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Tentakel
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eBook162 Seiten3 Stunden

Tentakel

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Über dieses E-Book

Ein karibischer Roman vom Strand der Zukunft – und die uralte Frage, brennend wie der Kuss einer Seeanemone: Wer ist Ich?

"Tentakel" tankt den magischen Treibstoff lateinamerikanischer und karibischer Traditionen, um deren Grenzen lustvoll hinter sich zu lassen. Ein Roman, der unsere Fragen nach Identität, Sex und Gender auf unkonventionelle Weise verhandelt – und eine so bemerkenswerte wie befreiende Antwort findet. Ein kompromissloses, schnelles, unverschämtes Buch, an dem sich nicht nur die Voodoo-Geister scheiden – wie immer, wenn Literatur etwas wagt.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum9. März 2018
ISBN9783803142337
Tentakel

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    Buchvorschau

    Tentakel - Rita Indiana

    Aus dem dominikanischen Spanisch von Angelica Ammar

    Die spanische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel La mucama de Omicunlé bei Editorial Periférica in Cáceres. Die Übersetzung aus dem dominikanischen Spanisch wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amts unterstützt durch Litprom e. V. – Literaturen der Welt.

    E-Book

    -Ausgabe 2018

    © 2015, Rita Indiana and Editorial Periférica

    © 2018 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40 / 41, 10719 Berlin

    Covergestaltung: Julie August unter Verwendung einer Fotografie © Reinhard Dirscherl / AGE / F1online

    Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

    Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

    ISBN: 9783803142337

    Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3293 2

    http://www.wagenbach.de/

    Für Noelia

    Full fathom five thy father lies;

    Of his bones are coral made;

    Those are pearls that were his eyes;

    Nothing of him that doth fade,

    But doth suffer a sea-change

    Into something rich and strange.

    Sea-nymphs hourly ring his knell:

    Ding-dong.

    Hark! now I hear them — Ding-dong, bell.

    William Shakespeare, The Tempest

    OLOKUN

    Die Klingel von Esther Escuderos Wohnung ist auf Meeresrauschen programmiert. Das Dienstmädchen Acilde hat gerade seinen Arbeitstag begonnen und hört, wie jemand unten, am Tor vor dem Gebäude, erneut mit Gewalt auf den Klingelknopf drückt. Dadurch setzt das Meeresrauschen pausenlos von Neuem an, und der Klang anbrandender Wellen wirkt zunehmend unrealistisch. Acilde führt Zeigefinger und Daumen zusammen und aktiviert damit in ihrem Auge die Überwachungskamera zur Straße. Sie sieht einen der vielen Haitianer, die über die Grenze geflüchtet sind, seit die Quarantäne über die andere Seite der Insel verhängt wurde.

    Das Sicherheitssystem des Gebäudes erkennt den Virus in dem Schwarzen und schießt einen Strahl tödlichen Giftgases ab. Zugleich werden die Nachbarn darüber informiert, dass sie den Eingang des Gebäudes meiden sollen, bis die Sammelroboter, die auf den Straßen und Gassen patrouillieren, den Körper abgeholt und zerlegt haben.

    Als der Mann zu zucken aufhört, loggt Acilde sich aus und macht sich wieder daran, die großen Fenster zu putzen, über die sich jeden Tag ein klebriger Rußfilm legt, der nur dank Windex weicht. Als sie den Glasreiniger mit dem Tuch abwischt, sieht sie, wie auf dem Gehsteig gegenüber ein Sammelroboter einen weiteren Illegalen fängt, eine Frau, die sich erfolglos hinter einem Müllcontainer versteckt hat. Der Roboter hebt die Frau mithilfe seines Metallarms in die Höhe und deponiert sie mit der Schnelligkeit eines vernaschten Kindes, das sich ein schmutziges, auf dem Boden liegendes Bonbon in den Mund steckt, in der mittleren Kammer seiner Apparatur.

    Auch etwas weiter die Straße hinauf arbeiten zwei Sammelgeräte unermüdlich; auf die Entfernung kann Acilde allerdings nicht erkennen, hinter welchen Menschen die gelben Maschinen her sind, die aussehen wie Bulldozer auf einer Baustelle.

    Mit dem rechten Daumen berührt sie ihr linkes Handgelenk, um den PriceSpy zu aktivieren. Die App blendet in ihrem Sichtfeld Marke und Preis der Roboter ein. Die Marke heißt Zhengli, die englische Übersetzung des Wortes, to clean up, erscheint darunter, zusammen mit aktuellen Nachrichten und Bildern. Die chinesischen Aufräumgeräte sind von der kommunistischen Großmacht gestiftet worden, »als kleine Unterstützung in den schweren Zeiten, die die karibischen Inseln nach dem Unglück vom 19. März durchleben müssen«.

    Die Informationsflut blockiert ihr Sichtfeld und erschwert das Abstauben der Keramikfiguren. Sie schließt das Programm, um sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren.

