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Drei Leichen im Naturschutzgebiet Stang Bihan: Kriminalroman
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Drei Leichen im Naturschutzgebiet Stang Bihan: Kriminalroman
eBook258 Seiten3 Stunden

Drei Leichen im Naturschutzgebiet Stang Bihan: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

August Ötter, ein Schwabe wie aus dem Bilderbuch, stolpert im bretonischen Forêt du Stang Bihan über eine Leiche, die zu seiner Verblüffung mit dem von ihm selbst entwickelten Dreikomponentenleim Puröttil unauflöslich am Boden festgeklebt wurde ... Welches Geheimnis birgt der Wald von Stang Bihan? Und wo steckt dessen mysteriöser neuer Besitzer? Kommissar Durey ermittelt.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum29. Nov. 2017
ISBN9783842283756
Drei Leichen im Naturschutzgebiet Stang Bihan: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Drei Leichen im Naturschutzgebiet Stang Bihan - Anton Gögele

    Danksagung

    1

    Ötter hatte unruhig geschlafen und war an diesem Morgen angespannt, was gar nicht zu seiner Eigenart gehörte. Heesterjong hatte sich bei ihm in den ganzen vier Jahren nie mehr gemeldet. Er war ihm damals in seinen Westfrankreichferien begegnet. Diesen Mann hatte er aus zwei Gründen in genauer Erinnerung behalten. Der eine Grund war sein eigenes Ansinnen, mit dem Mann eine geschäftliche Verbindung herstellen zu wollen, der zweite, dass dieser Mensch von seinem Aussehen, seiner Mimik und Gestik her auch nach vielen Jahren für ihn noch unverkennbar sein würde. Heesterjong war ein hochgewachsener Mann mit strohblonden, bis knapp über die Schultern herabhängenden Haaren und stahlblauen Augen mit außergewöhnlich großen Pupillen. Er schien Ötter sehr energiegeladen zu sein; Menschen dieser Art bevorzugte Ötter in Diskussionen, weil sie energetisch ziemlich seinesgleichen zu sein schienen.

    Die Fortbewegungsart dieser merkwürdigen Gestalt schien ihm besonders auffallend. Der Mann hatte damals auf ihn gewirkt, als würde ein Kopf voller Ideen den restlichen Teil seines Körpers wie eine Qualle ihre Tentakel hinter sich herziehen oder als würde er wie von hinten über dem Steißbein von jemand anderem gedrückt und bei jedem Schritt wellenartig angeschoben. Offenbar bewirkte diese wellenartige Schubweise oder das vom Kopf aus Gesteuerte, oder was sonst auch immer es sein mochte, beim Gehen in Heesterjongs Knien ein ständiges Wippen und Federn. Ötter fiel an dem Fremden auch noch eine Narbe auf, die sich von der Mitte der rechten Wange senkrecht nach unten bis unters Kinn erstreckte, und dass die linke Schulter extrem hochgezogen war und viel näher am Hals als die rechte, fast so, als wäre sie ohne Schlüsselbein direkt mit dem Hals verbunden. Die Narbe ließ den Mann wagemutig bis tollkühn erscheinen. Und selbst der Name ging dem Badener aus dem Schwarzwald nicht mehr aus dem Kopf. Ötter würde ihn also jederzeit wiedererkennen.

    Damals, als Ötter in Kérantérec am Campingplatz Kerleven verweilte und einen Tagesausflug hinüber in den Wald von Stang Bihan auf der Halbinsel vis-à-vis machte, war er dort auf besagtem Gelände dem Norddeutschen begegnet, und sie waren beide in Nullkommanix in eine interessante Diskussion geraten – interessant für ihn, den Biologie- und Chemielehrer, und ihn, den Tüftler in seinem Privatleben.

