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Nathaniel Wallich: Ein Botaniker zwischen Kopenhagen und Kalkutta
Nathaniel Wallich: Ein Botaniker zwischen Kopenhagen und Kalkutta
Nathaniel Wallich: Ein Botaniker zwischen Kopenhagen und Kalkutta
eBook530 Seiten5 Stunden

Nathaniel Wallich: Ein Botaniker zwischen Kopenhagen und Kalkutta

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Über dieses E-Book

Gerade mal 21 Jahre alt war Nathaniel Wallich, als er 1807 von Kopenhagen aufbrach, um als Arzt in Dänisch-Ostindien zu arbeiten – seine wahre Leidenschaft galt jedoch von Beginn an dem Reich der Flora. Dabei bewies er ein solches Geschick, dass er schon bald den botanischen Garten in Kalkutta leitete, Forschungsreisen in die entlegensten Winkel Asiens und Südafrikas unternahm und zu einem der bekanntesten Pflanzenkundler seiner Zeit wurde. Der Historiker Martin Krieger skizziert das bewegte Leben eines großen Dänen mit norddeutschen Wurzeln auf der Grundlage seines Briefnachlasses. Dieser ist nicht nur für die Botanikgeschichte von großer Bedeutung, sondern bietet darüber hinaus einen sehr persönlichen Einblick in ein Stück erlebter Globalgeschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
SpracheDeutsch
HerausgeberWachholtz Verlag
Erscheinungsdatum12. Sept. 2018
ISBN9783529092558
Nathaniel Wallich: Ein Botaniker zwischen Kopenhagen und Kalkutta
Autor

Martin Krieger

Studium der Mittleren und Neueren Geschichte, der Ur- und Frühgeschichte und der Skandinavischen Philologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (1987-1993) Promotion zum dänischen Handel auf dem Indischen Ozean (1993-1995) Wissenschaftlicher Assistent und Privatdozent am Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte der Neuzeit der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (1996-2005) Habilitation zum Patriotismus-Diskurs in Hamburg im Zeitalter der Frühaufklärung Forschungsaufenthalt in Indien und Bewirtschaftung eines Teegartens in Kotagiri (Nilgiris/Indien) (2006-2007) 2007-2009 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Forschungsförderung der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald ab April 2009: Inhaber der Lehrstuhls für Nordische Geschichte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

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    Buchvorschau

    Nathaniel Wallich - Martin Krieger

    MARTIN KRIEGER

    NATHANIEL

    WALLICH

    Ein Botaniker zwischen

    Kopenhagen und

    Kalkutta

    Erscheint in der Reihe »zeit+geschichte« der Sparkassenstiftung

    Schleswig-Holstein als Band 46.

    1. Auflage 2017

    © 2017 Wachholtz Verlag – Murmann Publishers, Kiel / Hamburg

    Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

    Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig.

    Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,

    Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und

    Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Satz: Marleen Krallmann

    Gesamtherstellung: Wachholtz Verlag

    E-ISBN 978-3-529-09255-8

    Besuchen Sie uns im Internet: www.wachholtz-verlag.de

    Inhalt

    Ein Leben in Briefen

    Kopenhagen

    Als Chirurgus nach Dänisch-Ostindien

    Serampore

    Karrierebeginn in Kalkutta

    Der Botanische Garten

    Die Anfänge als Superintendent

    Die botanischen Schätze Nepals

    Auf der Suche nach Holz

    Der Aufenthalt in London

    Auf den Spuren des wilden Assam-Tees

    Stille Jahre

    Am Kap der Guten Hoffnung

    Der lange Abschied

    Danksagung

    Anhang

    Anmerkungen

    Abkürzungen

    Quellen und Darstellungen

    Abbildungsnachweis

    Personen- und Ortsregister

    Ein Leben in Briefen

    Am Neujahrstag 1848 saß ein alter, gesundheitlich angeschlagener Mann an seinem Schreibtisch in der 5 Gower Street im Londoner Stadtteil Bloomsbury. Vor ihm lag eine geradezu unüberblickbare Zahl an Briefen, die er in den hinter ihm liegenden Jahrzehnten erhalten oder selbst verfasst hatte. Er nahm sie noch einmal zur Hand – im Laufe der darauffolgenden Monate jeden einzelnen, denn er wollte sie in eine chronologische Ordnung bringen und einen Index erstellen. Etwa 4000 mögen es insgesamt gewesen sein. Hinter den Briefen tauchten schemenhaft Gestalten auf: Menschen, die jene Schreiben einst verfasst hatten, langjährige Weggefährten, Freunde, aber auch erbitterte Gegner. Viele von ihnen waren längst tot. Von elf im Jahre 1814 gemeinsam mit ihm ernannten Assistenzärzten der ehrwürdigen East India Company waren acht nicht mehr am Leben.

    Der Mann am Schreibtisch war Nathaniel Wallich. Erst kürzlich hatte er seinen Ruhestand angetreten und war zu seiner Familie nach London gezogen. Geboren und aufgewachsen im dänischen Gesamtstaat, hatte er den größten Teil seines Erwachsenenlebens in Indien verbracht und als langjähriger Direktor des Botanischen Gartens von Kalkutta das Wissen um die indische Pflanzenwelt in bis dahin ungekannter Weise vermehrt. Bald schon erstreckte sich von seinem Garten aus ein wahrhaft globales Kommunikationsnetzwerk, das die Großen des Faches, aber ebenso heute längst vergessene Amateur-Forscher umfasste. Er war nicht der ingeniöse Entdecker oder Theoretiker. Als einer der großen globalen Vermittler im Reich der Flora der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts besaß er gleichwohl eine unschätzbare Bedeutung.¹ Als Wallich wieder nach Europa zurückkehrte, hatte sich die Welt verändert. Die Naturforschung war methodisch und theoretisch zu neuen Ufern aufgebrochen, und der Kontinent stand am Rande der Revolution.