    Esther, die gerade – wie man vom Wohnzimmer aus hört – am Waschbecken ihrer Morgentoilette nachgeht, kontrolliert Acildes Gewissenhaftigkeit, indem sie gelegentlich auf der Suche nach einem Staubkörnchen mit dem Finger über die Figuren streift. Die Sammlung der Alten besteht vor allem aus Fischen, Booten, Sirenen und Muscheln, alles Geschenke von Kunden, Patenkindern und Sterbenskranken, die ihre letzte Hoffnung in Esther Escuderos Heilkräfte setzen. Glaubt man den sozialen Netzwerken, hat Präsident Bona seinen Wahlsieg und Machterhalt dieser graumelierten Dame zu verdanken, die jetzt in ihren blauen Seidenpantoffeln in die Küche schlurft und sich in eine große Tasse den Kaffee einschenkt, den Acilde ihr vor ein paar Minuten gekocht hat.

    In ihrer ersten Arbeitswoche ist Acilde eine dieser Keramikfiguren heruntergefallen, ein pastellfarbener Pirat, der auf dem Boden zerbröselte. Zu ihrem Erstaunen hat Esther sie nicht ausgeschimpft, sondern mit der weihevollen Miene, die beinahe alles begleitet, was sie sagt, erklärt: »Fass es nicht an, etwas Böses ist da entwichen.« Die Alte füllte Wasser in eine Kalebasse und schüttete es über die Keramikscherben. Dann wies sie Acilde an: »Hol Schaufel und Besen und wirf alles durch die Hintertür auf die Straße.«

    Für Acildes Chefin war ein schwarzer Schmetterling ein dunkler Totengeist; brannte eine Glühbirne durch, wollte Chango sich manifestieren; und heulte am Ende eines Gebets eine Autosirene los, war es das Zeichen, dass ihre Bitte erhört worden war.

    Bevor sie zu Esther kam, hat Acilde im Parque Mirador Schwänze gelutscht. Bekleidet ging ihr Körper mit den winzigen Brüsten und den schmalen Hüften als der eines fünfzehnjährigen Jungen durch. Sie hatte mehrere Stammkunden, vor allem verheiratete Männer, Mittsechziger, die nur einen hochkriegten, wenn ein hübscher Knabe den Mund spitzte. Acilde zog meistens ein übergroßes Sweatshirt an, in dem sie noch jünger aussah, und statt wie die anderen über den Gehsteig zu schlendern und mögliche Kunden anzulabern, setzte sie sich im orangefarbenen Licht der Straßenlaternen auf eine Bank und tat so, als lese sie einen Comic. Je unbekümmerter das Kind wirkte, das sie spielte, desto mehr Kunden angelte sie sich. Manchmal ging sie so in der Rolle des Schuljungen auf, der mit einem angewinkelten Bein auf der Bank saß und frische Luft schnappte, dass sie ganz vergaß, warum sie da war – bis ein Hupen sie zurückholte an den Rand des Parque Mirador, wo bemitleidenswerte Typen sie durch die Scheiben ihrer BMWs musterten.

    Mit dieser Strategie hatte sie auch Eric, Esthers rechte Hand, aus seinem Wagen gelockt. Eric, ein kubanischer Arzt mit den Gesichtszügen eines Filmstars, hatte es eigentlich nicht nötig, für Sex zu bezahlen, aber die kleinen weißen Mittelklasse-Jungs, die sich für einen Trip prostituierten, machten ihn ganz verrückt. In der Morgendämmerung hatte Acilde ihm damals in der Präsidentensuite – so wurde die kleine Lichtung zwischen den Büschen genannt, wo das Gras weicher war – einen geblasen. Eric hatte ihren Kopf dabei festgehalten, ihre glatten Wangen gestreichelt und war in ihrem Mund gekommen. Kurz darauf massierte er schon wieder seinen Penis.

    »Beug dich vor, ich steck ihn dir rein«, befahl er ihr, als Acilde noch zur Seite ausspuckte, sich mit beiden Händen die Kniepartien ihrer Levi’s säuberte und die fünftausend Pesos für den Blowjob verlangte. »Ich will dich ficken«, sagte Eric im Licht der Autoscheinwerfer, die ihm über Brust und Bauch glitten. Acilde hatte den Satz »Gib mir meine Kohle, Schwuchtel« noch nicht zu Ende gesagt, da war Eric schon über ihr und drückte sie auf den Boden. Ihre Schreie – »Ich bin ein Mädchen, scheiße« – wurden vom Gras in ihrem Mund erstickt. Zu diesem Zeitpunkt war es Eric ohnehin restlos egal, wer oder was sie war, er zwängte ihr seinen trockenen Schwanz in den Arsch. Erst als er fertig war und Acilde aufstand, um sich die Hose anzuziehen, entzündete er ein Feuerzeug und sah nach, ob es stimmte, ob er es wirklich mit einer Frau zu tun hatte. »Ich bezahl dir einen Aufschlag für die Spezialeffekte«, sagte er. Und beim Anblick des Bündels Scheine, das er ihr hinhielt, nahm sie seine Einladung zum Frühstück an.

