Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Weißen
Die Weißen
Die Weißen
eBook412 Seiten5 Stunden

Die Weißen

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Nach der Ermordung seiner Eltern durch die Austrofaschisten wird der elfjährige Ernst von der Familie Patosek aufgenommen. Er wird Teil der von Toni Patosek geleiteten Wiener Widerstandsgruppe "Die Weißen" und zum Vertrauten der kleinen Franzi Patosek. Als die Gruppe auffliegt und ein Großteil der Mitglieder, darunter auch Toni, hingerichtet wird, verlieren sich Franzi und Ernst aus den Augen. In der Klinik "Am Spiegelgrund" entkommt Ernst 1944 nur knapp dem berüchtigten NS-Arzt Heinrich Gross und damit seinem sicheren Tod. 65 Jahre nachdem sich ihre Lebenswege so abrupt trennten, begegnen sich Ernst und seine Wahlschwester Franzi wieder.
SpracheDeutsch
HerausgeberHollitzer Verlag
Erscheinungsdatum2. März 2018
ISBN9783990124635
Die Weißen

Mehr von Luis Stabauer lesen

Ähnlich wie Die Weißen

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Die Weißen

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Weißen - Luis Stabauer

    DIE WEIßEN

    LUIS STABAUER

    DIE WEIßEN

    Roman

    Literaturgruppe Textmotor

    Lektorat: Teresa Profanter

    Umschlaggestaltung: Nikola Stevanović

    Satz: Daniela Seiler

    Hergestellt in der EU

    Luis Stabauer: Die Weißen

    Literaturgruppe Textmotor

    Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von:

    MA 7 – Kulturabteilung der Stadt Wien

    Land Oberösterreich

    Alle Rechte vorbehalten

    © HOLLITZER Verlag, Wien 2018

    www.hollitzer.at

    ISBN 978-3-99012-463-5

    KINDERLIEDER

    Wenn die Mutter das dicke Buch hervorholte, wusste der Bub, es war Zeit, sich den Pyjama anzuziehen. Zähneputzen musste er in der Küche. Danach las sie ihm ein kurzes oder ein halbes langes Märchen vor. Oft erklärte sie am Ende, was dieses Märchen mit dem Leben zu tun hatte. Obwohl Ernsti nicht alles verstand, fragte er selten nach. Er wollte sich den Prinzen, den glücklichen Kater oder das Schneewittchen in den Schlaf mitnehmen.

    Jeden zweiten oder dritten Tag brachte ihn sein Vater ins Bett und erzählte ihm Geschichten. Von hungernden Jung-Elefanten, die von Ottakring nach Spanien wanderten und vergessen hatten, ihre von der Elefantenmama hergerichteten Jausenbrote einzupacken. Von Tintenfischen, die mit ihren Kindern in einer Höhle wohnten und immer, wenn Haie vorbeischwammen, ihre Tinte verspritzten, damit sie für die Haie unsichtbar wurden. Oder von jungen Krokodilen, die sich beim Schwimmenlernen im Nil zu weit vom Elternstrand entfernt hatten und eines Tages im großen Wasser ankamen, wo sie ganz furchtbar spucken mussten, weil das Wasser dort so salzig war. Aber auch vom kleinen Vladimir, der verkleidet als Heizer mit dem geheimnisvollen Zug und dem Gold vom Deutschen Kaiser in das riesige Land im Osten kam, wo er mit dem Geld des Kaisers die Hungersnot beenden und den Zar verjagen wollte. Vor allem diese Geschichte hatte viele Fortsetzungen und beim Erzählen leuchteten die Augen seines Vaters.

    „Das ist aber kein Märchen?, fragte der Bub. „Ist es dem Heizer gelungen, den grausamen Zar zu verjagen? Sein Vater lächelte, strich Ernsti über die Stirn und küsste ihn auf die Nase.

    „Ja, mein G’scheiter, sie haben es geschafft, aber schlaf jetzt. Das nächste Mal erzähle ich dir mehr. Außerdem darfst du im Herbst in die Schule gehen, dann kannst du bald selbst Märchen und spannende Geschichten lesen."

    „Papa, gehst du heute noch weg?"

    „Nein, ich bleibe bei dir. Mutti kommt vom Frauentag sicher erst später heim."

