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Rock Tango
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eBook353 Seiten5 Stunden

Rock Tango

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Über dieses E-Book

Als die junge Krankenschwester Sunshine ein Meet-and-Greet mit ihrem verehrten Rock-Idol Damien Shane gewinnt, kann sie ihr Glück kaum fassen. Doch die Erfüllung ihres innigsten Wunsches entpuppt sich als schrecklicher Albtraum. Sunshine muss feststellen, dass Damien nichts als ein charakterloser Nichtsnutz und Schürzenjäger ist. Enttäuscht und gedemütigt will sie dieses Treffen nur vergessen.

Doch wie es so schön heißt: Man sieht sich immer zweimal im Leben. Monate später erhält sie das Angebot, einen vor Kurzem erblindeten Mann zu pflegen. Aufgrund der Schulden ihrer Mutter kann sie den Job nicht ablehnen. Selbst dann nicht, als sie erkennt, wer ihr Patient ist …
SpracheDeutsch
HerausgeberEisermann Verlag
Erscheinungsdatum30. März 2018
ISBN9783961730940
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    Buchvorschau

    Rock Tango - Monika Wurm

    978-3-96173-094-0

    Vorwort

    Liebe Leserin, lieber Leser, ich danke Ihnen dafür, dass Sie sich entschieden haben, gerade dieses Buch zu kaufen. Erlauben Sie mir einige einleitende Worte.

    Die Handlung, die ich in diesem Buch beschreibe, hat sich in Wirklichkeit nie so zugetragen. Meine Inspiration zum Schreiben dieser Geschichte war ein Traum, den ich am Tag meines siebzehnten Geburtstags hatte. Ich habe ihn nie vergessen können. Der Text ist über Jahre in mir gereift, bis der geeignete Moment kam, ihn in Buchform niederzuschreiben.

    Die Orte, die ich in dieser Geschichte beschreibe, gibt es wirklich und ich habe sie alle persönlich besucht. Ich habe mir erlaubt, auch Teile von Songs der folgenden Bands in die Handlung einzuarbeiten und für Sie zu übersetzen:

    Slipknot – ›Snuff‹

    Aerosmith – ›I Don’t Want to Miss a Thing‹

    Guns n’ Roses – ›This I Love‹

    Die Songs sind das geistige Eigentum der genannten Künstler.

    Der Rock-Tango hingegen reflektiert wohl am stärksten meine Leidenschaft zur Musik.

    Ich wünsche Ihnen ein spannendes und emotionales Leseerlebnis!

    1. Kapitel

    »Gratuliere, Sunshine! Ich kann es gar nicht glauben. Du hast tatsächlich gewonnen! Ich hoffe, dass du mich mitnimmst. Ich meine, das hätte ich doch verdient, schließlich bin ich deine beste Freundin!«, rief Vivian aus voller Kehle, kaum dass sie die Tür geöffnet hatte. Stürmisch lief sie auf mich zu und fiel mir um den Hals. Ihre langen glatten Haare, um die ich sie immer beneidete, waren heute zu einem festen Zopf geflochten, den sie mir unabsichtlich um die Ohren schlug.

    »Wovon redest du da, Viv?«, fragte ich überrascht, als sie mir zum ich-weiß-nicht-wievielten Mal gratulierte.

    »Ach, mein blauäugiges Dummchen! Na, von dem Treffen!« Vivian zupfte an einer meiner roten Locken, die mir ungehorsam ins Gesicht baumelte.

    »Schau mich nicht so an, Sunshine.« Vivian ließ den Kopf schwer nach vorne fallen und verdrehte die Augen, weil ich immer noch nicht verstand, wovon sie redete.

    »Wann warst du zum letzten Mal auf Facebook?«, fragte sie spöttisch und ließ die Finger hektisch an ihrem Zopf hinabgleiten.

    »Du weißt doch, ich hatte eine Prüfung wegen diesem Ergänzungskurs. Auf Facebook war ich zuletzt vor zwei oder drei Tagen. Warum fra…«

    Vivian ließ mich nicht ausreden und fiel mir ins Wort. »Madame, am Freitag hast du ein Date! Und zwar nicht irgendeins«, verkündete sie mit eindringlicher Stimme. Sie schaute mich vielsagend an und warf eindrucksvoll die Hände in die Luft, während ich gespannt zuhörte.