    Wer war Nathaniel Wallich? Heute ist er den wenigsten bekannt, allenfalls den Botanikern, Pharmazeuten oder Medizinern. Diese erinnert eine Zahl nach ihm benannter Pflanzen wie die Apostasia wallichii, Allium wallichii, Valeriana wallichii oder Rhododendron wallichii an seine Existenz. Schon unter den Zeitgenossen fiel das Urteil ambivalent aus. Viele waren auf seine Vermittlungsdienste angewiesen, und groß war die Freude, wenn wieder einmal eine Holzkiste mit getrockneten, gepressten, beschrifteten und sorgfältig verpackten Herbarpräparaten oder Sämereien Kopenhagen, London, Paris, München oder Hamburg erreichte. Manch einer hielt den Dänen nach einer persönlichen Begegnung für offen und warmherzig und war von seiner Gastfreundschaft beeindruckt. Dankbar waren auch seine Landsleute, die, im Zuge der Napoleonischen Kriege in Indien gestrandet, bei ihm Zuflucht fanden. Andererseits zeigte Wallich aber auch keine Scheu, sich durch ein allzu direktes Wort Feinde zu machen. Dass er im theoretischen wie philosophischen Urteil nicht mit Zelebritäten wie Alexander von Humboldt oder Robert Brown mithalten konnte, führte bisweilen zu abfälligen Urteilen. Das Verdikt des französischen Botanikers Victor Jacquemont aus dem Jahr 1829 war geradezu vernichtend: »A Danish botanist of ordinary talents, but who passes … for the first in the world ….«² Jacquemont konnte es gar nicht wissen, denn während seines Besuches in Kalkutta war er dem Dänen überhaupt nicht begegnet. Es tut sich ein Spannungsverhältnis in der Beurteilung auf, das zu einer tieferen Beschäftigung einlädt.

    Ziel dieser Biografie ist es, dem Leben Nathaniel Wallichs aus unterschiedlichen Blickwinkeln nachzuspüren, um auf diese Weise die landläufigen Stimmen zu seinem Wirken und seiner Person zu hinterfragen und neu einzuschätzen. Sie will den Versuch unternehmen, sich dem langen, von biografischen Zäsuren, aber gleichzeitig von einem großen Maß an Kontinuität geprägten Forscherleben zu nähern. Zweifellos ist es in heutiger Zeit nicht mehr angemessen, von einer »klassischen« Biografie zu sprechen, wenn es ein solches Sujet je gegeben hat. Vielleicht ist der Begriff »holistisch« geeigneter. So soll es darum gehen, die vielen Einflussfaktoren, die Wallichs wissenschaftliches und persönliches Denken prägten, zu identifizieren und daraus seine Entscheidungen (oder auch Nicht-Entscheidungen) erklärbar zu machen.

    Nur wenige Untersuchungen existieren über Wallich; in der Regel handelt es sich dabei um kurze biografische Skizzen, oder er findet Eingang in wissenschaftsgeschichtliche Überblicksdarstellungen. Den meisten ist gemein, dass sein Name in aller Regel mit einem bestimmten Attribut verbunden wird – einmal ist er »Green Imperialist«, ein anderes Mal »Capitalist«, um wiederum zum Vertreter des »Itinerant Empire« zu avancieren.³ Zweifelsohne sind diese Annahmen nicht falsch, beschreiben aber jeweils nur eine Facette eines vielschichtigen und ambivalenten Charakters, der sich zudem im für indische Verhältnisse auch noch recht langem Leben im Laufe der Zeit wandelte. Am ehesten trifft daher das Attribut von Edna Bradlow zu, die Wallich als »Man for all Seasons« bezeichnete.⁴

    Eine Biografie über ihn zu schreiben stellt ein gewisses Wagnis dar, denn die überlieferten Quellen sind einseitig. Auch wenn Verwaltungsakten der britischen East India Company sowie Dokumente aus den Archiven Münchens, Leipzigs, Hamburgs, Kopenhagens oder Kapstadts ergänzend herangezogen werden können, bleibt die Hauptquelle doch seine Korrespondenz. Die heute im Central National Herbarium im Botanischen Garten Kalkuttas verwahrten Wallich-Briefe umfassen 33 Bände, wobei es sich fast ausschließlich um berufliche Korrespondenz handelt. Den größten Teil machen die an ihn gerichteten Schreiben aus. Der Briefnachlass enthält aber auch Konzepte von ihm selbst verfasster Nachrichten; zudem nutzte er seit etwa 1840 Karbonpapier, sodass aus späteren Lebensjahren viele Durchschriften originaler Briefe aus seiner Hand erhalten sind. Verfasst sind die meisten davon in englischer Sprache, aber auch dänische, deutsche und französische Dokumente finden sich in nennenswertem Umfang.

    Wallich nahm die Briefe mit Eintritt in den Ruhestand von Kalkutta mit nach England, ließ diese binden und fertigte einen Teilindex an. In seinem Testament bestimmte er kurz vor dem Tod seinen langjährigen Weggefährten Robert Brown als deren Hüter und Sachwalter. Später gelangten die Briefe in den Botanischen Garten von Kew, von wo aus sie 1887 oder 1888 nach Indien zurückgebracht wurden.⁶ Viele davon befinden sich heute in einem bedauerlichen Zustand, auch wenn sie seit einiger Zeit sicher in Stahlschränken verwahrt werden. Die noch von ihm selbst veranlassten Bindungen sind weitgehend zerstört. Das Papier vieler Briefe ist durch Tintenfraß, aufgebrochene Faltstellen oder durch die Unbilden des Klimas stark beschädigt, wovon besonders die ihm aus Deutschland zugesandten Schriftstücke betroffen sind. Die Datierung lässt nicht immer eindeutig erkennen, welche Briefe welchem Band zuzuordnen sind. Dennoch ist zu konstatieren, dass der Briefnachlass von Nathaniel Wallich mehr oder weniger komplett erhalten ist.