    „Dann singst du mir aber noch ein Lied vor, bitte, bitte."

    Sein Vater ließ sich erweichen und holte die Gitarre. Schon bei den ersten Takten wusste Ernsti, es war sein Lieblingslied, Die Arbeiter von Wien. Den Refrain konnte er mitsingen:

    So flieg’ du flammende, du rote Fahne,

    Voran dem Wege, den wir ziehn.

    Wir sind der Zukunft getreue Kämpfer.

    Wir sind die Arbeiter von Wien.

    „Aber jetzt wird geschlafen, sagte Papa und streichelte ihm noch einmal über den Kopf. „Morgen darfst du bei Oma bleiben, ich bringe dich nach dem Kindergarten zu ihr.

    Im Sommer durfte er immer wieder in Omas Schrebergartenhaus schlafen. Ernsti mochte sie und ihren Garten. Obwohl: Ihre ständigen Fragen fand er manchmal ärgerlich. Ob er einmal Lokführer werden wolle, oder Rennfahrer, oder vielleicht sogar ein Pfarrer. Er schaute seine Oma dann nur verständnislos an. Lokführer war trotz Papas Zuggeschichte nicht sein Traumberuf. Fuhren doch die Züge auf ihrem Weg zum Wiener Westbahnhof beinahe durch den großmütterlichen Schrebergarten in Penzing. Das Bild der nur mit einer Latzhose bedeckten, rußigen Oberkörper der Dampflok-Eisenbahner gefiel ihm. Fast immer winkten sie freundlich in den Garten herein.

    Die Schrebergartenzeit war vor allem von gutem Essen geprägt. Ribisel, Erdbeeren und Stachelbeeren konnte er pflücken und in den Mund stecken. Dazwischen spielte er mit Omas Hasen, die sie für ihn aus dem Stall herausnahm. Weniger Freude hatte er mit dem Putzen der Fisolen. Das Entfernen der Enden und der Fäden war ihm jahrelang ein Gräuel. Erst viel später sollten Bohnenschoten zu seinem Lieblingsgemüse werden. Oft musste er dann an Oma denken. Und an ihre Geschichte, die sie ihm und allen Besuchern erzählt hatte. Immer wieder.

    Dass Hansl ihr versprochen habe heimzukommen, und dass es vom Isonzo bis nach Wien gar nicht so weit sei. Ob das ein Berg, ein Fluss oder eine Landschaft war, wusste er nicht, er verstand nur, dass Oma von seinem Opa sprach. Allerdings waren auch die Kommentare der Nachbarn nicht zu überhören: „Die spinnt ja, die Alte, jetzt glaubt die immer noch, dass ihr Mann vom Isonzo zurückkommt. Oder: „Die Schwachsinnige und ihr Kriegszitterer. Die wird man noch einmal in Steinhof finden. Ernsti tat so, als hätte er die Kommentare nicht gehört. Dass sie aber zum Essen ein Besteck für Opa auf den freien Platz am Tisch legte, war schon recht eigenartig. „Der Hansl kann mit jedem Zug kommen und dann will er etwas Warmes zu essen haben", waren ihre Worte beim Aufdecken.

    Opa tauchte nicht auf. Dafür kam oft ein feiner Herr zu seiner Oma in den Garten und erzählte von anderen Ländern und über das Leben in Wien in vergangenen Jahren. Er konnte in seiner Arbeit den ganzen Tag Geschichten von früher lesen und die Stadt Wien bezahlte ihn noch dafür. Ernsti hörte aufmerksam zu. Damals entstand sein Traumberuf: Geschichtenleser oder Buchhändler, das stellte er sich spannend vor. Der feine Herr brachte auch seine in der Zeitung abgedruckten Gedichte mit. Er setzte sich ganz nahe zu Ernsti, legte seine Hand auf Ernstis nackten Oberschenkel und las ihm ganz langsam ein Gedicht nach dem anderen vor. Die Nähe des Herrn Dichters, wie Oma sagte, war ihm unangenehm. Aber die Gedichte erinnerten ihn an die Lieder seines Vaters. Wie diese reimten sie sich. Trotzdem war er immer froh, wenn der Herr Dichter seine Oberschenkel wieder losließ. Nach dem Kaffee verschwand der Gast meist mit Oma in der Schrebergartenhütte.