    »Am Freitag hast du ein Treffen mit Damien!«, rief sie. Danach verstummten wir beide. Ich schluckte trocken. Ich konnte die Gedanken, die mir durch den Kopf schwirrten, nicht in Worte fassen, doch ich musste Sicherheit haben. Nach einigen Sekunden der Stille entschloss ich mich dazu, vorsichtig nachzufragen. Dabei zitterte meine Stimme vor Erregung.

    »Damien Shane? Oder … meinst du einen anderen? Sag, dass du nur Spaß machst! Ich kann doch nicht wirklich bei dieser peinlichen Facebook-Verlosung gewonnen haben!«

    Vivian nickte nur bei jedem Wort, das über meine Lippen kam, strahlte übers ganze Gesicht und gratulierte mir immer wieder aufs Neue.

    Ich brach in Tränen aus. Meine Freundin nahm mich erneut in die Arme und strich mir liebevoll über die Haare.

    »Ich habe es von Anfang an gewusst! Ich habe geahnt, dass es dir einmal im Leben gelingen würde, dein Idol zu treffen. Ich habe es einfach gefühlt. Und glaub mir, das hat niemand mehr verdient als du. Ich kenne keinen treueren Fan als dich, meine liebe Sunshine.«

    Viv wiederholte ihre Worte immer wieder, während ich die Welt um uns herum gar nicht mehr richtig wahrnahm.

    Als ich mich wieder etwas erholt hatte, musste ich sofort nach meinem Smartphone greifen. Ich öffnete die Facebook-App und wartete, während die Benachrichtigungen und Mitteilungen der letzten Tage aktualisiert wurden.

    »Sie haben es gestern Abend ausgelost, schau es dir auf ihrer Facebook-Seite an«, drängte mich meine Freundin.

    »Ich hab’s!«, rief ich und begann dann damit, den Beitrag, der so schicksalhaft für mich werden sollte, laut vorzulesen. »Die Gewinnerin von zwei Exklusiv-Tickets für das ausverkaufte Konzert der Inflamed Angels inklusive einem Meet and Greet heißt Sunshine Lawson. Kontaktieren Sie uns über eine persönliche Nachricht, andernfalls vergeben wir die Tickets nach zwei Tagen an einen Ersatz-Gewinner.«

    Ich schlug mir die Hand vor den Mund.

    »Ich habe wirklich gewonnen, Vivian!«, dann packte ich meine Freundin ungläubig an der Hand. »Du musst unbedingt mitkommen. Ich werde total durchdrehen, wenn ich Damien mit eigenen Augen zu sehen bekomme. Wer sollte mir sonst eine Ohrfeige geben, wenn ich in Ohnmacht falle wie ein durchgeknallter Teenager? Und das wird garantiert passieren, wenn ich nach so vielen Jahren endlich mein geliebtes Idol treffe!«

    Vivian nickte und begann damit, mich fröhlich zu umtanzen. Wir lachten so laut, dass nicht nur die übrigen Patienten auf uns aufmerksam wurden, sondern auch meine aufgeblasene Vorgesetzte Rachel.

    »Darf ich erfahren, was Sie während der Arbeitszeit so sehr amüsiert, Fräulein Lawson? Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, sollten Sie sich um die Patienten kümmern und nicht vor ihnen herumblödeln wie eine … schusselige Dorfgans!«, schnaubte sie.

    Seit dem allerersten Tag, an dem ich hier im Krankenhaus angefangen hatte, hackte Rachel auf mir herum. Dazu genügte ihr schon der geringste Vorwand. Ich hatte mich längst an ihre spitzen Bemerkungen und ihren hasserfüllten Blick gewöhnt.

    »Ich bitte um Verzeihung, Frau Mills, ich habe mich nur gefreut, weil ich Konzerttickets gewonnen habe. Meine Pflichten habe ich nicht vernachlässigt, es ist schon alles für die nächste Schicht vorbereitet, die mich in weniger als fünf Minuten ablösen kommt«, erklärte ich demütig den Grund meiner unerwarteten Freude.

