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Bevor die Welt unterging: Roman
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eBook248 Seiten3 Stunden

Bevor die Welt unterging: Roman

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Über dieses E-Book

Judith ist ein Teenager, als die achtziger Jahre beginnen. Sie lebt in behüteten Verhältnissen in einer Kleinstadt und wächst, wie ihre Eltern nicht müde werden zu versichern, in einer Epoche von beispiellosem Frieden und Wohlstand auf. Tatsächlich wird ihre Adoleszenz geprägt vom Kalten Krieg und Wettrüsten, vom drohenden Waldsterben, von der neuen Seuche Aids und dem Reaktorunfall in Tschernobyl.Judith und ihrer Clique gelingt es, den Bedrohungen von Artensterben und Atomkrieg, der scheinbaren Ausweglosigkeit und der Apokalypse zum Trotz, eine ganz normale Jugend zu erleben, mit Partys und Protest, Ausflügen, Liebe und Verrat.Als schließlich die Mauer fällt, hat Judith das Gefühl, dass ihr Leben jetzt erst so richtig beginnen kann.Ein Roman über das Erwachsenwerden in einer Zeit, die erstaunliche Parallelen zu den Problemen und Themen der heutigen Jugend aufweist – vom Klimawandel über den Reaktorunfall von Fukushima bis zu den Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt.
SpracheDeutsch
HerausgeberPicus Verlag
Erscheinungsdatum28. Aug. 2017
ISBN9783711753533
Bevor die Welt unterging: Roman

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    Buchvorschau

    Bevor die Welt unterging - Kirstin Breitenfellner

    1. KAPITEL

    1980

    Die Poren waren riesig. Wie kleine Krater klafften sie in ihrer Haut. Judith brachte ihr Gesicht näher zum Spiegel. Hatte sie das früher nicht bemerkt? Früher hatte sie gar nichts bemerkt. Sie hatte geschlafen. Ihre Kindheit verschlafen und sich selbst keines Blickes gewürdigt.

    Sie hatte nicht gesehen, ob ihr Pony, den Mama mit einer schlechten Schere schnitt, schief oder gerade war, und wenn sie es gesehen hätte, wäre es ihr egal gewesen. Je näher sie dem Spiegel kam, desto merkwürdiger wurde ihr Gesicht. Desto weniger wusste sie, ob sie es schön oder hässlich finden sollte.

    Links neben der Nase saß ein Pickel. Judith riss ein Taschentuch in zwei Teile und drückte von beiden Seiten dagegen. Sie spürte einen Nadelstich in ihrem Gesicht, und auf dem Spiegel klebte ein kleiner weißer Fleck.

    Judith wischte ihn erschrocken weg. Der Pickel sah jetzt schlimmer aus als vorher, rot und aufgedunsen. In seinen Krater trat eine wässrige Flüssigkeit.

    In ihren Augen standen Tränen. Sie nahm einen Wattebausch und reinigte die Stelle mit dem blauen Gesichtswasser, das sie sich letzte Woche gekauft hatte. Es hieß Clearasil und machte alles noch schlimmer, fand Judith, aber das Brennen, das es hinterließ, gab einem das Gefühl, etwas getan zu haben.

    Besser war der Abdeckstift, der brachte den Pickel zwar nicht zum Verschwinden, aber er leuchtete dann nicht mehr so stark aus dem Gesicht heraus.

    Judith nahm die neue Haarschere, die sie ihrer Mutter abgerungen hatte, und begann, ihren Pony zu schneiden, der schon die Augen bedeckte.

    »Siehst du denn überhaupt noch was?«, hatte Oma Finni beim letzten Besuch gefragt.

    Judith hatte natürlich bejaht. Die feinen honigbraunen Haare flutschten seitlich weg, sie drückte sie zur Stirn, die neuerdings oft fettig glänzte, und es gelang ihr eine schöne, ziemlich gerade Linie direkt über den Augenbrauen. Sie nahm ein Haargummi und band sich einen Pferdeschwanz, entfernte das Gummi aber gleich wieder. Ihr Gesicht sah fremd aus, entblößt, und das linke Ohr leuchtete rot. Das linke Ohrläppchen tat immer noch weh.

    Vor einer Woche hatte sie sich ein drittes Ohrloch gestochen. Sie hatte plötzlich gewusst, dass sie es haben wollte, an dem Nachmittag bei Birte. Birte hatte in der Tiefkühltruhe nach Eiswürfeln gesucht, aber nur eine gefrorene Leberwurst gefunden. Damit hatte Judith das Ohrläppchen gekühlt.