    „Du wartest, bis wir wieder aufmachen, ich muss mit dem Herrn Dichter etwas besprechen." Der Gast verschwand mit Oma in der Schrebergartenhütte. Manchmal hatte er eine Hand auf Omas Brust, wenn sich die Tür wieder öffnete.

    „Schau, mein Junge, sagte der Herr Dichter dann, „stramme deutsche Titten, die eine heißt Franz, die andere Carl.

    „Dass du mir davon ja nichts weitererzählst, sagte Oma, wenn der Herr Dichter gegangen war. „Er ist kein Sozi und er unterstützt mich, aber das würden deine Eltern nie verstehen.

    Mit dem Schuleintritt wuchs Ernsts Hoffnung, bald viele Bücher lesen zu können. Nach dem ersten Jahr durfte er die Gedichte von Omas Gast schon selber lesen. Der Herr Dichter setzte sich wieder ganz nahe zu ihm. Damit er sehen könne, ob Ernsti auch richtig lese, sagte er zu Oma. Vorsorglich trug Ernst lange Hosen, denn auch das Handauflegen ließ der Herr Dichter nicht bleiben. Einmal lud er Ernsti ein, mit ihm ins Café Ritter zu gehen, da könne er auch andere Dichter kennenlernen. Unsicher blickte Ernsti zu Boden und gab keine Antwort.

    Seine Eltern waren nun fast jeden Tag bei den Sozialisten. Eines Nachmittags rollte sein kleiner Ball unter das Bett der Eltern. Er kroch darunter und entdeckte ein Gewehr. Es war im doppelten Drahteinsatz des Bettes so befestigt, dass man es nicht sehen konnte, wenn man nur unter das Bett schaute. Seine Mutter erklärte ihm, dass die Zeiten gefährlicher würden und dass sich die Hahnenschwanzler¹ längst bewaffnet hätten. Sie müssten daher auch Waffen haben, wenn es ernst werden sollte. „Sag ja nichts zu deiner Oma, die würde sich nur Sorgen machen." Das verstand Ernsti. Gute-Nacht-Geschichten und Papas Lieder hörte er nun nur mehr selten.

    In den ersten Schuljahren war Ernsti fast täglich bei seiner Oma im Gartenhaus in Penzing. Sie umsorgte ihn, aber er wäre doch gerne öfter bei seinen Eltern gewesen. Oma war die Einzige, die ihn noch Burli nannte, das ärgerte ihn. Der Herr Dichter kam nach wie vor ins Gartenhaus und befasste sich bei seinen Besuchen immer intensiver mit ihm. Währenddessen saß Oma auf der Gartenbank und ließ den Kopf hängen.

    Bald durfte Ernsti an den Wochenenden alleine mit der Straßenbahn zu Papa und Mama nach Ottakring heimfahren. Er traf Freunde und manchmal spielten sie im Negerdörfl² „Räuber und Gendarm". Gemeinsam mit den Eltern machte er Ausflüge in die Lobau, oder sie fuhren mit anderen Familien zuerst mit dem Zug nach Krems und dann mit Faltbooten auf der Donau nach Wien zurück.

    Bei diesen Zusammenkünften hörte er auch erstmals, dass die Zeiten für die Juden gefährlich würden. Anscheinend waren unter den Freunden seiner Eltern auch Juden. Er wusste nicht, woran man sie erkannte.

    „Papa, bin ich auch ein Jude?, fragte Ernsti. „Nein, mein Lieber, wir sind keine Juden, es wäre aber auch egal. Für die Faschisten sind Juden Untermenschen, aber mit dem Judenhass begonnen haben die sogenannten Christlichsozialen in Österreich. Du bist jetzt schon so groß: Wie wäre es, wenn wir den Ernsti begraben und dafür den Ernst auferstehen lassen?

    Ernst grinste übers ganze Gesicht. Seine Mutter lächelte und nickte.