    Auch wenn ich sie nicht ausstehen konnte, musste ich das hier irgendwie ertragen, solange ich den Pflegerinnen-Kurs, von dem die verbitterte Rachel nichts ahnte, noch nicht abgeschlossen hatte.

    »Fräulein Lawson, Sie sind sechsundzwanzig Jahre alt, wenn ich mich nicht irre. Das ist ein Alter, in dem Sie sich ihr infantiles Verhalten verkneifen sollten, insbesondere während der Arbeitszeit. Ich bin nicht gewillt, dies zu tolerieren! Sie sind schon lange kein Teenager mehr. Also verhalten Sie sich um Gottes willen auch entsprechend!« So beschimpfte mich Rachel vor allen Patienten, die gerade an uns vorbeigingen und sich fast die Hälse verrenkten, um unser Gespräch zu beobachten. Es war wirklich ein unangenehmes Gefühl. Nun hatte sie mich schon wieder öffentlich blamiert.

    Als sie sich endlich zum Gehen wandte, äffte Vivian sie nach und zog genau solche Grimassen, wie Rachel es immer tat.

    »Wenn doch nur irgendjemand diese ekelhafte und hässliche alte Jungfer ordentlich flachlegen würde! Dann wäre sie bestimmt nicht mehr so widerwärtig.« Ich lachte hinter vorgehaltener Hand und versuchte, Vivian zu beruhigen, doch es war umsonst. Meine Freundin konnte diese Furie noch weniger ausstehen als ich.

    »Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich ihr bei der nächsten Gelegenheit eine ordentliche Portion Abführmittel in den Morgenkaffee rühren«, flüsterte sie heimtückisch und in ihren Augen glänzte der Schabernack.

    Ich beeilte ich mich, meine Abteilung an die Krankenschwester der nächsten Schicht zu übergeben. Dann machte ich mich gemeinsam mit Vivian auf den Heimweg.

    »Hast du ihnen schon geschrieben?«, fragte mich Vivian nun bestimmt schon zum fünften Mal.

    »Ja, sogar zweimal, damit sie meine Nachricht nicht übersehen«, antwortete ich unkonzentriert, während ich mir die Schnürsenkel zuband.

    »Du freust dich ja gar nicht richtig, Sunshine!«, rügte mich meine beste Freundin, die mir so nahestand wie eine Schwester.

    »Viv, ich kann das irgendwie nicht glauben! Sicher wird da irgendwo ein Haken sein. Du weißt doch selbst, dass diese Facebook-Gewinnspiele größtenteils Betrug sind. Ich bin Realistin. Ich warte ab, was passiert, und werde mich erst dann freuen, wenn ich den Beweis in Händen halte, dass ich ihn wirklich treffen werde. Das ist so verrückt und unrealistisch. Weißt du überhaupt, wie viele Fans Damien hat – vor allem natürlich weibliche Fans? Ich kann nicht glauben, dass ausgerechnet ich das Glück haben sollte, ihn zu treffen.«

    Vivian verdrehte ihre ausdrucksvollen braunen Augen und als sich unser Bus endlich von der Stelle bewegte, legte sie los. »Ich weiß nicht, was die alle an ihm finden! Das ist doch nur so ein gewöhnlicher, cooler Typ, der alles fickt, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Du wirst sehen. Bei diesem Treffen wird er dich betatschen wie ein Stück Obst! Aber ich will ihm nicht unrecht tun. Singen kann er, also zumindest ein bisschen. Er brüllt ins Mikrofon, als ob ihm jemand in die Eier getreten hätte.« Vivian begleitete ihren Redefluss mit leidenschaftlichen Gesten, ohne sich darum zu kümmern, dass wir dank ihres losen Mundwerks in dem überfüllten Bus alle Aufmerksamkeit auf uns zogen.

    »Pst, Viv. Die gucken schon alle«, besänftigte ich sie flüsternd.