    Die Schreiben geben Auskunft über die Praktiken der wissenschaftlichen Kommunikation und des Pflanzenversands, über die Generierung von Patronage und wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit, aber auch über das Denken und die Lebenspraxis eines Botanikers zwischen Kopenhagen und Kalkutta in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Daneben enthalten sie viele weitere Informationen: Inwieweit wurden einheimische Intellektuelle oder Arbeitskräfte einbezogen? Welche Rolle spielte die Amateur-Sammlerin? Aber auch: Wie lange dauerte der Briefversand zwischen Kopenhagen und Kalkutta 1815, wie lange 1845 nach dem Einzug der Dampfschifffahrt? Wo war Wallich an einem ganz bestimmten Tag im Jahre 1821 in Nepal? Seine akribischen Eingangsvermerke geben auch darüber Auskunft und ermöglichen auf diese Weise die genaue Rekonstruktion so mancher Reiseroute. Er selbst war ein fleißiger Schreiber, der die an ihn gerichteten Briefe oft sofort beantwortete. Dabei war seine Handschrift nicht immer die beste. Mit steigendem Lebensalter wurde sie fliegender und undeutlicher – eine Tatsache, der er sich selbst allzu sehr bewusst war, wie er einmal aus Allahabad an einen Freund in Kalkutta schrieb: »… prepare yourself with patience & spectacles ….«

    Ein Leben mit Hilfe von Briefen zu rekonstruieren bedeutet gleichzeitig deren Wirkungsgeschichte zu untersuchen. Denn jene dienten nicht allein der Informationsvermittlung zwischen Absender und Empfänger, sondern ihr Wirkungskreis spannte sich deutlich über eine solch begrenzte Interaktion hinaus. So wurden aus ihnen gewonnene Informationen an Dritte weitergereicht, wie auch Informationen von Dritten in sie Eingang fanden. Gerade in der Zeit vor der Entstehung der großen botanischen Fachzeitschriften spielte der Austausch aktueller fachlicher Themen in Briefen eine ganz zentrale Rolle. Die größte Wirkung erreichte ein Schreiben, wenn es ganz oder in Auszügen publiziert wurde. Die auf diese Weise entstehenden Netzwerke waren multinational, multidirektional und erreichten auch jene Länder, die kaum formale Interessen in Übersee vertraten. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass ein ganz erheblicher Anteil des Austauschs unabhängig davon informell erfolgte. Es sind gerade die direkten, mündlichen Kontakte, die sich als besonders fruchtbar erweisen konnten, im zeitlichen Rückblick aber ungleich schwerer zu fassen sind.

    Der Ausgangspunkt dieser Studie ist die breite Debatte der vergangenen Jahrzehnte über die wissenschaftliche Durchdringung der kolonialen Welt. In immer größerem Maße wurde dabei die Naturforschung als elementarer Bestandteil kolonialer Staatlichkeit begriffen, wobei gerade der Botanik als Leitwissenschaft eine ganz zentrale Rolle zukam. Denn nur wer über die Holzressourcen eines Landes, über Nahrungsmittel und Heilpflanzen Bescheid wusste, dem gelang es, ein Land in seiner ganzen gesellschaftlichen Tiefe und räumlichen Ausdehnung zu durchdringen. Pionierarbeiten wurden hier von Richard Grove⁸ mit seinem »Green Imperialism« sowie mit den Untersuchungen von David Arnold⁹ und Michael Mann¹⁰ geleistet. Mittlerweile existiert darüber hinaus eine Fülle an Überblicks- und Detailstudien und eine ebenso große Zahl an methodisch-theoretischen Betrachtungen.¹¹ Dieses Buch kann und will nicht einen Beitrag zur weiteren Theoriebildung leisten, gleichwohl will es Kontexte aufzeigen und zu einer tieferen Beschäftigung mit dem Themenfeld einladen.

    Kopenhagen

    Herkunft

    Noch herrschte Frieden in Dänemark. Der Kanonendonner der Schlacht auf der Kopenhagener Reede und die zerstörerischen Brandbomben, die 1807 auf die dänische Hauptstadt niederregnen sollten, lagen in weiter Ferne. Eines Morgens im Oktober 1800 begab sich ein junger Mann auf den Weg durch den Norden Kopenhagens. Sein Heim befand sich in der Adelgade. Von dort aus waren es nur wenige Schritte zum Rosenborg-Schloss und zum Amalienborg-Platz, an dem die königliche Familie seit einiger Zeit residierte. Um die von dort ausgehende Norgesgade lag die Friedrichstadt mit ihren schnurgeraden Straßen und den schmucken Stadtpalais. Etwas zurückgesetzt fand sich eine der wohl prominentesten Bauruinen der Stadt: Seit 1770 ruhten die Arbeiten an der Frederikskirke; Gras und Gebüsch überwucherten das halbfertige Gotteshaus, dessen Fertigstellung noch fast ein Jahrhundert auf sich warten ließ. Schon hatte Nathaniel das Ziel erreicht: die fast am Ende der Norgesgade gelegene Chirurgische Akademie (Tafel XI oben).