    Birte hatte Judith ihren alten medizinischen Ohrring gereicht, sie hatte ihn kurz entschlossen gegen die Haut gequetscht, und er war tatsächlich eingedrungen. Doch dann steckte er fest. Judith wollte ihn in einer Aufwallung von Panik wieder herausziehen. Eigentlich tat es nicht sehr weh. Nicht so weh wie eine Wunde im Krieg. Wie verhungern im Lager.

    Judith nahm all ihren Mut zusammen, den sie noch nicht kannte und der dann doch verfügbar war, und drückte den Ohrring so fest hinein, dass das hintere Häutchen einen knackenden Laut von sich gab.

    Das Ohr wurde knallrot, und Judith lachte. Sie hatte es geschafft. Sie konnte etwas aushalten.

    Nachts lag sie neuerdings wach im Bett und dachte darüber nach, wie es war, wenn man tot war. Wie konnte man denken, dass es einen einmal nicht mehr geben würde? Noch weniger konnte Judith sich vorstellen, dass es sie noch nicht gegeben haben sollte. Die ganze Zeit vor ihr. Diese Jahrmillionen, die sich abgespult hatten in kalter Gleichgültigkeit einem Mädchen namens Judith gegenüber, das in eine Zeit geboren werden sollte, die eine beispiellose Epoche des Wohlstands und Friedens genannt werden und in einer Epoche enden sollte, in der man Krieg und Frieden nicht mehr so leicht voneinander würde unterscheiden können wie die Jahrhunderte zuvor.

    Judith wusch ihre Haare, ging mit dem Handtuchturban auf dem Kopf in ihr Zimmer und legte ihre neue LP auf. »The Age of Plastic« von The Buggles hatte sie sich von ihrem Ostergeld gekauft.

    »Living in the plastic age. Looking only half my age. Hello doctor lift my face. I wish my skin could stand the pace. In the bed I read my mind.«

    Die elektronischen Beats wummerten in ihr Hirn und noch mehr in ihren Bauch. Sie belebten ihre Sinne und klärten ihre Stimmung auf. Aber die Zweifel blieben. Konnte man im Bett sein eigenes Gehirn lesen? War man nicht in seinem Kopf gefangen? In seiner Zeit?

    Warum war sie gerade jetzt geboren worden, in eine Zeit, in der es Zahnärzte, Röntgenstrahlen und Roboter gab, in der man zum Mond flog und Musik hören konnte, während man durch die Gegend spazierte?

    Birte hatte zu Weihnachten einen Walkman bekommen von ihrem Onkel, der in Los Angeles lebte. Judith hatte sich einen zu Ostern gewünscht, aber ihre Eltern hatten nur gelacht. Ein Walkman kostete zweihundert Mark. Von Mama und Papa und beiden Omas konnte sie sich einen zum Geburtstag wünschen, was sie auch getan hatte.

    Birte hatte sich Dauerwellen machen lassen mit einem Stufenschnitt. Sie sah seitdem ganz anders aus. Wenn sie auf dem Sofa saßen und die Songtexte mitsangen, bei denen Judiths Brust sich weitete, schmiegten sie sich aneinander wie zwei kleine Katzen.

    Neulich hatte Birte den Arm um Judith gelegt, und Judith hatte kurz die Augen geschlossen. Ein Mensch hatte einen Körper. Judith hatte gar nicht gewusst, was ein Körper war, obwohl sie so gerne kletterte und Rad fuhr und schwamm und tauchte, und noch weniger, dass zwei Körper sich wie einer anfühlen konnten. Seit Birte ihre Dauerwelle hatte, wusch sie sich andauernd die Haare. Und Judith hatte begonnen, den fettigen Schimmer wahrzunehmen, der nach einem Tag ihren Haaransatz dunkler erscheinen ließ als die Spitzen.

    Sie telefonierten stundenlang, bis sich ihre Mütter und am Abend auch ihre Väter beschwerten, dass sie die Leitung blockierten und niemand anrufen könne. Später hätte Judith nicht mehr zu sagen gewusst, was es da so Dringendes zu besprechen gegeben hatte, mitten im Flur, wo die Telefone standen und jeder, der es gewollt hätte, das Gespräch hätte belauschen können. Es ging um alles und um nichts, und das war es, was ihre Mütter und Väter so ärgerte.

    »Macht ihr wieder heiße Luft?«, pflegte Birtes Vater zu spotten.

    Und Judiths Vater beschwerte sich über die Telefonkosten. Seit zwei Jahren konnte man tagsüber für eine Einheit von dreiundzwanzig Pfennig im Ortsgebiet, der nun Nahbereich hieß, nicht mehr so lange telefonieren, wie man wollte, sondern nur noch acht Minuten. Birtes Vater hatte seiner Tochter zum Geburtstag eine Sanduhr mit genau dieser Zeiteinheit geschenkt.