    »Du weißt doch, dass mir das egal ist, Sunshine. Ich bin, wie ich bin. Wenn mich einer nicht hören mag – da ist die Tür! Soll er doch aussteigen! Dann können wir uns wenigstens endlich hinsetzen. Basta! Wo waren wir stehengeblieben? Ach, bei deinem bösen Buben, bei Damien. Mir gefällt er nicht. Ich würde lieber diesen langhaarigen Gitarristen nehmen! Hui, also wenn der mich gegen eine Wand drücken würde, da würde ich mich nicht wehren!«

    Jetzt hielt ich es nicht mehr aus. Prustend vergrub ich mein Gesicht in Vivians Haaren und lachte, bis ich Seitenstechen bekam. Schon längst hatten mir die Lachtränen die Mascara verschmiert.

    »Sie haben geantwortet!«, rief ich, kurz nachdem wir am anderen Ende Londons aus dem Bus gestiegen waren. Vivian beugte sich über mein Handy und las laut: »Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Gewinn! Die zwei Tickets für das Inflamed-Angels-Konzert inklusive einem VIP-Pass können Sie sich eine Stunde vor Konzertbeginn unter Vorlage dieser SMS am Infoschalter abholen.« Vivian richtete sich bedeutungsvoll auf.

    »Siehst Du! Da gibt es keinen Haken, mein kleiner Angsthase. Also sagen wir am Freitag den Oregami-Kurs ab und gehen uns amüsieren«, freute sich Viv energiegeladen.

    »Origami, es heißt Origami, und ich weiß sehr wohl, dass ich es nie schaffen würde, dich zu einem Kurs zu überreden, der sich der uralten Kunst des Papierfaltens widmet«, berichtigte ich sie. Mich dagegen interessierte diese alte japanische Tradition sehr. »Sag du lieber das Date mit deinem Verehrer aus der Pathologie ab. Brr, der ist doch schrecklich!«, neckte ich sie, so wie sie es zuvor mit mir getan hatte. Wir zogen einander gern auf. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns je einmal ernsthaft gestritten hätten, obwohl wir schon seit drei Jahren zusammenwohnten.

    Von der Haltestelle bis zum Haus von Frau Keeley waren es nur ein paar Meter. Sobald ich mit den Schlüsseln klapperte, ertönte aus dem Flur auf der anderen Seite der Tür das freudige Bellen von Joy, meiner King-Charles-Cavalier-Spaniel-Hündin. Dieser Freudentanz hörte erst auf, wenn sich Joy nach Herzenslust athletisch ausgetobt hatte und für ihre erschöpfende Darbietung angemessen entlohnt worden war – also mit einer Umarmung und einem Leckerli.

    »Guten Tag, Frau Keeley«, begrüßten wir im Chor unsere Vermieterin, die wie üblich am Fenster saß. Ihr Schaukelstuhl knarrte leise.

    Frau Keeley war eine ältere Witwe, die sich ihre Rente aufbesserte, indem sie die Kinderzimmer ihrer schon erwachsenen Kinder vermietete. Sie war eine Dame mit Niveau, auch wenn sie es im Leben nie leicht gehabt hatte. Gelegentlich färbten Vivian und ich ihr die Haare, lackierten uns allen die Nägel, zogen uns schicke Schuhe an und nahmen sie mit in die Tanzschule, wo ich zweimal wöchentlich unterrichtete. Hier blühte Frau Keeley dann wie ein zwanzigjähriges Fräulein auf und tanzte den ganzen Abend durch. Sie war unendlich dankbar dafür, dass wir uns um sie kümmerten. Was ihre biologischen Kinder nicht für sie taten, das taten wir beide, und dafür vermietete uns die gute Frau die Zimmer, die in London normalerweise unglaublich überteuert waren, zu einem Spottpreis. Außerdem hatte sie nichts gegen meine Hündin Joy, ohne die ich nicht leben könnte – genauso wie sie nicht ohne mich.

    »Ich geh mich für ein Stündchen ausruhen, ich muss abends für die Tanzschule fit sein«, verkündete ich Vivian und Frau Keeley meine Absicht. Viv verschwand ebenfalls in ihrem Zimmer, um ungestört mit ihrem Verehrer aus der Pathologie telefonieren zu können.

    »Willst du nicht etwas essen, Sunshine? Ich habe Reisauflauf gemacht«, fragte unsere Vermieterin fürsorglich. Sie bot uns stets von ihrem Essen an, doch nachdem ich ihr erklärt hatte, dass ich bereits bei der Arbeit gegessen hatte, entließ sie mich in Joys Begleitung in die erste Etage.