    Der damals ihm noch Fremde hatte ihm gegenüber ganz vertraut und von schierer Begeisterung getragen von einem möglichen Projekt gesprochen, hier draußen auf den Klippen von Stang Bihan eine Erforschungsstation für das Zusammenspiel von Kleinstlebewesen am rauen Meer zu errichten. Der Wald sei erst vor Kurzem zum Naturschutzgebiet erklärt worden. Das sei für ihn einmalig und gerade genau das Richtige, weil man darin dann in Ruhe forschen könne, da die Umwelt an so einem Ort nicht ständig durch Besucher gestört würde, erklärte Heesterjong. Das wirke sich nämlich bis auf die Kleinstlebewesen aus, da ja ihre Jäger, die Nager, Reptilien und Vögel, sonst von den Menschen ständig verscheucht würden. Auch von seiner Forschungsstation würde der größte Teil des Waldes nicht tangiert werden; er denke nur an einen kleinen Eingriff in die unberührte Natur. Jedoch müsse er sehen, wie er dafür die Lizenz erhalte, was wegen des Naturreservats schwierig sei. Es würde ihm aber sicher gelingen; einen Weg dahin werde er schon finden, »Das werde ich schon deichseln«, war sein Ausspruch gewesen, was Ötter imponiert hatte. Dann hatte Heesterjong die Aussage selbst rasch wieder zurückgezogen, die er auf die Schnelle in die Luft gepustet hatte: »Behalten Sie das für sich; ich habe Ihnen nichts erzählt, und das war nur eine kleine Fantasiereise.« Doch Ötter hatte damals nicht den Eindruck, dass das nur eine Floskel gewesen war. Es war ihm alles Gesagte zu durchdacht gewesen.

    Ötter hatte damals vermutet, dass er selbst dem anderen die Botschaften nur durch ihm eigene geschickte Unterhaltungsmechanismen entlockt haben musste. Seine unvoreingenommene Offenheit musste dann wohl dem anderen die Zunge gelöst haben, und erst spät schien der es gemerkt zu haben, dass es nicht grundsätzlich gut sei, solche Geheimnisse Fremden gegenüber frei herauszuplaudern. Ötter hatte sich damals schon einen eventuellen Vorteil an dem Projekt erdacht, musste dem anderen wohl auch auf den Leim gegangen sein, denn der andere hatte den Kontakt nach nur wenigen Sätzen sofort wieder abgebrochen und sich nie mehr gemeldet. Erst später war Ötter bewusst geworden, dass dieser Herr ihm selbst ebenfalls ein eigentliches Geheimnis entlockt hatte, seinen Dreikomponentenleim Puröttil, den er etwa ein Jahr zuvor entwickelt hatte. Genau so etwas brauche er, hatte der andere zu verstehen gegeben – mit einem Gesichtsausdruck, der eingestand, in Ötter genau dem richtigen Menschen begegnet zu sein. Ötter hatte ihm erklärt, dass man den bei der Firma, welche von ihm die Lizenz habe, bestellen und die Informationen dazu im Internet leicht abrufen könne. Insgeheim hatte er sich darüber gefreut, wie die Nachfrage an seinem Spezialprodukt zu steigen schien und bis nach Frankreich reichte. Umso mehr hatte er sich etwas vorgenommen: In sicher weniger als drei Jahren käme er selbst wieder nach Frankreich, und da könnten sie sich näher darüber unterhalten. Doch mit der Erklärung musste des Fremden Wissenshunger schon gestillt gewesen sein. Wie hatte der ihm das Geheimnis entlocken können? Er hatte es sich doch nicht auf seine Stirn geschrieben?