    „Wir müssen aufpassen, dass es uns nicht wie den Juden geht, auch uns wollen sie aus allen Ämtern draußen haben, fuhr sein Vater fort. „Womöglich gibt es die Sozialdemokratische Arbeiterpartei bald nicht mehr. Aber wir werden uns das nicht gefallen lassen. Die Nationalsozialisten sind keine Sozialisten, das sind Faschisten, genau wie der Dollfuß und die Heimwehr. Auch wenn sie sich derzeit noch bekämpfen.

    Ernst sah die angespannten Gesichter seiner Eltern und nickte. Bevor er wieder mit der Straßenbahn zu Oma fahren musste, kam sein Vater noch mit der Gitarre in die Küche. Er schloss das Fenster und sie sangen zu dritt Arbeiterlieder. Eines kannte Ernst noch nicht, Wir sind des Geyers schwarzer Haufen, ein Lied mit vielen Strophen. Sein Papa erklärte ihm, dass Florian Geyer ein Aufständischer aus den Bauernkriegen vor vierhundert Jahren gewesen war. Der rote Hahn, der im Lied vorkam, sei eine Aufforderung, die Kirche anzuzünden. Vierhundert Jahre und der rote Hahn, das wollte sich Ernst merken.

    Als Ernst in der 3. Klasse war, hatten seine Eltern auch an den Wochenenden kaum mehr Zeit für ihn. In den ersten beiden Schuljahren war er vom Religionsunterricht abgemeldet gewesen, jetzt musste er teilnehmen. Wer Religion nicht besuchte, konnte weder die Matura machen noch studieren. Eines Tages riss der Pfarrer die Tür auf:

    „Stramm stehen und singen, befahl er und die Klasse sang: „Sei gesegnet ohne Ende, Heimaterde wunderhold! …

    Ernst bewegte nur die Lippen, danach nahm er all seinen Mut zusammen und fragte den Pfarrer nach dem Singen, ob er wisse, was es bedeute, den roten Hahn aufs Dach zu setzen.

    „Du vaterlandsloser Geselle!, schrie der Mann im schwarzen Talar. „In die Ecke, sofort, und sag deinen Eltern, sie haben innerhalb einer Woche hier in der Schule zu erscheinen.

    Ernst fuhr an diesem Tag allerdings zu seiner Oma. Die Elternmitteilung ließ er sie zwar unterschreiben, aber die mündliche Vorladung wollte er ihr nicht gestehen. „Vielleicht vergisst es der Pfarrer", hoffte er.

    Nach und nach bemerkte Ernst in der Schule Veränderungen. Der Religionsunterricht und das Schulgebet wurden für alle verpflichtend. Obwohl er ein sehr guter Schüler war, sollte er für die Aufnahme in das Gymnasium eine Aufnahmeprüfung machen. Sowohl die sittlich-religiöse als auch die vaterländische Erziehung sind die Grundfesten unserer Schule stand eines Tages auf der Tafel. Der Satz durfte drei Tage lang nicht gelöscht werden.

    „Wer kein Treuegelöbnis zum Vaterland ablegt, braucht nicht an eine Matura denken", ergänzte die Klassenlehrerin.

    Ernst hätte so gerne studieren wollen. Aber er bekam von der Schulleitung keine Erlaubnis ins Gymnasium zu gehen.

    Draußen war es noch winterlich kalt, als Ernsts Vater an einem Samstagvormittag zu Oma kam und erklärte, dass er und Martha unbedingt im 11. Bezirk helfen müssten, einen Verbandplatz aufzubauen, weil die Hahnenschwanzler planten, auf die Arbeiterwohnungen zu schießen.

    „Unser Hof ist nicht in Gefahr und das Negerdörfl auch nicht, aber in Simmering glauben sie losschlagen zu können", sagte er zu Ernst gewandt und zeigte ihm das unter dem Mantel versteckte Gewehr.

    „Nein!, schrie Oma. „Ohne Martha! Lass meine Tochter nicht mitgehen!

    Noch nie hatte Ernst einen Menschen derart schreien gehört. Er musste sich die Ohren zuhalten. Der Vater ließ sich nicht beirren, schloss die Tür und ließ die beiden alleine.

    Omas Schreien ging zuerst in heftiges Weinen über, dann begann sie mit der flachen Hand auf den Tisch zu schlagen. Ernst fürchtete sich und begann ebenfalls zu weinen. Irgendwann fing Oma an, unruhig im Zimmer herumzugehen. Mit der rechten Faust schlug sie in die geöffnete linke Hand, ihre Augen waren weit aufgerissen. Immer wieder öffnete sie die Tür und spähte hinaus.