    Seit Generationen hatten die Wallichs begabte Ärzte hervorgebracht. Und auch Nathaniel war auf dem Weg, um sich in der Chirurgischen Akademie zum Wundarzt ausbilden zu lassen. Als jener aber das erste Mal sein Elternhaus in Richtung Norgesgade verließ, mögen weder er selbst noch seine Angehörigen auch nur geahnt haben, dass er keine 17 Jahre später als international bekannter Botaniker zum Direktor des ehrwürdigen Botanischen Gartens von Kalkutta ernannt werden würde. Noch war nicht absehbar, dass sich für ihn die Napoleonischen Kriege als Katalysator einer einzigartigen Karriere herausstellen würden.

    Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die Wallichs in Kopenhagen nicht unbekannt. Mehrere Haushalte existierten unter diesem Namen, obwohl sich die Familie hier kaum mehr als eine Generation zuvor niedergelassen hatte. Woher sie ursprünglich stammte, ist nicht mehr genau feststellbar.¹² Spätestens zu Beginn des 16. Jahrhunderts finden wir in Worms eine Familie Walch oder Wallich, die zur Elite der dortigen jüdischen Gemeinschaft zählte. Der erste eindeutig identifizierbare Vorfahr ist der 1587 gestorbene Moses Abraham, der sich durch sein Amt als Vorsteher der jüdischen Gemeinde zu Worms auszeichnete.¹³

    Ein aus derselben Stadt stammender Joseph ben Meir Wallich promovierte einige Jahre später in Padua im Fach Medizin.¹⁴ Um die Mitte des 17. Jahrhunderts tauchten Angehörige gleichen Namens in Frankfurt am Main, Bonn, Koblenz und Metz auf. Als Arzt und Rabbiner lebte bis zu seinem Tode 1691 ein Moses David in Trier, und 1747 wurde der in Heidelberg graduierte Solomon Emmanuel Arzt in Mainz. Zur Koblenzer Linie zählte Emanuel Wolfgang, der erste jüdische Arzt, der 1783 an der Universität Jena promovierte.¹⁵

    Wann und auf welche Weise die Familie schließlich nach Hamburg gelangte, lässt sich nicht eindeutig rekonstruieren. Feststellbar ist aber, dass die norddeutschen Wallichs keine Ärzte waren, sondern dem Kaufmannsberuf nachgingen. Von Beginn an hatten sie dabei an den dichten kommerziellen Netzwerken zwischen Hamburg, Altona und der dänischen Hauptstadt teil. Vermutlich stellte der 1731 gestorbene Abraham den ersten Vertreter des Wormser Zweigs dar, der sich in Hamburg niederließ. Dessen Enkel Daniel Jechiel war der bekannteste seiner hier lebenden Nachkommen. Er betätigte sich in der Elbmetropole als Edelsteinhändler, Bankier und Hoffaktor des Mecklenburger Herzogshauses, brachte es zu einem beträchtlichen Vermögen und war zudem Vorsteher der dortigen jüdischen Gemeinde. Als erster Angehöriger erwarb er einen dänischen Schutzbrief, der ihm auch in Dänemark den Handel ermöglichte.¹⁶

    Daniel Jechiel hinterließ keine überlebenden Söhne; Nathaniels Großvater, der in Hamburg geborene Lazarus Wulff, ging aus der Ehe von Jechiels Nichte Fromet mit Wolff Wallich hervor.¹⁷ Lazarus Wulff verließ Hamburg und ging als erster Angehöriger dauerhaft nach Kopenhagen, um dort als Kaufmann zu wirken. Auch er erhielt einen königlichen Schutzbrief, stand in geschäftlichem Kontakt mit der dänischen Asienkompanie und machte mit dem Schatzmeister Heinrich Carl Schimmelmann Geschäfte. Lazarus Wulff war mindestens zweimal verheiratet. Aus der ersten Ehe mit Frode, geb. Oppenheim, ging Wulff Lazarus als eines von mindestens elf Kindern hervor.¹⁸

    Obschon sich die Wallichs in ihrer mehrhundertjährigen Geschichte im Südwesten des Heiligen Römischen Reiches vor allem als Mediziner einen Namen gemacht hatten, lag der Beweggrund auch für die Übersiedlung nach Kopenhagen ausschließlich im Handel. Hierfür bot die dänische Hauptstadt in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts alle Möglichkeiten. Für viele dänische Kaufleute herrschten glänzende Zeiten. Noch leitete die weise Hand Andreas Peter Bernstorffs die Außenpolitik. Dessen oberste Prämisse hieß Neutralität. Auf Nord- und Ostsee und auf den Weltmeeren segelten in der Zeit des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges und der Revolutionskriege reich beladene Schiffe unbehelligt unter dem neutralen Danebrog und fuhren üppige Gewinne ein. Dänemark besaß in der Karibik, in Afrika und in Asien Kolonien; aber auch Schleswig-Holstein, Norwegen, Island und Grönland zählten unter dem Dach der Oldenburger Dynastie zum Gesamtstaat.¹⁹