    Damals, vier Jahre zuvor, schwebte Ötter auch vor, dass er mindestens einmal im Jahr in seinen Ferien vielleicht auch die Möglichkeit hätte, hier an diesem Ferienort ganz offiziell jeweils für ein bis zwei Wochen zu forschen. Diese Möglichkeit vielleicht sogar verbunden mit einem Schüleraustausch zwischen Schülern seiner Klasse und französischen Schülern, denen seine Schule im Schwarzwald desgleichen Möglichkeiten bieten könnte, dort ebenso Interessantes zu erleben. Dafür hätte er genügend Ressourcen zur Verfügung, deren Aufenthalt spannend zu gestalten. Zwar sei Dole du Jura die Partnerstadt von Lahr und erhielt jedes Jahr Schüler aus Lahr im Austausch, aber es gäbe genügend Gründe, mit seiner Schulklasse auch einmal eine Woche in der Bretagne zu verbringen. Bisher war er mit seinen Schülern jedes Jahr eine Woche lang in dieser reizenden Stadt im französischen Jura gewesen. Als Erstes hatten sie dort immer das Museum der schönen Künste besichtig. Ebenso stand am ersten Tag das Kriegerdenkmal auf der Tagesordung und war anschließend Anlass zu einer Diskussion, womit er einer wirklich deutsch-französischen Partnerschaft Genüge tun wollte, was ihm auch immer schon sehr am Herzen gelegen hatte. Dann war eine Paddelfahrt auf dem Doubs an einem Tag im frühen Morgennebel geplant gewesen, ganz je nach Witterung, was allen Schülerinnen und Schülern als besonderes Erlebnis in Erinnerung geblieben war, selbst denen, bei denen sich hinsichtlich Kultur kein großes Interesse regte. Bei schlechtem Wetter hatten sie immer die Kathedrale und Stiftskirche Notre Dame mit ihrem gewaltigen Kreuzschiff besichtigt, sie waren durch die engen, aber hellen Gässchen mit ihren schmucken kleinen Geschäften geschlendert, waren auf den Promenaden spazieren gegangen, hatten den Rhein-Rhône-Kanal, den Markt und viele Hinterhöfe mit ihren Kunst- und Pflanzenschätzen besucht. Entzückende Hinterhöfe, die auch in einem simplen Menschen unglaublichste Fantasien anzuregen vermochten, auch Hinterhöfe, die längst am Zerfallen sind. Sie waren die steilen Treppen auf- und abgestiegen und hinunter zum großen Brunnen gestiefelt, welcher wegen seiner fast unglaublichen Vielfalt der Gestaltungsart und seiner absoluten Einmaligkeit eines Brunnens auch wirklich in jedem Schüler einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte. Und sie hatten im Rathaushof am letzten Tag in jedem Jahr ein kleines Theaterstück aufgeführt. Einmal hatten sie das sogar in die engen, steilen Gassen verlagert. Natürlich war das allezeit ein reiches Programm gewesen, und nicht alle anderen Klassen hatten mit so etwas auftrumpfen können. Aber warum nicht einmal etwas Neues? Konkurrenz? Warum denn? Konkurrenz belebt das Geschäft, regt an zu Neuem; das konnte für seine Schule nur gut sein. Ötter würde so viele Argumente für eine Woche in der Bretagne aufbieten können, dass diese ihm weder von seiner Schulleitung noch einer höheren Unterrichtsbehörde ausgeschlagen werden könne, dessen war er sich sicher gewesen. Wenn er ein Stück Küstenstreifen einem Ort wie Dole schon vorziehen wollte, so musste es driftige Gründe dafür geben.

    Jetzt, wo er wieder hier auf Urlaub war, und diesmal gar nicht in so uneigennütziger Weise, denn eines seiner ersten Ziele war der Wald von Stang Bihan, wollte er sich umschauen, ob aus Heesterjongs Plänen schon etwas gediehen sei und ob er ihn vielleicht antreffen würde. Immerhin war ihm noch am Ankunftstag sofort am Ende der Landzunge zum Meer hin ein Leuchtturm aufgefallen, den es vier Jahre vorher noch nicht gegeben hatte. Wenn man einmal in Kérantérec war und dann auf die bewaldete Halbinsel oder an ihr vorbei in Richtung Concarneau hinüberblickte, konnte einem das nicht entgehen.

    Nun war er also beim Verwirklichen seines tiefsten Ansinnens. Er hatte dem Fremden damals viel von sich erzählt, von all seinen Hobbys, von seinem Beruf. Er selbst hatte eigentlich viel mehr gesprochen, was ihm erst jetzt aufgefallen war. An seinen Offenbarungen hatte der andere sich zunächst äußerst interessiert gezeigt, ja regelrecht gelabt. Da könne er Ötters Anregungen und in so vielen seiner unterschiedlichen Angelegenheiten wegen ihrer fachlichen Geschliffenheit sicher sehr gut gebrauchen. Er würde sich gerne in einigen Sondergebieten von ihm beraten lassen und mit ihm gemeinsame Sache machen wollen. Ötter hatte ihm noch seine Anschrift gegeben, während dieser vom anderen nur eine Visitenkarte mit Namen und Beruf, aber ohne Anschrift oder Mailadresse erhalten hatte. Eine Telefonnummer, die auf dem Kärtchen stand, hatte sich als nicht zutreffend erwiesen: »Diese Nummer ist nicht vergeben.« Der angebliche Grund für das Fehlen einer Adresse: Momentan sei er gerade ohne festen Wohnsitz, weil er sich auf der Welt umsehe, wo er seine Vorhaben am besten umsetzen könne. Priorität habe für ihn diese Gegend, weil er sie gut kenne und sich seine Pläne hier am besten verwirklichen ließen. Aber Ötter solle ihn einfach in ein paar Jahren hier besuchen. So sicher hatte das damals geklungen, so, als hätte er damals schon genau gewusst, dass es dieser Platz sein würde, auf dem er das Institut einrichten wolle, und er die Genehmigung mit absoluter Sicherheit erhalte. Ötter hatte dem Fremden fest geglaubt. Schlagartig hatte Heesterjong aber dann sein Gespräch mit einem Satz abgebrochen. Er hatte sich freundlich per Handschlag verabschiedet; er stehe unter massivem Zeitdruck. Wie vom Teufel getrieben, war er dann an der äußersten Spitze der Landzunge die Felsstufen hinabgestiegen zu seinem Boot, das an einem Baum oberhalb der Flutgrenze festgemacht gewesen war. Fort war er dann gewesen, einfach blitzschnell fort. Diese scheinbare Wichtigkeit hatte sich in Ötters Gedächtnis stark eingebrannt.

