Sie machten sich einen Spaß daraus, Steine über das Wasser schnellen zu lassen, und als sie sich endlich durchgerungen hatten zu gehen, warfen sie sie, halbangezogen, weiter in die Luft oder ans andere Ufer oder zielten auf Schwalben, die über das Wasser schossen.

    Schreiend und tobend warfen sie schließlich ganze Händevoll um sich: die Steinchen fielen ringsum ins Gestrüpp. Doch da hörten sie plötzlich einen Schrei, als ob sie jemand gerufen hätte. Sie drehten sich um und sahen in der schon dämmrigen Luft nicht weit entfernt einen Schwarzen im Gras knien. Riccetto und Marcello erkannten die Situation sofort und nahmen reißaus, doch sobald sie in sicherer Entfernung waren, nahmen sie noch eine Handvoll Kiesel und warfen sie wieder auf die Büsche hinten.

    Da stand, mit halb heraushängenden Titten und vor Wut schäumend, die Nutte auf und brüllte sie an.

    »Halt doch die Klappe«, rief Riccetto hämisch mit trichterförmig um den Mund gehaltenen Händen, »du schnatterst ja wie’ne Ente, du altes Schwein!« – Doch in diesem Augenblick schoß der Schwarze hoch wie ein wildes Tier, und während er sich mit einer Hand die Hose festhielt und mit der anderen ein Messer schwang, kam er hinter ihnen hergerannt. Riccetto und Marcello flüchteten hilfeschreiend durch das Gestrüpp auf den Deich zu und den Steilhang rauf, und erst als sie oben waren, hatten sie die Kraft, sich noch einmal einen Augenblick lang umzudrehen und sahen den Schwarzen unten, der mit dem Messer in der Luft herumfuchtelte und brüllte. Riccetto und Marcello liefen schnell weg, und als sie sich ansahen, krümmten sie sich vor Lachen. Riccetto wälzte sich sogar auf der Erde im Dreck, sah Marcello grinsend an und rief: »Jesses, Marcè, hat dich etwa der Schlag getroffen?«

    Auf ihrer Flucht kamen sie zu dem Stück vom Lungotevere, wo die Fassade von San Paolo ist, die noch schwach in der Sonne schimmerte. Sie gingen rüber zum Parco Paolino, wo es am anderen Ende unter den jungen Bäumen von Arbeitern und Soldaten wimmelte, die Ausgang hatten und von der Kaserne in Cecchignola kamen. Sie gingen an der Basilika entlang, auf einem Stück Straße, das leer und schlecht beleuchtet war. Ein Blinder, der an der Mauer lehnte und seine Beine auf dem Bürgersteig von sich gestreckt hatte, bat um Almosen.

    Riccetto und Marcello setzten sich in seiner Nähe auf die Bordsteinkante, um wieder zu Atem zu kommen, und da der Alte Leute in seiner Nähe hörte, fing er gleich mit seinem Gejammere an. Er hatte seine Beine auseinandergespreizt, und zwischen ihnen hielt er seine Mütze voller Geld. Riccetto stieß Marcello mit dem Ellbogen an und deutete auf die Mütze. »Mann du, ganz vorsichtig«, brummte Marcello. Als sein Atem sich wieder etwas beruhigt hatte, stieß Riccetto ihn verärgert nochmal an und gab ihm ein Zeichen mit der Hand, als wollte er sagen: ›Na, was is nun?‹ Marcello zuckte mit den Schultern und gab ihm zu verstehen, er solle sehen, wie er klarkäme. Riccetto warf ihm einen mitleidigen Blick zu und wurde rot vor Wut. Dann sagte er leise: »Wart da hinten auf mich.« Marcello stand auf und ging auf die andere Straßenseite, wo er unter den Bäumen auf Riccetto wartete. Als Marcello weit genug entfernt war, wartete Riccetto den Augenblick ab, wo niemand vorbeikam, stellte sich neben den Blinden, schnappte sich eine Handvoll Geld aus der Mütze und zischte ab. Sobald sie in Sicherheit waren, begannen sie, unter einer Laterne das Geld zu zählen: es war fast’n halber Riese.

    Am nächsten Morgen hatten das Nonnenkloster und andere Häuser in der Via Garibaldi kein Wasser mehr.

    Riccetto und Marcello hatten Agnolo in der Via Donna Olimpia vor der Giorgio-Franceschi-Schule getroffen, der mit anderen Jungs ein bißchen rumfußballerte, mit keiner anderen Beleuchtung als dem Mondlicht. Sie sagten ihm, er solle das Stemmeisen holen gehen, und das ließ sich Agnolo nicht zweimal sagen. Dann gingen die drei gemeinsam, vorbei an der Kirche von San Pancrazio, nach Trastevere auf der Suche nach einer ruhigen Stelle. Die fanden sie in der Via Manara, die zu dieser Stunde völlig ausgestorben war, und sie konnten sich mit einem Kanaldeckel beschäftigen, ohne daß ihnen einer in die Quere kam. Sie ließen sich nicht einmal aus der Ruhe bringen, als sich plötzlich eine Balkontüre öffnete und eine halbverschlafene, aufgetakelte Alte zu ihnen runter rief: »Was macht ihr’n da unten?« – Riccetto hob den Kopf und sagte dann: »Ach, Signò, is nichts weiter, ’s Abflußrohr is bloß wieder mal verstopft, weiß der Teufel wie!« – Und dann waren sie auch schon fertig, nahmen sich den Kanaldeckel und die darunter liegende Wanne, die sich Agnolo und Riccetto auf die Schultern packten, und gingen dann zu einem verfallenen Gebäude unterhalb des Gianicolo, einer alten, heruntergekommenen Turnhalle. Es war dunkel, aber Agnolo kannte sich aus und fand in einer Ecke des großen Raums den Schlaghammer, und mit dem zertrümmerten sie den Kanaldeckel.

    Jetzt mußte ein Käufer gefunden werden. Darum kümmerte sich wieder Agnolo. Sie gingen durch den Vicolo dei Cinque, der, abgesehen von einem Besoffenen, völlig ausgestorben war. Unter den Fenstern des Schrotthändlers legte Agnolo seine Hände wie einen Trichter an den Mund und fing an zu rufen: »Eh, Antò!« Der Schrotthändler zeigte sich am Fenster, dann kam er runter und ließ sie in sein Lager, wo er das Gußeisen wog und ihnen zweitausendsiebenhundert Lire für die siebzig Kilo gab. Und einmal richtig in Fahrt gekommen, wollten sie gleich mit Volldampf weitermachen. Agnolo lief in die Turnhalle zurück, um das Beil zu holen, und dann gingen sie in Richtung Gianicolo-Treppen. Dort hoben sie einen Kanaldeckel ab und stiegen hinunter. Mit dem Stiel des Beils drückten sie das Bleirohr zusammen, um den Wasserfluß einzudämmen, und dann trennten sie es ab, fünf, sechs Meter. In der Turnhalle traten sie es platt, zerlegten es in viele

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