Quasi
Von Sara Mesa
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Über dieses E-Book
Alles beginnt im Spätsommer, in einem Park. Als er plötzlich vor ihr steht, fühlt sie sich überrumpelt. Quasi ist "quasi vierzehn" und schwänzt nicht zum ersten Mal die Schule. Der Alte ist freundlich, schüchtern fast, gar nicht wie die anderen Männer, denen sie schon begegnet ist.
Am nächsten Tag kommt er wieder. Der Alte liebt nichts mehr als Vögel und die Musik von Nina Simone, arbeiten will er nicht. Quasi glaubt, allein zu sein in der Welt, die Gleichaltrigen sind ihr fern und fremd. Sie findet sich uninteressant, wäre gern abenteuerlustiger, vielleicht verführerischer. Den Alten scheint das nicht zu kümmern. Aber was steckt dann hinter den "falschen Verdächtigungen", von denen er erzählt? Tage und Wochen vergehen so: redend und schweigend im Gebüsch, und zugleich wächst die Gefahr, entdeckt zu werden – von den Eltern, der Schulbehörde oder anderen Parkbesuchern. Quasi weiß, dass etwas passieren muss …
Reduziert und mit beunruhigender Unterströmung erzählt dieser kurze Roman von zwei Außenseitern – und nähert sich langsam dem Tabu einer Beziehung, an der alles verdächtig, ja fast unerträglich erscheint.
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Buchvorschau
Quasi - Sara Mesa
Die spanische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Cara de pan bei Editorial Anagrama S.A. in Barcelona.
La traducción de esta obra ha recibido una ayuda del Ministerio de Cultura y Deporte de España.
Die Übersetzung dieses Werks wurde gefördert durch das Spanische Ministerium für Kultur und Sport.
Der Übersetzer dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die Förderung seiner Arbeit am vorliegenden Text.
E-Book-Ausgabe 2020
© 2018 Sara Mesa
© 2020 für die deutsche Ausgabe:
Verlag Klaus Wagenbach
Emser Straße 40/41, 10719 Berlin www.wagenbach.de
Covergestaltung Julie August unter Verwendung eines Motivs der Tapetenfabrik Rasch
Alle Rechte vorbehalten
Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.
Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.
ISBN: 9783803142733
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3321 2
www.wagenbach.de
Erster Teil
Der Park
Beim ersten Mal ist sie so überrumpelt, dass sie bei seinem Anblick zusammenzuckt. Das Mädchen sitzt mit dem Rücken an den Baum gelehnt da und liest eine Zeitschrift, als sie hört, wie Schritte näherkommen, das Rascheln im Laub, da steht er plötzlich vor ihr – vielleicht ein wenig verwirrt, aber nicht überrascht, sie hier, hinter den Büschen versteckt, anzutreffen. Der Alte bittet um Verzeihung – »Ich wollte dich nicht erschrecken!«, sagt er – und fragt anschließend, was sie da liest. Aber zwischen dem einen und dem anderen – zwischen der Entschuldigung und der Frage – findet das Mädchen Zeit, um zu reagieren. »Das hier«, antwortet sie und zeigt ihm die Zeitschrift, »eine Mädchenzeitschrift.« Vielleicht, sagt sie sich, wird er sie angesichts der Zeitschrift, bei der es sich offensichtlich nicht um eine Zeitschrift für Kinder handelt, für älter halten, als sie in Wirklichkeit ist, und sich die gefürchtete Frage – »Was machst du hier, um diese Uhrzeit?« – sparen, aber der Alte begnügt sich damit, zu lächeln und unsicher die Zeitschrift zu mustern. Zunächst sieht es so aus, als wollte er nach ihr greifen – seine Finger zögern, strecken sich in ihre Richtung aus –, doch dann bricht die Bewegung ab, und die Hand fällt schlaff, wie tot, seitlich nach unten. Jetzt sieht der Alte das Mädchen an, dann wieder die Zeitschrift, das Mädchen, den Baum, die kleine Zuflucht zwischen den Büschen, fängt schließlich an zu sprechen und sagt: »Was steht in der Zeitschrift? Um was geht es da?