    Daheim hatte Ötter nach seinem Urlaub sofort im Internet nach diesem Haans Heesterjong gesucht. »Haans mit Doppel-A« hatte er ihn noch gut in Erinnerung. Seine Nachforschungen hatten nichts ergeben. Es gab keinen namens Heesterjong; den Namen gab es überhaupt nicht. Dabei hatte der Name für Ötter echt friesisch geklungen, ein bisschen Niederländisch darin, ein bisschen Englisch oder sonstwie Nordisch, so dass er keine Zweifel hatte, trotz mangelnder Anschrift auf der Visitenkarte. Es hatte dem Badener eingeleuchtet, dass man für eine Zeit lang am freiesten sein kann, wenn man sich auch bezüglich Adresse unabhängig macht. Ötter hatte aber trotzdem versucht, über eine Forschungseinrichtung auf Stang Bihan etwas im Internet herauszufinden. Alle Nachforschungen waren jedoch ins Leere gelaufen. Das war jetzt seit seiner Erkundung genau vier Jahre her.

    Nun war er nach diesen Jahren wieder in dieser Gegend. In den zwei Jahren zuvor war es ihm aus einer Reihe wichtiger Gründe nicht möglich gewesen, bis in die Bretagne zu kommen. Auch für ihn selbst war diese Region stets das bevorzugte Urlaubsziel. Die rauen Winde machten seinen Kopf frei, weshalb er sich in diesem Landesteil immer am liebsten in Meeresnähe aufhielt. Zwar vertrugen seine Ohren die Stürme nicht so ohne weiteres, doch dafür benutzte er einfach Ohrstöpsel; er hatte Sorge, sein Musikgehör könnte von der Intensität der Winde in Mitleidenschaft gezogen werden. Er hatte vor wenigen Monaten Glück gehabt, in Kérantérec ein kleines Ferienhäuschen kaufen zu können. Vier Jahre vorher war er mit Wohnwagen und Schlauchboot auf dem Campingplatz. Sein Leimpatent und der plötzliche Tod des früheren Ferienhausbesitzers, dessen Kinder er schon kannte, hatten ihm nun diese Chance eröffnet.

    In diesem Jahr wollte er nicht nur das kleine Ferienhäuschen genießen; er hatte jetzt auch ein kleines Motorboot, mit dem er schnell die St. Laurent-Bucht überquert haben würde oder nach Concarneau gelangen könnte. Dieses Mal wolle er auch zum Fischerfest gehen, das an seinem zweiten und dritten Ferientag dort stattfindet. Dafür sei das Motorboot natürlich besonders geeignet, denn wie sollte er denn sonst abends von Kérantérec dahin und noch in der gleichen Nacht zurück gelangen. Ein bisschen hatte er die anderen Camper vermisst, mit denen er beim letzten Mal schöne Abende verbracht hatte, aber er würde sie ja auch besuchen kommen, wenn er erst mal seine wichtigsten Vorhaben hinter sich gebracht hätte. Den knappen Kilometer könne er abends vom Campingplatz bis zum Ferienhaus gut zu Fuß zurücklaufen, selbst nach einem oder zwei Gläsern Wein. Noch, hatte er gedacht, habe er viel Zeit, und sicher würde er von einigen Urlaubern, welche jedes Jahr Monate dort verbrächten, dort noch was erfahren, zum Beispiel, wie dieser Turm entstanden sei, vielleicht auch etwas mehr über den Norddeutschen. Aber sicher würde er den Campern dort nicht verraten, dass er auch Absichten habe, dort in ein Projekt einsteigen zu wollen.