    Wenn Judith bei Birte übernachtete, redeten sie bis Mitternacht, standen dann noch einmal auf und schlichen sich in den Vorratskeller, der bis zur Decke mit Lebensmitteln gefüllt war.

    Hier gab es alles, was länger als ein paar Tage haltbar war: Fisch- und Gemüsekonserven, Reis, Nudeln, Marmelade, Kekse, Knäckebrot. Zusammen mit zwei bis an den Rand gefüllten Gefriertruhen voll Fleisch, Gemüse und Speiseeis konnte eine Familie damit gut und gerne ein halbes Jahr überleben.

    Judith und Birte holten sich jedes Mal eine Packung Knäckebrot, eine Dose mit Hering in Tomatensauce und ein Glas Schattenmorellen. So sehr Nachkriegskind war Birtes Vater, der Herr dieser Schätze, dann doch nicht, dass er den Schwund bemerkt hätte.

    Das Raubgut, das tagsüber nicht einmal halb so gut geschmeckt hätte, machte sie glücklich, weil sie ein Geheimnis hatten. Sie konnten einander vertrauen.

    Sie hatten begonnen, miteinander zu duschen, Arm an Arm, Hüfte an Hüfte, das warme Wasser rann an Judiths Ohren herab, den Hals hinunter und auf ihre jungen, spitzen Brüste, die klein waren im Vergleich zu denen von Birte, die ihre Brüste hasste, weiß und prall, den Körper einer Frau, der ein Mädchen einhüllte und sie daran hinderte, Frau werden zu wollen.

    Sie schrubbten sich gegenseitig den Rücken trocken und föhnten die Haare, bis sie vom Kopf abstanden wie Wattebäusche, zogen ihre neuen T-Shirts mit der Aufschrift »Fruit of the Loom« an und gingen in die Fußgängerzone, voller Erwartungen und ohne eine Idee, was sie dort finden würden.

    Judith war gleich, um drei, mit Birte an der alten Brücke verabredet, die die obere von der unteren Fußgängerzone trennte. Dort trafen sich die Mofahelden aus der Vorstadt, dort stand die Telefonzelle, die Judith brauchte, wenn Birte sich wieder einmal verspätete.

    So wie heute. Judith hatte keine Zehnpfennigmünzen und musste einen Fünfziger opfern. Birte sei nicht zu Hause, sagte ihre Mutter. Sie wisse nicht, wohin sie gefahren sei. Sollte Judith weiter warten und ihre Zeit verschwenden, oder sollte sie nach Hause oder in die Bücherei gehen und sich ihren Nachmittag verderben lassen? Ohne Birte war der Nachmittag definitiv verdorben.

    Judith setzte sich auf das steinerne Brückengeländer. Der alte Mann, der ein Pappschild um den Körper geschnallt hatte mit der Aufschrift »Freiheit für Rudolf Heß« war schon zweimal an ihr vorbeigegangen.

    Er sah aus wie Rudolf Heß selbst, den Judith in einem Buch gesehen hatte. Schmales graues Gesicht, verbitterte Mundwinkel, starrer Blick. Aber er konnte nicht Rudolf Heß sein, denn der saß in Berlin-Spandau im Gefängnis und hatte Angst davor, vergiftet zu werden.

    Der alte Mann mit dem Schild sah aus, als ob er Gift verschluckt hätte und es seitdem in der Kehle trug, ohne es schlucken oder wieder ausspucken zu können. Aber das hätte Judith noch nicht formulieren können. Sie konnte es nur fühlen und dieses Gefühl aufbewahren über die Jahrzehnte in den Tiefen des Gedächtnisses, in dem Wichtiges und Unwichtiges nebeneinander schlummern wie falsche Freunde.

    »Wer ist Rudolf Heß?«, hatte Judith ihre Mutter gefragt, als sie das Schild zum ersten Mal gesehen hatte.

    »So ein alter Nazi«, hatte Mama geantwortet, »beachte ihn nicht. Der geht damit schon fast so lange herum, wie du alt bist.«

    Judith hatte verstanden, dass Rudolf Heß keine Bedrohung mehr darstellte, außer für sich selbst, dass Rudolf Heß und sein Doppelgänger mit dem Pappschild nur alte Männer waren, die nichts verstanden hatten. Pappkameraden mit falscher Adresse, aus der Zeit gefallen und beinahe bedauernswert.

    Den Straßenmusikanten, der in der Mitte der Brücke zur Gitarre Songs von Bob Dylan sang, hatte Judith schon früher wahrgenommen. Er lächelte ihr zu, als ob sie einander kennen würden, und Judith lächelte

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