    Ich ließ mich auf die Matratze fallen und Joy war in Sekundenschnelle bei mir. Sie legte sich so neben mich, dass sie meine Hüfte berührte. Dann kraulte ich ihr weiß-braunes Fell, bis sie leise zu schnarchen begann. Ich lächelte. Ich war glücklich und konnte immer noch nicht glauben, dass ich am Freitag mein Idol treffen würde. Ich ließ den Blick über die Wand gleiten, auf der sich die Plakate von Damien und seiner Band drängten. Ich war ein Fan mit Niveau und hatte seine Bilder gerahmt und pedantisch der Größe nach aufgehängt. Nur Vivian, Frau Keeley und meine Mutter wussten von meiner Leidenschaft für diesen Mann, der ein für mich unerreichbarer Star war. Niemand sonst hätte Verständnis dafür, dass ich mir auch mit Mitte zwanzig noch Musikzeitschriften kaufte, um mich an den Plakaten meiner Lieblingsband ergötzen zu können.

    Ich hielt meine Liebe geheim, denn ich wollte von niemandem ausgelacht werden. Wer könnte schon eine alte Jungfer ernst nehmen, die zu den Klängen der Songs eines Mannes einschlief, der für sie immer nur ein Traum bleiben würde?

    »Sunshine, in einer halben Stunde geht dein Bus« Vivian klopfte nachdrücklich. »Sunshine, bist du wach? Oder hast du etwa Gesellschaft?«, kicherte meine Freundin hinter der Tür, bevor sie sie sperrangelweit aufriss.

    »Guten Morgen, Fräulein. Die Tanzschule ruft!« Viv tanzte vor meinem Bett und drehte sich in der Parodie eines Walzers vor mir im Kreis. Joy gähnte und beobachtete ihre Darbietung.

    »Ich bin wohl eingeschlafen«, murmelte ich betäubt und rieb mir die Augen.

    »Dass du darauf Lust hast, Sunshine! Ich hätte für diese Opas und Omas keine Nerven. Und das alles noch umsonst!«

    Viv reckte sich nach Joy, die sich genießerisch und mit entblößtem Bauch streicheln ließ.

    »So wird sich dein Frauchen am Freitag von ihrem Rocker Damien streicheln lassen. Der wird dir Wunder zeigen, meine Liebe, da wirst du gucken«, spotte Viv, während ich meine Sachen für die Tanzschule packte.

    »Red keinen Quatsch, Vivian! Wenn ich Glück habe, gibt er mir die Hand und ich kann ein Selfie mit ihm ergattern. Du weißt doch, dass er schon seit Monaten mit dieser blondierten Silikon-Braut geht, die einen Kopf größer ist als er. Schau mich doch an! Wer würde sich schon mit so einer grauen Maus wie mir abgeben? Damien Shane ganz bestimmt nicht.«

    Bevor Viv etwas erwidern konnte, drückte ich ihr auf jede Wange einen Kuss und rannte zum Bus.

    Heute war es für einen frühen Abend im Mai relativ kühl. Der Wind gab sich Mühe, die geballten Wolken in alle Richtungen auseinander zu pusten. Ich hoffte, dass der Bus nicht zu spät kommen würde, und bereute meine Entscheidung, mir ein Sommerkleid angezogen zu haben. Der Wind spielte nämlich nur zu gerne damit und immer, wenn er meinen Rocksaum lüpfte, entblößte er die hässliche lange Narbe an meinem Knie. Mit der Zeit waren ihre Ränder verblasst, aber sie war noch immer da. Die Erinnerung an einen schrecklichen Fahrradunfall, der mich der Illusion beraubt hatte, einmal eine professionelle Tänzerin zu werden. Es war genau in dem Moment passiert, als mir auf dem Weg zum Gipfel nur noch ein kleines Stückchen gefehlt hatte. Nun war es schon zehn Jahre her, dass mich mein betrunkener Nachbar übersehen und mit dem Auto angefahren hatte.