    2

    Nun war Ötter fast da angekommen, wohin es ihn gezogen hatte, beim Leuchtturm, und vielleicht würde er dann Heesterjong im Turm begegnen. Schon am Ankunftstag drängte sich immer wieder die Frage auf: Wie würde der Norddeutsche darauf reagieren, wie er selbst? Doch dieses Mal war ihm etwas dazwischengekommen.

    Kaum, dass Ötter am späten Abend nach der anstrengenden Anfahrt sich wohnlich eingerichtet hatte, hatte sein Handy geläutet. Ein Herr Silberthaler hatte sich gemeldet. Er hatte das Lösungsmittel eingefordert, mit dem man den Spezialkleber Puröttil wieder verflüssigen könne. Innerhalb einer Woche wolle er die Lösungsflüssigkeit haben, andernfalls stoße seiner Familie etwas zu. Er selbst melde sich bei ihm wieder in fünf Tagen in irgendeiner Form. Er solle auf jeden Fall die Polizei aus dem Spiel lassen, wenn ihm seine Familie etwas bedeute. Er, Silberthaler, wisse, dass es den Kleber gebe und das Lösungsmittel Puröttilex dazu, welches aber noch nicht käuflich sei. Seine Recherchen, mit denen er auf den Schwarzwälder Druck ausüben wollte, hätten ergeben, dass der Kleber in Nordkorea an einem Flussufer häufig zur Anwendung komme, um Flüchtlinge zu hindern, den Fluss zu überqueren, und neue Deserteure abzuschrecken. Über achtzig Flüchtlinge seien auf diese scheußliche Weise schon zu Tode gekommen, indem sie an Uferstellen plötzlich festklebten.

    Ötter war ungut zumute. Er würde jetzt von einem Menschen erpresst, der ihm eine Mitschuld an Morden mittels seines Leims in Nordkorea vorhalte. Ein scheinheiliger Weltverbesserer, welcher aber gleichzeitig ihn nötigt, ihm das Lösungsmittel auszuliefern. Wie konnte dieser Anrufer von seinem Mittel wissen? Ötter hatte das Lösungsmittel noch gar nicht patentieren lassen und fand keine Antwort darauf, wer ihn verraten haben könnte. Seine Versuche mit dem Wieder-Verflüssigen des Klebers hatte er bisher in einer kleinen alten Fabrikhalle in der Nähe von Lahr gemacht. Er konnte sich nicht erinnern, dort jemals Spione gesehen zu haben. Das hätte ihm doch auffallen müssen. Der Kleber war nach seiner Idee dazu gedacht gewesen, schwere Elemente absolut haftfest zu verbinden. Bisher hatte er in seinen Versuchen mit dem Kleber, bereits geklebte Lasten von drei Tonnen anzuheben, gut überstanden gehabt, auch bei unterschiedlichster Witterung. Das Mittel zur Wiederauflösung eines bereits fest haftenden Leims war ihm erst viel später in den Sinn gekommen, und er war sich vor einem Jahr sicher gewesen, dass es auf der Welt keinen zweiten so Verrückten gäbe, der etwas gegen jede Logik entwickele, nämlich ein Lösungsmittel, das seinen Leim wieder in seine ursprünglichen Bausteine auflösen könne. Aber immerhin – ihm war es gelungen. Und natürlich sei so etwas nur auf den ersten Gedanken hin unlogisch; er hatte einige Gründe dafür gefunden, warum es einmal auch sinnvoll sein könne, einen solchen Prozess des Klebens wieder rückgängig zu machen. Er hatte sogar die einzelnen Flüssigkeiten wieder in Tuben zurückziehen können, aus denen er zuvor die Luft herausgepresst hatte. Aber er hatte bislang erst zwei kleinere Eimer mit diesem Puröttilex hergestellt.