    Das wirtschaftliche, politische und kulturelle Zentrum der dänischen Unionsmonarchie lag unbestritten in Kopenhagen. Als kundiger Chronist legte der Bibliothekar und Literaturprofessor Rasmus Nyerup im Jahre 1800 eine Beschreibung der dänischen Hauptstadt vor, die einige Zeit später auch in deutscher Sprache erschien.²⁰ Voller Überschwang lobte der aus Fünen stammende Gelehrte den multinationalen Kosmos der nordischen Metropole: »In Kopenhagen ist alles vereinigt, was man in andern Staaten zerstreut in mehreren Städten suchen muss. Kopenhagen ist eine Haupt- und Residenzstadt, der Sitz des beträchtlichsten Handels des ganzen Landes, die Hauptfestung des Reichs. Hier ist die einzige Universität zweier Königreiche; hier ist die Flotte und das Seearsenal; alle Manufakturen und Fabriken sind hier concentrirt; hier ist die Kunstakademie und das Theater; – mit einem Worte: Alles Merkwürdige und Interessante, das Dänemark aufzuweisen hat, findet man in Kopenhagen.«²¹ In der dänischen Hauptstadt bildete sich also die multinationale Monarchie mit den Kaufleuten, Kulturschaffenden, Studenten, Gelehrten und Staatsbediensteten aus allen Teilen des Reiches ab.²² Nyerup stellte zudem heraus, dass sich Kopenhagen seit dem Herrschaftsantritt König Christians VII. im Jahre 1766 stark verändert habe. Besonders hob er die Neugründung wissenschaftlicher Einrichtungen, etwa der Veterinärschule, des Naturkundemuseums und des Botanischen Gartens, hervor. Dieser war 1788 durch die Zusammenlegung des königlichen Gartens und des Medizinalgartens der Universität beim Schloss Charlottenborg hinter dem Kongens Nytorv gegründet worden. Auch die blühende Gewerbeproduktion trage in Form der Porzellanmanufaktur und der Tuchfabrik das Ihre zum geschäftigen Gesicht der Stadt bei. Kopenhagen sei grün und hell; allenthalben würden Alleen gepflanzt, und es gebe jetzt eine gute Straßenbeleuchtung.²³

    Nathaniel Wallich wurde in eine Zeit der Blüte, aber auch großer Umbrüche innerhalb der damals etwa 1800 Köpfe zählenden jüdischen Gemeinschaft der Stadt hineingeboren. In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts allmählich wahrnehmbare Erneuerungstendenzen standen im Zusammenhang mit der aufklärerischen Haskala-Bewegung um Moses Mendelssohn in Deutschland. Zum wichtigsten Mittel eines engen Kreises jüdischer Reformer bei der Durchsetzung ambitionierter, aufklärerischer Bildungs- und Lebensideale zählte die enge Kooperation mit der weltlichen Obrigkeit. Seit 1788 war es Juden offiziell gestattet, an der Universität Kopenhagen den Doktorgrad zu erwerben; und 1792 sowie 1795 setzte die dänische Regierung Kommissionen ein, die sich trotz inneren Widerstands der Modernisierung der jüdischen Gemeinschaft widmeten.²⁴

    Die Pressefreiheit brachte andererseits Unruhe mit sich. Auch Nathaniel sollte einmal die antijüdische Agitation des aus Deutschland stammenden Theologen und Justizrats Conrad Georg Friedrich Elias von Schmidt-Phiseldeck am eigenen Leibe zu spüren bekommen, der beinahe seine Karriere in Indien verdorben hätte. Ihren Höhepunkt erreichte die Stimmungsmache in der stark von deutschen Stimmen geprägten »Judenfehde« (»Jødefejden«) in der Zeit um 1810. Die Früchte einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung sollten denn auch erst geerntet werden, als Wallich schon längst in Ostindien lebte. So wurde am 18. August 1814 eine königliche Resolution erlassen, die gemeinhin die etwas irreführende Bezeichnung »Freiheitsbrief« trägt, de facto aber immerhin eine partielle Emanzipation der jüdischen Gemeinschaft in Dänemark mit sich brachte.²⁵

    Adelgade

    Inmitten der Stadt lebte die zum jüdischen Mittelstand zählende Familie von Wulff Lazarus Wallich und seiner Gemahlin Hannah, geborene Jacobson. Deren Hochzeit hatte im August 1778 stattgefunden; und das erste Kind, Aaron, wurde 1779 geboren, als der Vater 24 und die Mutter 21 Jahre alt waren.²⁶ Aaron – der später den christlichen Vornamen Arnold führte – sollte als Künstler Karriere machen. Zwischen 1798 und 1803 studierte er an der Kopenhagener Kunstakademie und brach anschließend zu einer Romreise auf. Eine gewisse Bekanntheit würde er schließlich nach Rückkehr über Paris 1809 mit der Schaffung einer Theaterdekoration für das Schauspiel »Et Fængsel« erlangen. Seit 1814 wirkte Aaron dauerhaft als Bühnenmaler am Königlichen Theater. Verheiratet war er mit seiner Cousine Frederikke. Drei Jahre nach Aarons Geburt kam Tochter Nanine auf die Welt, und am 28. Januar 1786 konnten die Wallichs inmitten des Winters die Geburt eines zweiten Sohnes feiern, der den aus dem Hebräischen abgeleiteten Namen Nathaniel, das Gottesgeschenk, erhielt. 1787 wurde dem Paar schließlich die Tochter Promethe geboren, die vermutlich in jungen Jahren starb. Zum Haushalt gehörte weiterhin ein Dienstmädchen.²⁷

    Mehrmals zog die Familie um. Einige Zeit lebte sie am Nytorv, 1787 finden wir sie in der Frederiksberggade, drei Jahre später am Gammel Strand, ehe sie in die Adelgade zog. So gut wie keine Informationen sind über das Leben und den Alltag der Wallichs überliefert. Vom Vater hatte Wulff Lazarus den Beruf des Kaufmanns ererbt. Während Lazarus Wulff in größerem Umfang am internationalen Handel beteiligt gewesen war, wissen die Quellen zu ihm selbst nichts dergleichen zu berichten. Immerhin firmiert der Jüngere im Volkszählungsprotokoll von 1787 als königlich privilegierter Kaufmann, wird also ebenso wie seine Hamburger Vorfahren im Besitz eines königlichen Schutzbriefs gewesen sein.²⁸