    Die Folgen seines Leichtsinns würden mich bis an mein Lebensende begleiten. Von diesem Unfall habe ich mich nie mehr vollständig erholt. Eine professionelle Karriere als Tänzerin konnte ich nach Aussage der Ärzte vergessen. Doch selbst dieser komplizierte Beinbruch konnte mich nicht vom Tanzen abhalten. Ich machte weiter, auch wenn ich nie wieder auf einer großen Bühne vor Publikum auftreten würde. Denn wer würde schon einer hinkenden Tänzerin zuschauen wollen?

    Meine größte Freude war es, meine Tanzerfahrung weiterzugeben – selbst wenn es nur an Senioren aus dem Altersheim war. Bei ihnen konnte ich mich wieder wie die Tänzerin fühlen, die ich einst gewesen war und die ich in Zukunft gern gewesen wäre. Dank dieser Tanzstunden war ich ganz ich selbst und die Musik und der Tanz gaben mir nach gut getaner Arbeit ein Gefühl von Zufriedenheit.

    »Fräulein Lawson, Sie schauen ja heute ganz besonders reizend aus«, flüsterte mir der alte, fast blinde Gentleman Arthur ins Ohr. Das tat er immer, wenn ich ihm die Schritte eines neuen Tanzes beibrachte. Seine Schmeicheleien nahmen kein Ende. Schade nur, dass ich solche netten Komplimente nur von Männern jenseits der sechzig erhielt. Im Alltag war den Kerlen ein rothaariges Mädchen wie ich kaum einen zweiten Blick wert.

    Das Parkett knarrte unter Arthurs Übergewicht. Ich forderte die Tänzer auf, untereinander die Partner zu tauschen. Dann beobachtete ich, wie einige von ihnen ihre ganze Leidenschaft in diesen Tanz legten – und das taten nicht wenige. Der Tango war nicht nur mein, sondern auch ihr Lieblingstanz.

    Auch heute vergingen die zwei Stunden wie im Flug, aber dieses Mal hatte ich noch keine Lust nach Hause zu gehen, wo außer Joy niemand auf mich wartete. Ich beschloss, einen Ausflug in das Luxusviertel Londons zu machen. Mein Ziel war ein berühmtes Restaurant, in dem man regelmäßig die Londoner Crème de la Crème antreffen konnte.

    Dorthin ging ich immer, wenn ich nicht heim wollte, auch wenn ich nie über die Schwelle des exklusiven Lokals trat. Schon einige Male war es mir gelungen, einen Blick auf die Celebrities zu erhaschen, die sich hier im Schutz der Abenddämmerung mit ihresgleichen trafen.

    Ich stand vor dem verglasten Eingang des Luxushotels, in dem sich das Restaurant befand. Der rote Teppich und die ausgesuchte Dekoration auf beiden Seiten des Eingangs ließen erkennen, dass dies ein Lokal war, das ich nie im Leben betreten würde. Ich gestattete mir jedoch, die Augen zu schließen und mir für eine Sekunde vorzustellen, wie ich im Abendkleid dort entlangschritt, in Begleitung eines charmanten Mannes, der mir mit einem bezaubernden Lächeln die Tür öffnete und dann die Hand reichte, damit ich ihm folgte.

    »Mach Platz, Mädel! Wir wollen hier durch, du stehst im Weg!«, erklang urplötzlich hinter meinem Rücken eine männliche Stimme, die mir fast einen Herzinfarkt verpasste.

    Erst als ich endlich zu Seite geschlurft war, wurde mir klar, dass es tatsächlich Damien Shane mit seiner wasserstoffblonden Schönheit war.

    Er würdigte mich keines Blickes, als ob ich dort gar nicht stünde, und machte einen Bogen um mich, um seiner Tussi die Tür zu öffnen.

    »Herr Damien, könnten Sie mir bitte … ein Autogramm …« Meine Stimme wurde immer leiser und leiser. Er hörte mir nicht zu und bekam anscheinend nicht einmal mit, worum ich ihn bat.

    Das war das erste Mal, dass ich ihm so nah gekommen war. Ich hatte sogar immer noch den Duft seines Aftershaves in der Nase, der sich mit dem teuren Parfüm seiner Begleiterin mischte.