    Die Stände mit frittiertem Fisch, die das Seebeben von 2024 von der Strandpromenade gefegt hatte, waren im Parque Mirador wieder aufgetaucht wie Fliegen, die man mit der Hand verscheucht hat. Diese neue, nach hinten versetzte Promenade entlang des Strandes, der kontaminiert war von nicht geborgenen Leichen und überschwemmtem Schrott, war ein Paradies, verglichen mit manchen Vierteln im oberen Teil der Stadt, wo die Sammelroboter nicht nur ihre üblichen Ziele, sondern auch Obdachlose, psychisch Kranke und Prostituierte aufgriffen.

    Sie setzten sich auf Plastikstühle unter bunten Sonnenschirmen und bestellten gebratene Kochbananen mit Bratwürstchen.

    »Gibt nichts Schlimmeres als einen süchtigen Stricher«, sagte Acilde zu Eric und schlang ihr Essen herunter. »Die stecken sich das Geld direkt in die Nase, die Muttersöhnchen, aber ich nicht, ich will ’ne Ausbildung zum Koch machen, Chef in ’nem piekfeinen Restaurant werden, und mit dem, was ich verdien, lass ich mir die Dinger hier wegmachen.«

    Sie fasste sich mit beiden Händen an die Brüste, die Eric jetzt, da er wusste, dass es sie gab, als zwei Pünktchen, kaum größer als Bienenstiche, unter dem

    T-Shirt

    erahnen konnte.

    »Ich kann dir einen Job besorgen, einen besseren als den hier, bei jemandem, der dich gut gebrauchen könnte«, sagte Eric.

    »Ich will keinen Mann, der mich aushält«, warnte ihn Acilde und wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab. Eric erklärte ihr den Deal:

    »Nein, nein, es geht um eine alte Santera, eine Vertraute des Präsidenten, die braucht jemanden wie dich, jung und aufgeweckt, der für sie kocht und das Haus in Ordnung hält.«

    Acilde sah ihn verwirrt an. »Warum sollte die eine Stricherin wie mich haben wollen?«

    Eric überlegte einen Augenblick, dann sagte er:

    »Ich kann sie dazu bringen, dir die Kochschule zu bezahlen.«

    Acilde führte Zeige- und Mittelfinger zusammen, um ihr Postfach zu öffnen, und streckte ihren Ringfinger aus, den Eric mit seinem berührte, sodass er in seinen eigenen Augen die Datei sah, die Acilde mit ihm teilte. Es war die Werbung für einen italienischen Kochkurs mit Chefkoch Chichi De Camps, den man diese Woche zum Sonderpreis buchen konnte, eine Schürze, die das Konterfei des berühmten Kochs mit dem Doppelkinn und der Cashewnase zierte, gab es gratis dazu.

    Acildes Zimmer in Esthers Haus war eine dieser winzigen Kammern, wie sie im Santo Domingo des 20. Jahrhunderts in den Wohnungen üblich gewesen waren, als noch jeder ein festes Dienstmädchen hatte, das mit im Haus lebte und – für weniger als den Mindestlohn – putzte, kochte, wusch, auf die Kinder aufpasste und unauffällig die sexuellen Bedürfnisse der männlichen Familienmitglieder befriedigte. Der Boom in der Telekommunikationsbranche und die Fabriken der Freihandelszone hatten neue Arbeitsplätze für diese Frauen geschaffen, die sich nach und nach aus der Sklaverei verabschiedeten. Inzwischen wurden diese sogenannten Dienstbotenzimmer als Abstellräume oder Arbeitszimmer verwendet.

    Die Stelle war ein Geschenk des Himmels. Ihre Runden im Mirador hatten gerade fürs Essen und das monatliche Datenvolumen gereicht, das für sie absolut lebensnotwendig war. Ging sie auf den Strich, aktivierte sie den PriceSpy, um anhand der Kleidung ihrer Kunden den jeweiligen Tarif festzulegen. Für die Arbeit hatte sie eine Playlist zusammengestellt, die mit »Gimme! Gimme! Gimme!« von ABBA endete. War die Nacht so gut wie vorbei, bestand die Herausforderung darin, sich noch schnell einen Kunden zu angeln, ihn abzufertigen und zu kassieren, bevor die Live-Version des Liedes zu Ende war.

    Wenn ihr das gelang, belohnte sie sich mit einem Teller Ravioli Quattro Formaggi im El Cappuccino, einer Trattoria ein paar Straßen weiter. Die Ravioli bestellte sie mit den paar Brocken Italienisch, die sie online lernte, wenn im Mirador gerade nichts ging, und sie malte sich aus, welch eingehende Unterhaltungen sie einmal mit den Typen führen würde, die täglich im El Cappuccino zu Mittag aßen, Italiener mit sündhaft teuren Schuhen, die über Geschäfte und Fußball redeten.

    Immer wieder stellte sie sich vor, einer der Männer könnte ein Freund ihres Vaters sein und sie aufgrund ihrer Ähnlichkeit erkennen. Die reine Hirnwichserei. Ihr Vater war gerade lange genug bei ihrer Mutter geblieben, um sie zu ficken und zu schwängern. Ihre Mutter Jennifer war dank ihrer goldbraunen Haut und ihren schönen glatten Haaren mit einem Modelvertrag nach Mailand gereist, dann aber am Heroin

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