    Im Kopenhagener Elternhaus lernten Nathaniel und seine Geschwister ein modernes, aufgeklärtes und am Nutzen für das weltliche Gemeinwohl orientiertes Judentum kennen. Was der Großvater an kaufmännischem Erfolg vorweisen konnte, galt für den Vater hinsichtlich des gesellschaftlich-intellektuellen Diskurses um die Reform der jüdischen Gemeinschaft. So veröffentlichte Wulff Lazarus 1795, als der Sohn Nathaniel neun Jahre alt war, eine Schrift unter dem programmatischen Titel »Forslag til Forbedring i den Jødiske Menigheds Forfatning i Kjøbenhavn« und erläuterte in deren Vorwort seine reformerischen Ziele. Es gehe um nichts anderes als darum, die Lebensumstände »einer unglücklichen Nation« zu verbessern und deren Kultur und Glückseligkeit voranzubringen.²⁹

    Den Kindern gab Wulff Lazarus aber nicht allein eine aufklärerische Lebenshaltung mit auf den Weg, sondern auch den Sinn für das gesellschaftliche Ganze. Nicht gegenüber einer angenommenen jüdischen Nation sei man verpflichtet; denn in Dänemark kenne man nur eine Nation, und zwar die Dänische.³⁰ Die Sozialisation des noch in Norddeutschland geborenen Vaters fand also auch über eine nationale Neuverortung statt. Dass ebenso Nathaniel eher von einem dänischen denn von einem multinational-gesamtstaatlichen Nationsverständnis geprägt war, sollte gegen Lebensende sehr deutlich werden. Während des Bürgerkriegs in Schleswig-Holstein 1848–1850 fühlte und äußerte er sich dezidiert dänisch. Zu den abtrünnigen Kielern pflegte er keinen Kontakt.

    Die jüdische Gemeinschaft legte großen Wert auf eine möglichst gute Ausbildung ihrer Söhne. Aus einer anonymen Streitschrift der 1790er Jahre wird ersichtlich, aus welchen Inhalten die herkömmliche Ausbildung bestand: Neben dem Studium des Hebräischen und des Deutschen wurde aus dem Talmud und verschiedenen geistlichen Kommentaren gelesen. Hingegen lernten die jüdischen Jungen traditionellerweise, zumindest der Theorie nach, weder Schreiben noch Rechnen sowie keine anderen praktischen Fertigkeiten, die während einer späteren weltlichen Ausbildung von Nutzen für sie sein würden.³¹ Im Wallich-Haushalt hatte man sich demgegenüber ganz aufklärerisch-weltlichen Erziehungsidealen verschrieben. Dem Vater gelang es, schon früh die künstlerische oder die naturwissenschaftliche Begabung der Kinder zu erkennen und sie entsprechend ihrer Anlagen zu fördern. Zweifellos fand ein Gutteil der Ausbildung demnach nicht im Umfeld der jüdischen Gebetshäuser, sondern im elterlichen Haus unter den Augen des Vaters statt. Dabei vollzog sich trotz des Bekenntnisses zum Dänischen ein Teil der Erziehung in deutscher Sprache, wie es im damaligen Kopenhagen nicht ungewöhnlich war. Zeit seines Lebens beherrschte Wallich das Deutsche gut, und er zeigte sich stets als Connaisseur deutscher Literatur.³²

    In der Nacht vom 26. auf den 27. Februar 1794 brach über die dänische Hauptstadt die erste einer Reihe von Katastrophen herein, die vermutlich auch den wohlbehüteten Nathaniel und seine Geschwister jäh aus ihren Kindheitsträumen riss: Das königliche Schloss Christiansborg brannte. Von niemandem bemerkt, war das Feuer wohl schon nachmittags in den Gemächern des regierenden Kronprinzen Friedrich ausgebrochen. Über die große Zahl an verborgenen Hohlräumen und Ofenrohren breitete sich der Brand rasch aus und entwickelte sich schließlich zu einem alles verheerenden Inferno. Rasmus Nyerup wusste über die sich unter den Kopenhagenern zeigende Hilfsbereitschaft gegenüber dem Königshaus zu berichten: »Auch bey dieser traurigen Veranlassung zeigten die Einwohner Kopenhagens ihren Muth und ihre treue Ergebenheit für das Königl. Haus. Mit ausserordentlicher Anstrengung und seltener Uneigennützigkeit, ja selbst mit Lebensgefahr wurden viele Kostbarkeiten gerettet. Gegen zwanzig Menschen fielen, ohne Rettung, in die Flammen, als Opfer ihres thätigen Diensteifers.«³³ Die Residenz blieb unbewohnbar, und die königliche Familie fand in einem Adelspalais am Amalienborg-Platz eine neue Bleibe.

    Noch schlimmer sollte es knapp anderthalb Jahre später kommen. So entstand am 5. Juli 1795 auf dem Gammelholm erneut ein Feuer, das sich dieses Mal innerhalb kurzer Zeit auf mehrere Gebiete der Altstadt ausdehnte. Schließlich stand etwa ein Viertel der damaligen Hauptstadt in Flammen. Etwa 5000 Menschen wurden vorübergehend obdachlos – darunter auch eine erhebliche Zahl an wohlhabenden Bürgern. Insgesamt fielen dem Feuer 934 Häuser zum Opfer. Auch das Haus eines Onkels von Nathaniel brannte lichterloh.³⁴

    Schon wenige Jahre später konnte Nyerup berichten: »Die von seinen Ruinen auferstandene Hauptstadt tritt, wie der Vogel Phönix aus seiner Asche, in einer verjüngten und verherrlichten Gestalt hervor.«³⁵ Spätestens 1800 war auch vor den Toren der Stadt für alle sichtbar, dass eine neue Zeit angebrochen war. Seit jenem Jahr erinnert die Freiheitssäule an die Aufhebung des Schollenbandes als eine der wirklich großen Errungenschaften dänischer Reformpolitik.