    Nun hatte er die ganze Nacht schlecht geschlafen und Albträume gehabt und sich schon überlegt, nur drei Tage zu bleiben und dann nach Hause zurückzufahren. Seine Frau hatte er nicht informiert, weil er sie nicht beunruhigen wollte. Die Polizei in Deutschland hätte er am liebsten benachrichtigt, aber die Angst um die Familie war größer gewesen. Ötter ging davon aus, dass der Fremde irgendwo in Deutschland sitze. Zwar hatte er einen leicht französischen Akzent gehabt, aber doch ein schönes, gut verständliches Hochdeutsch gesprochen.

    Gleich am Morgen beschäftigten ihn die Gedanken wieder. Er hatte nur ein Brötchen hinabwürgen können und eine Tasse heißen Kaffe hinterhergeschlürft. Danach war er mit seinem Boot aufgebrochen und weit in die Ance St. Laurent hineingeschippert. Hoch genug hatte er das Boot an einer dicken Eisenstange, welche wegen ihrer oben und unten im Beton befestigten Sicherung dafür geschaffen zu sein schien, gleich doppelt verankert, einerseits mit Schifferknoten, anderseits noch mit Kette und Schloss, was er sonst nie gemacht hatte, und er verstand auch nicht, warum er das dieses Mal tat. Er fühlte sich beobachtet und gehetzt.

    Nun war er nach einem Fußmarsch durch einen Park und ein Stück Wald auf der Südseite der Landzunge soweit nach vorne gegen Westen gelangt, dass er fast beim Turm angekommen sein musste. Er hatte geglaubt, den Turm teilweise schon zwischen dem Blattgrün durchschimmern zu sehen. Doch dann hatte er einen Toten auf einer Steinbrücke am steilen Abhang zwischen Klippen und Kiefern gesehen. Ihm war, als starrte zwischen dem dunklen Blattwerk des Unterholzes ein erschrockenes hellgrünes Gesicht hervor. Zwischen ihnen beiden lag aber noch schwer begehbarer Weg, welcher sich nur anfangs eben verlaufend oberhalb der Wassergrenze bei Flut sanft in die Landschaft einbettete. Ötter hätte über einen Zaun steigen müssen oder am glitschigen Felshang ins Wasser hinunter. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Eigentlich hatte er sich diesen Tag anders vorgestellt. Der Frankreichurlauber war dieses Mal mit so viel Enthusiasmus in die Bretagne gefahren und hatte es sich in seinem neuen Ferienhaus in Kérantérec so gemütlich eingerichtet gehabt. Bis auf einen Tag hier im Wald hatte er vor vier Jahren seine Erkundungen mehr in Richtung Brest und bis zum westlichsten Zipfel Frankreichs ausgerichtet. Ihn hatten damals die alten, zum Teil zerfallenen Kirchen und Kruzifixe, die Menhire und Dolmen in Finistère interessiert. Damals vor vier Jahren hatte er die ersten Pläne geschmiedet, seiner Schulklasse einmal ein anderes Stück Frankreich zu zeigen als immer nur Dole.

    Im vorigen Urlaub hatte Ötter an jenem schicksalhaften Tag der Begegnung mit dem Fremden aus Norddeutschland von der Küste von Kerleven aus mit seinem damaligen Ruderboot über die Ance St. Laurent zum Forêt du Stang Bihan übergesetzt und war durch den Wald, durch den er jetzt gehen wollte, über einen der fünf Wege bis zur Spitze der Landzunge vor bis zum Atlantik gewandert. Eigentlich mehr gewandelt. Seine allzeit und allerorts präsente Neugier machte aus seinen Wanderungen üblicherweise viele kleine Etappen mit Intervallen. Die Bucht selbst hatte einen schlechten Eindruck bei ihm hinterlassen, weil die Leute dort einfach ihre Kutter dahinrosten und verfaulen ließen, was das Landschaftsbild sehr verschandelte. Fische, Kormorane und Reiher hingegen würden sich sicher freuen. Umso mehr hatte es ihm aber die Landschaft des Forsts angetan, so dass er sich schon allein deshalb, und nicht nur wegen der Begegnung mit Heesterjong, geschworen hatte, den Weg nochmals zu gehen. Der Wald war damals, kurz vor Ötters erster Besichtigung, zum Naturpark erklärt worden und seither ein Bannwald. Doch seit jener Zeit hatte sich

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