    »Wenn du wüsstest, Damien, wie sehr ich dich verehre.« Ich seufzte traurig und wich dem nächsten ankommenden Paar aus, das ich nicht erkannte. Mein Herz schlug immer noch wie wild. Ich konnte selbst nicht glauben, dass gerade mein Idol, der echte Damien Shane in voller Lebensgröße, an mir vorbeigegangen war. Ausgerechnet jetzt! Heute hatte ich wirklich doppeltes Glück.

    An die Kleidung der Frau konnte ich mich nicht erinnern, aber ihm stand das schwarze Sakko mit den leger geöffneten Knöpfen über dem schneeweißen Hemd ganz ausgezeichnet. Ich hatte auch die Ränder der Tattoos an Brust und Hals gesehen. Was würde ich dafür geben, sie einmal mit den Fingerspitzen berühren zu können!

    Ich entfernte mich unauffällig, ließ jedoch das Hotelgebäude und die Fenster des Restaurants nicht aus den Augen. Ich schaute, an welches Fenster sich Damien mit seiner Begleiterin setzen würde, doch ich konnte sie nicht sehen.

    Ich blieb noch länger als zwei Stunden dort, denn ich war entschlossen, auf ihn zuzulaufen und ihn um ein Autogramm zu bitten, sobald er das Gebäude verließ. Ich wollte ihm sagen, dass ich Tickets für sein Konzert gewonnen hatte und eigentlich wollte ich ihm am liebsten um den Hals fallen und ihm zurufen, dass ich ihn vergötterte, seit ich ein Teenager war. Auch der dichter werdende Regen konnte mich nicht umstimmen.

    Ich wartete und endlich, als ich schon bis auf die Knochen durchnässt war, war es dann so weit. Damien brachte mit seinem Lächeln den gesamten Eingangsbereich des imposanten Gebäudes zum Strahlen. Er war mindestens einen Kopf größer als ich. Die seit einigen Tagen nicht rasierten Bartstoppeln gaben ihm diesen frechen, sexy Rocker-Look, den ich so an ihm so liebte. Seine Tussi beschwerte sich gerade über irgendetwas. Es sah so aus, als hätten sie sich gerade gestritten. Mit einem Mal gefror sein Lächeln.

    Das war meine Chance. Mit vor Kälte zitternden Zähnen lief ich los, Bleistift und Tagebuch griffbereit. Ich schaute in seine nussbraunen Augen und trat mutig vor ihn. Dann presste ich mein Tagebuch an die Brust und hielt ihm den Bleistift direkt vor die Nase. Jetzt musste ich nur noch meine Bitte aussprechen.

    In diesem Moment stoppte er mich mit ausgestrecktem Arm, noch bevor ich auch nur ein Wort hervorbrachte.

    »Nicht jetzt, ich hab’s eilig!« Er schob mich so abrupt mit der Hand zur Seite, dass ich auf den Gehweg stürzte und zwar so unglücklich, dass ich mir das Knie aufschlug. Er schaute sich nicht einmal nach mir um, obwohl ich mit einem ordentlichem Knall auf dem Boden landete. Ich sah noch, wie er sich mit der Hand über die halblangen Haare fuhr, um die Regentropfen abzuschütteln, bevor er ins Taxi stieg.

    Warum schmerzte mich seine Zurückweisung mehr als das aufgeschlagene Knie? Ich brach in Tränen aus, doch ich schluchzte nicht laut, sondern weinte nur leise in mich hinein, sodass es im Regen niemand bemerkte. Dann raffte ich mich auf und hinkte, durchgeweicht bis auf die Knochen und mit aufgeschlagenem Knie, zu meinem Bus, der mich aus dem Nobelviertel zurück in die Realität bringen sollte. Dorthin, wo ich hingehörte.

    2. Kapitel

    »Aber natürlich glaube ich dir, Sunshine! Schau, neulich bin ich zur Arbeit gegangen und wer steht da am Fußgängerüberweg auf einmal neben mir?«, fragte mich Viv.

    Ich nickte schwach, obwohl ich keine Ahnung hatte. Vivian beugte sich wieder über mein Knie, um es zu desinfizieren und mit einem Pflaster zu versehen, dann fuhr sie fort.