    Das Studium an der Chirurgischen Akademie

    Das Jahr 1800 spielte auch für den jungen Nathaniel eine ganz besondere Rolle, denn im Alter von gerade einmal 14 Jahren wurde er an der Chirurgischen Akademie in der Norgesgade immatrikuliert.³⁶ Zweifellos waren es die Eltern, die entschieden, den jüngeren Sohn nicht den Kaufmannsberuf erlernen, sonden ihn in die Fußstapfen der südwestdeutschen Vorfahren treten zu lassen. Nicht unwahrscheinlich ist es auch, dass Wallich schon in jungen Jahren im aufgeklärten Elternhaus seine Liebe zur Naturforschung entdeckt hatte. Diese stellte im damaligen Kopenhagen eine junge Disziplin dar, die bis dahin kaum an der Universität gelehrt wurde. Vielmehr bildete sie einen Gegenstand von Amateurforschern wie des Oberhofmarschalls Adam W. Hauch, der über eine international bekannte Sammlung an physikalischen Apparaten verfügte. Oder jene wurde von Medizinern betrieben, etwa im Herausgeberzirkel der Zeitschrift »Physikalsk-oeconomisk og medicochirurgisk Bibliothek for Danmark og Norge«.³⁷ Erst später sollte mit Hans Christian Ørsted ein großer Stern der Naturforschung über Kopenhagen aufsteigen.

    Ein Brotberuf musste erlernt werden, der Nathaniels Interessen nach Möglichkeit entsprach. Die Wahl fiel aber nicht auf ein Medizinstudium an der Universität, sondern auf die Ausbildung zum Wundarzt an der Chirurgischen Akademie, die ihrerseits ein Kind der Aufklärung und des Reformabsolutismus darstellte. Mit der Gründung jener Institution zeitgleich mit dem Wiener Josephinum war ein ganz neuer Weg bei der Professionalisierung des Arztberufes beschritten worden. Traditionell hatte die Ausbildung der Ärzte in den Händen der medizinischen Fakultäten der Universitäten gelegen. Hier war jene aber eher theorielastig und konzentrierte sich hauptsächlich auf die inneren Krankheiten. Für die äußeren Leiden und Verletzungen war noch lange Zeit der Barbier zuständig. Medizinisches Wissen wurde in aller Regel in lateinischer Sprache publiziert, die die Barbiere meist nicht verstanden. Daneben konnte der Kranke die schlecht oder überhaupt nicht ausgebildeten Quacksalber aufsuchen.³⁸

    Bereits in der ältesten erhaltenen dänischen Medizinalordnung von 1619 wurde deutlich zwischen einem universitär ausgebildeten Mediziner und den Bartscherern, Apothekern, Bruchschneidern und Quacksalbern unterschieden. Allein ersterem war es gestattet, innerlich wirkende Medikamente zu verabreichen. Die Vorschläge, Bartscherer in bestimmten Kursen gemeinsam mit Ärzten auszubilden, verhallten ungehört. Es war ein langer Weg, ehe am 22. Juni 1785 in Kopenhagen die königliche Chirurgische Akademie gegründet wurde. Zwei weitere Jahre vergingen, bis die Akademie in das repräsentative, vom königlichen Bauinspektor Peter Meyn errichtete Gebäude in der Norgesgade direkt neben dem Friedrichs-Hospital einziehen konnte. Die Gründung bedeutete einen beträchtlichen Professionalisierungsschub; zudem war eine feste Anstellung als gut besoldeter öffentlicher Wundarzt in der Monarchie fortan fast nur noch über ein Studium dort zu haben. Dieses war sehr praktisch angelegt; gleichwohl hatten die Studenten in einzelnen Fächern auch akademische Lehrveranstaltungen an der Universität sowie am Botanischen Garten zu absolvieren (Tafel XI unten).³⁹

    Als Nathaniel mit seinem Studium begann, zeichnete sich bereits die große außenpolitische Krise am Horizont ab, die auch den Betrieb an der Chirurgischen Akademie in Mitleidenschaft ziehen sollte. Noch im Mai 1800 zählte die Matrikel insgesamt 64 Studenten; ein halbes Jahr später war nicht einmal mehr die Hälfte eingeschrieben. Stammten im Frühjahr 20 Kandidaten aus dem Heiligen Römischen Reich jenseits des Herzogtums Holstein, so waren es nunmehr nur noch fünf. Es ist zu vermuten, dass der Rückgang der Studierendenzahl insbesondere aus Deutschland mit der immer bedrohlicher werdenden politisch-militärischen Lage in Europa zu tun hatte. So hatte Napoleon im Sommer 1800 in der Schlacht von Marengo über die Österreicher gesiegt und damit die Briten ihres einzigen noch auf dem Kontinent verbliebenen ernstzunehmenden Verbündeten beraubt. Aber auch Dänemark geriet nach Bernstorffs Tod mit seiner stetig aggressiver werdenden Außen- und Finanzpolitik unter Ernst Schimmelmann zunehmend in gefährliches Fahrwasser.⁴⁰