« Das Mädchen löst die Schultern vom Baumstamm, beugt sich vor, in Richtung der übereinandergeschlagenen nackten Beine. Vom stundenlangen Dasitzen im trockenen Gras hat sie Abdrücke auf der Haut, lauter kleine rote Flecken. »Um Mädchensachen«, sagt sie. »Um Musik und Spiele und so, und Filme und Klamotten, Klatsch und Musik, Klatsch über Sänger und Schauspieler, also über ihr Leben und so, meine ich.« »Da kenne ich mich nicht aus«, sagt er, aber aus seinen Worten spricht weder Ablehnung noch Verachtung. »Ich lese auch Zeitschriften«, sagt er, »aber in meinen geht es um Vögel!« Das Mädchen murmelt verwundert: »Um Vögel?« Dabei denkt sie, dass der Alte sich vielleicht auf etwas anderes bezieht, dass er auf etwas anspielen will. Dieser Gedanke verstärkt ihr Misstrauen, ja, sie überlegt sogar, ob sie weglaufen soll, doch da spricht der Alte weiter, und was er sagt, klingt ehrlich, ohne Hintergedanken. »Nicht nur um Vögel«, erklärt er, »sondern um Tiere im Allgemeinen, reine Vogelzeitschriften sind nicht so einfach zu bekommen, und außerdem sind sie teuer!« Früher hatte er mal eine abonniert, aber die gibt es nicht mehr, sie wurde jede Woche zu ihm nach Hause geliefert, und da hat er alles gelernt, was er über Vögel weiß, und das ist ziemlich viel! Der Alte spricht wie ein Kind – mit der Selbstvergessenheit und Begeisterung eines Kindes –, und das Mädchen betrachtet ihn neugierig. Morgens – fährt er fort – trifft man in diesem Park des Öfteren auf Wiedehopfe, und immer häufiger auch auf Halsbandsittiche, ja, manchmal sogar Türkentauben, ob sie das noch nicht bemerkt hat? Das Mädchen schüttelt den Kopf. Sie weiß nicht einmal, woran man eine normale Taube erkennt, wie soll sie die da von einer Türkentaube unterscheiden? Und außerdem denkt sie: Was für ein komischer Typ. Sie sieht ihn an, ohne ganz den Kopf zu heben, von schräg unten, schließlich sitzt sie noch, während er weiterhin steht. Sie mustert ihn – von unten nach oben: die eleganten Schnürschuhe, die helle Anzughose, das dazu passende – trotz der Hitze dicke und feste – Jackett und den kleinen Sportrucksack, der ihm über der Schulter hängt und so gar nicht zu seiner übrigen Montur passt. Sie betrachtet die fleckigen dicklichen Hände, den kleinen Kopf, die Brille mit dem Drahtgestell und den Schnurrbart, das wirre hellbraune Haar, ein bisschen wie bei einem Verrückten. Sie findet ihn zum Lachen, aber nicht so sehr, dass sie ihr Misstrauen völlig ablegen würde. Der Alte spricht weiter. »Inzwischen tauchen exotische Arten auf, die früher hierzulande nie zu sehen waren«, erklärt er, »neue Arten, die sich an die unbekannte Umgebung anpassen und zu einer Gefahr für die autochthonen« – bei diesem Wort kommt er ins Stottern, erst beim dritten Versuch gelingt es ihm, es korrekt auszusprechen –, »also für die autochthonen Arten werden.« Ihm ist das egal, fährt er fort, ihm gefallen alle Arten, die von auswärts und die von hier, für ihn kommt es nicht darauf an, woher sie stammen, sie sind allesamt außergewöhnlich! Er verstummt und versinkt für einige Sekunden in Nachdenklichkeit. Und dabei ändert sich sein Gesichtsausdruck. Die Augen treten hervor und werden kreisrund – als würde er auf einmal etwas begreifen –, das Kinn beginnt leicht zu zittern. »Ich bin lästig«, sagt er und bittet zum zweiten Mal um Entschuldigung. »Nein, nein«, sagt das Mädchen aus Höflichkeit, aber er besteht darauf und erklärt bekümmert, dass er immer zu viel spricht und dass er, wenn es ihm niemand sagt, weiter und weiter redet. Er braucht jemanden, der ihm das sagt, fügt er traurig hinzu, von allein merkt er das nicht, das schafft er nicht! Er blickt sich um und verabschiedet sich dann mit einem ruckartigen Nicken von dem Mädchen, das ihm ratlos zusieht. Sie spürt Erleichterung, als er sich umdreht und sich ungeschickt durchs Gebüsch schlägt – zum Glück ist sie wieder allein, sagt sie sich, obwohl der Mann eigentlich harmlos wirkte, ganz anders als die Männer, denen sie auch schon begegnet ist, die gefährlichen Männer.