    »Na, Victoria Beckham! Sie hat mich sogar angelächelt, als ich sie verblüfft angestarrt habe. Sie stand direkt neben mir! Aber egal, zurück zu Damien. Was soll man da sagen, er ist einfach ein Mistkerl. Es geht ja nicht nur darum, dass du es als Fan nicht verdient hast, so brutal zu Boden gestoßen zu werden, dass man dein Knie fast nähen muss! Ganz ehrlich, Süße, was ist das denn für ein Mann?« Viv schlug sich die Hand vor die Stirn.

    Im Grunde hatte sie recht. Die Art, wie Damien mich behandelt hatte, verdross mich ungemein. Ich war traurig und Vivian versuchte weiter, mich aufzuheitern. »Wart’s ab, Süße! Am Freitag werde ich ihm ordentlich den Hintern versohlen. Dem werde ich schon Manieren beibringen, da wird sich der Herr Rocker ganz schön umschauen! Solche Spielchen treibt man weder mit mir noch mit meiner Sunshine. Wenn dieser Grobian wüsste, dass du wegen ihm auf dein kaputtes Knie gefallen bist! Ach, solche eingebildeten Idioten könnte ich der Reihe nach abknallen.« Sie ereiferte sich wirklich ganz theatralisch.

    Frau Keeley hatte schon längst im Bett gelegen, als ich nach Hause gekommen war. Wenigstens hatte ich Vivian. Manchmal würde ich am liebsten auf das ganze großstädtische Treiben pfeifen. Nur zu gern würde ich in meine Heimat, die Grafschaft Somerset, zurückkehren. Aber nachdem uns mein Vater verlassen hatte, konnte ich meine Mutter nicht im Stich lassen. Ich hatte beschlossen, nach London zu gehen, wo ich als Krankenschwester relativ sicher Arbeit finden würde. Monat für Monat stotterte ich die Schulden meines Vaters ab, damit wir das Haus meiner Großeltern nicht verloren, das mein wohlgeratener Vater vor seiner feigen Flucht mit Hypotheken überladen hatte. Mit diesem Geld und seiner jungen Geliebten hatte er sich irgendwo in Amerika abgesetzt.

    Er war es auch, dem ich den kitschigen amerikanischen Namen Sunshine verdankte. Ich weiß nicht, ob ich ihm je verzeihen können würde, dass er uns einfach so, von einem Tag auf den anderen, sitzen gelassen hatte.

    Aber ich war stark. Meine geliebte Mutter würde ich mit ihren Problemen definitiv nicht allein lassen. Mittlerweile war auf dem besten Weg, uns aus dem Teufelskreis der Schulden zu befreien.

    Ich war davon überzeugt, dass ich – sobald ich den auf die Bedürfnisse von Leuten aus den höheren Gesellschaftsschichten ausgerichteten Spezialkurs für Pflegerinnen abgeschlossen hätte – eine Stelle im Privathaushalt einer Familie finden würde, die eine solche, speziell geschulte Krankenschwester brauchte. Ich hatte herausgefunden, dass mein späteres Gehalt fast doppelt so hoch sein könnte wie mein jetziger Verdienst.

    Schon in einem Monat war die Abschlussprüfung. Und obwohl uns die Ausbilderinnen immer wieder auf die hohen Ansprüche unserer zukünftigen Brötchengeber hinwiesen, war ich überzeugt, dass es immer noch besser sein würde, als mich bis zu meinem Lebensende mit der schrecklichen Rachel Mills herumzuschlagen, die nicht nur meinen Namen nicht ertragen konnte, sondern auch nichts, was ich tat.

    Vivian wünschte mir gute Nacht und legte sich schlafen. Joy suchte sich einen neuen Platz und legte sich so neben mich, dass sie mich berührte und gleichzeitig anschauen konnte. Sie schien zu spüren, dass ich traurig war.

    Sie begann, mir die Finger abzulecken, damit ich sie streichelte. Ach, wie sehr ich doch dieses zottelige Wesen liebte, das mir stets Freude bereitete. Deshalb hatte ich auch den passenden Namen für sie gewählt. Joy – die Freude.

    Vor dem Zubettgehen setzte ich mir die Kopfhörer auf und schlief, wie jeden Abend, zu den Klängen des Liedes ein, dessen Sänger für den brennenden Schmerz in meinem Knie verantwortlich

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