    Im Oktober 1800 waren nur noch 29 Kandidaten an der Chirurgischen Akademie immatrikuliert, darunter Nathaniel als der bei weitem Jüngste. Die Studenten kamen aus allen Teilen der dänischen Monarchie. Elf stammten aus Dänemark selbst – darunter sechs aus Kopenhagen. Den nächstgrößeren Anteil machten die Studenten aus Schleswig aus. Aus dem Herzogtum Holstein stammten mit zwei Personen ebenso viele Kandidaten wie aus Norwegen. Jeweils ein Eleve war von dänischen Eltern auf der Karibikinsel St. Thomas und in Indien geboren. Damit bildete die Studentenschaft ein buntes Kaleidoskop des dänischen Gesamtstaats. Wenige andere Kandidaten stammten aus Mecklenburg, Pommern, Danzig und Thüringen.⁴¹

    An der Chirurgischen Akademie kam Wallich in Kontakt mit der schmalen medizinischen und botanischen Forscherelite Dänemarks. Zunächst hörte er bei den Professoren Abildgaard und Viborg Vorlesungen in Chemie, Mineralogie und Botanik. 1801 begann er mit dem Studium der eigentlichen Chirurgie, wozu der Besuch von Lehrveranstaltungen in den Fächern Chirurgie, forensische Medizin, Geburtskunde, Anatomie, Physiologie, Chemie, Toxikologie, Materia Medica und Diätetik zählten. Bald schon durfte er seine ersten Sporen in der medizinischen Praxis verdienen: So verzeichnet ihn die Matrikel der Chirurgischen Akademie im Jahre 1803 als »Volonteur« beim benachbarten Frederiks-Hospital.⁴²

    Wallich entwickelte früh eine Neigung zum Fach Botanik, das nicht an der Akademie selbst, sondern am Botanischen Garten der Universität gelehrt wurde. Ein solches Interesse war zu jener Zeit unter Medizinern nicht ungewöhnlich, denn die genaue Kenntnis der Heilpflanzen stellte eine zwingende Notwendigkeit für die Ausübung des Berufs dar. Die Botanik stand seit dem 18. Jahrhundert in Europa in großer Blüte und hatte das Interesse zahlloser Ärzte und Amateurgelehrter auf sich gezogen. Aus aller Welt trafen exotische Pflanzen in den botanischen Gärten der Kolonialmächte ein. Forscher wie Tournefort, Jussieu oder von Haller bemühten sich darum, die in immer größeren Zügen bekannte europäische und außereuropäische Pflanzenwelt zu beschreiben und in einem einheitlichen System zu klassifizieren. Eine wichtige Wegmarke stellte die von Carl von Linné geschaffene binäre Nomenklatur dar. In seinem Werk »Systema Naturae« von 1735 entwickelte Linné zudem anhand des von ihm beschriebenen Sexualsystems ein Klassifikationsschema, wonach er die Pflanzen in Phanerogamen (Blütenpflanzen) und Kryptogamen (sich ohne Blüte vermehrende Pflanzen) einteilte. Die weitere Einteilung der Phanerogamen ergab sich für ihn allein aus der Zahl, Länge und Gestalt der Staubblätter und Stempel der Blüte. Nicht in Betracht kamen andere, offensichtlichere Merkmale, wie die Gestalt der Blüten, Blätter oder Früchte. Entsprechend gilt Linnés Ordnung heute als »künstliches System«, dem seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert mit der Entwicklung eines »natürlichen Systems« eine starke Konkurrenz erwuchs.⁴³

    Dänemark selbst fand erst spät Anschluss an die sich globalisierende Pflanzenkunde, und die dortige Botanik konzentrierte sich in erster Linie auf die Untersuchung der heimischen Flora. Medizinprofessoren an der Universität Kopenhagen lehrten das Fach en passant, wie etwa der kränkelnde Christen Friis Rottbøll. Den ersten Impuls zu einem allmählichen Aufschwung lieferte das 1761 von König Frederik V. initiierte Forschungsund Publikationsprojekt einer »Flora Danica«.⁴⁴ Allmählich wuchs in diesem Umfeld eine junge Generation international vernetzter Linné-Schüler heran. Die drei bedeutenden Pflanzenforscher Martin Vahl, Jens Wilken Hornemann und Frederik Ludvig Holbøll befreiten schließlich den Gesamtstaat aus dem botanischen Dornröschenschlaf und bildeten ihrerseits einen ausgewählten Kreis junger, begabter Linné-Enkel aus.

    Der weit über die Grenzen Dänemarks hinaus angesehene Norweger Martin Vahl war der Doyen der modernen Pflanzenforschung im Gesamtstaat. Nach dem Studium in Kopenhagen hatte er eine Zeit lang in seiner norwegischen Heimat botanisiert. Anschließend studierte er fünf weitere Jahre bei Carl von Linné, nahm an dessen Privatlektionen teil und kam als überzeugter Linné-Schüler nach Kopenhagen zurück. Ohne feste Anstellung war er zunächst als Lektor am dortigen botanischen Garten beschäftigt und hielt anfangs unbesoldet Lehrveranstaltungen sowie botanische Exkursionen ab. Später übernahm Vahl die Herausgabe der »Flora Danica«. Nach langem Warten und mehreren Auslandsaufenthalten erhielt er schließlich 1801 die erst seit einigen Jahren existierende Professur für Botanik an der Kopenhagener Universität.⁴⁵

    Vahl arbeitete international, und unter seiner Ägide erfuhr die dänische botanische Forschung erstmals über den Gesamtstaat hinaus Anerkennung. Er selbst lernte nicht nur durch seine eigenen Reisen die europäische und nordafrikanische Pflanzenwelt kennen, sondern stand über den Missionar und Amateur-Botaniker Christoph Samuel John auch mit Indien in

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