Ungefähr um die gleiche Uhrzeit kommt der Alte wieder. Jetzt findet das Mädchen ihn nicht mehr zum Lachen, sie fragt sich, ob er ihr womöglich nachspioniert. Er benimmt sich allerdings so schüchtern und zurückhaltend wie am Tag davor. Er ist auch genauso angezogen und schaut genauso erstaunt und verlegen drein. Diesmal fragt er, ob er sich eine Weile zu ihr setzen darf. Dann lässt er sich in der größtmöglichen Entfernung von ihr nieder – das Versteck, die freie Fläche zwischen den Büschen und dem Baum, ist kaum mehr als ein paar Meter breit. Im Schneidersitz, die Hände auf den Knien, sieht er sie lächelnd an und atmet tief durch. »Liest du heute nichts?«, fragt er, aber er fragt so, als ob er ihr auch irgendeine andere Frage hätte stellen können, sagt sich das Mädchen, wohl um das Schweigen zu brechen. Sie holt ein Buch aus ihrem Schulrucksack, eins der Bücher, die sie für die Schule hat kaufen müssen, und hält es dem Alten hin, der sich vorbeugt und es ihr abnimmt. »Gefällt es dir?«, fragt er, während er darin blättert. »Naja, geht so. Ganz interessant.« Wieder lächelt der Alte. »Dir ist wohl oft langweilig, was?« »Nein«, sagt sie. Und fügt hinzu: »Nicht besonders, ganz normal.«
Er hat noch nie gern gelesen. Nur seine Vogelzeitschriften, sagt er, oder Bücher über die Natur im Allgemeinen. Bei Romanen dagegen kommt er immer ganz durcheinander. Sobald er anfängt, einen Roman zu lesen, ist er schon nach kurzer Zeit mit den Gedanken woanders, aber nicht weil er unaufmerksam ist, im Gegenteil, er steigert sich viel zu sehr in die Geschichte hinein! Er heftet sich dem Protagonisten oder irgendeiner anderen Figur an die Fersen und stellt sich vor, er oder sie sei er, oder er er oder sie. Und dann fängt er an, in die Geschichte einzugreifen, er kann nicht anders. Manchmal versetzt er sich auch in mehrere Figuren gleichzeitig hinein, und dann entsteht ein heilloses Durcheinander. Jedes Mal stellt er dann irgendwann fest, dass er liest, ohne etwas mitzubekommen. Er ist imstande, Seite um Seite zu lesen, ohne auch nur das Geringste mitzubekommen! Seine Gedanken schwirren währenddessen frei um ihn herum! Ob ihr das nicht so geht? Das Mädchen zuckt die Schultern. Sie liest auch nicht gern, gibt sie zu.
»Und warum hast du dann ein Buch dabei?«
Eine Amsel hüpft unter den Zweigen hervor, sieht die beiden und macht sich, aufgeregt zwitschernd, eilig wieder davon. Ihr Auftritt lenkt den Alten ab, was dem Mädchen die Möglichkeit verschafft, sich eine angemessene Antwort auf eine derart dumme Frage zu überlegen. Warum hat sie ein Buch dabei? Bloß nicht die Schule erwähnen. Sonst fragt der Alte gleich noch, in welche Klasse sie geht, und wird seine Schlüsse daraus ziehen. Sie kann sagen, dass das Buch ihrem Bruder gehört. Dass sie es sich aus seinem Zimmer geholt hat – was nur logisch wäre, schließlich besitzt ihr Bruder haufenweise Bücher, und jetzt, wo er nicht da ist, kann sie sich so viele davon ausleihen, wie sie möchte. Als sie das gerade sagen will, also dass das Buch ihrem Bruder gehört, steht der Alte auf, schüttelt sich die Grashalme von der Hose und reckt und streckt sich, als tue ihm alles weh. Uff, stöhnt er, sein Körper taugt nicht mehr dazu, wie ein Indianer auf dem Boden zu hocken! Das Mädchen fragt sich, wie alt dieser Alte sein mag, der sie rätselhafterweise immer noch nicht gefragt hat, wie alt sie ist.
Sie hat schon überlegt, ob sie sich ein neues Versteck suchen soll, aber sie findet keins, das so gut ist wie dieses. Obwohl die Rinde des Baums hart und rau ist, gibt es eine ziemlich glatte Vertiefung im Stamm, wo sie sich bequem anlehnen kann. Die kleinen, samtig grünen Blätter des Baums sind zart und weich, und die Zweige, die tief herabhängen, bilden eine Art Unterschlupf, ein Geflecht aus Licht- und Schattenflecken. Der Zugang befindet sich an einer Stelle, wo das Gebüsch etwas weniger dicht ist – gerade so licht, dass das Mädchen hindurchsteigen kann. Sobald sie einmal dort drinnen ist, zwischen Baum und Büschen, kann sie von niemandem mehr entdeckt werden, auch nicht von jemandem, der in unmittelbarer Nähe vorbeigeht, es sei denn, er streckt den Kopf hinein. Falls sie pinkeln muss, kann sie das einfach dort erledigen, irgendwo seitlich am Rand, sie kann nahezu sicher sein, dass niemand sie sehen wird. Außerdem ist der Park zu dieser Uhrzeit menschenleer. Sie kommt immer gegen halb neun, hastig, mit gesenktem Kopf, wobei sie sich bemüht, möglichst lässig zu gehen – mit dieser Lässigkeit, die sie bei den älteren Mädchen beobachtet hat, bei den Jugendlichen –, den Rucksack über der Schulter hängend, Kopfhörer auf den Ohren, mit den Turnschuhen über den Boden schleifend. Normalerweise begegnet sie niemandem, nur manchmal sieht sie in der Ferne die vielbeschäftigten Parkarbeiter in ihren Uniformen. Um elf isst sie ihr Pausenbrot, um eins wird sie ein wenig schläfrig – nicht, weil sie das so geplant hätte,