    An diesem Abend kochte Oma nicht, Ernst bekam nur trockenes Schwarzbrot zu essen. Zwar hatte sie sich ein wenig beruhigt, aber sie sprach kein Wort. Dafür drehte sie das Radio auf. Wieder musste Ernst dieses Lied hören. „Sei gesegnet ohne Ende, Heimaterde wunderhold!", tönte aus dem Lautsprecher, dann meldete sich Engelbert Dollfuß:

    „Liebe Landsleute! Ein herzliches Grüß Gott an alle, die daheim an den Radiogeräten sitzen! Mit Weitblick hat unser Minister Kurt Schuschnigg vor vier Jahren die Ostmärkischen Sturmscharen gegründet. Die OSS, als katholische Erneuerungs- und Schutzbewegung, brauchen wir jetzt mehr denn je. Sie stehen bereit. Im ganzen Land rotten sich vaterlandslose Gesellen zusammen, die unser schönes Österreich in verbrecherischer Absicht in den Abgrund führen wollen. Wir werden es nicht zulassen. Rot-Weiß-Rot, bis in den Tod!"

    Am nächsten Tag wollte Ernst seine Eltern suchen. Oma ließ ihn nicht weggehen. Sie wollte auch nicht mit ihm gemeinsam suchen. Ernst wollte nicht mehr bei seiner Oma bleiben. Wenn seine Eltern nur wieder gesund heimkämen, er würde nicht mehr von daheim weggehen.

    „Und wenn ich dich einsperren muss, schrie sie. „Dein Vater war schon dabei, wie sie den Justizpalast angezündet haben. Jetzt bringt er mein Mädchen in Gefahr. Wenn ihr etwas zustößt, bringe ich ihn eigenhändig um.

    Am Montag durfte Ernst nicht in die Schule gehen, das sei viel zu gefährlich, wiederholte seine Oma alle paar Minuten. Sie ging ohne ihn einkaufen und sperrte die Tür von außen zu. Ernst schaute ihr nach, bis sie hinter der Hecke verschwand.

    In der Nacht wälzte er sich von einer Seite zur anderen, er konnte kaum schlafen. Am nächsten Morgen saß Oma noch früher als sonst vor dem Radiogerät. Wieder sprach Dollfuß: über die schwarzen Faschingstage dieses Jahres, über die verbrecherischen Anstifter und über die erhabenen Kampfverbände der christlich-sozialen Bundesregierung. Das verbrecherische Unternehmen sei von Linz ausgegangen, sagte er und kam dann auch auf Wien zu sprechen:

    „Die bewaffneten Gewaltmaßnahmen haben jedoch leider in Wien und anderen Städten Blutopfer und Menschenleben gefordert."

    Die weiteren Worte aus dem Radio waren nicht mehr zu verstehen, denn Oma begann zu schreien und mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen. Ernst umschlang sie von hinten und zog sie von der Wand weg. Nach bangen Minuten verstummte sie, setzte sich auf den Diwan und starrte vor sich hin.

    Ernst wusste nicht, was er tun sollte. Er holte einige Speisereste aus dem Eisschrank, sie hatten noch gar nicht gefrühstückt. Oma rührte sich nicht. Er wärmte sich seinen Kakao, aß ein Marmeladebrot und beobachtete sie. Bis Mittag saß sie nur da. Dann klopfte es an der Tür. Die Umrisse des Herrn Dichters waren durch das gerippte Glas zu sehen. Ernst wollte öffnen, aber Oma war schneller an der Tür.

    „Weißt du etwas?", fragte sie.

    KLEIDERKASTEN MIT PISTOLE

    „Wenn du so viel Wasser trinkst, werden Frösche in deinem Bauch wachsen", hatte meine Mutter im Traum zu mir gesagt. Mit dem wohligen Gefühl, in unserer alten Wohnung im 16. Bezirk zu sein, wachte ich auf.

    „Da fahre ich heute hin", beschloss ich.

    Wien-Ottakring, Rankgasse 28. Der graue Putz hat viele Sprünge, an manchen Stellen sind die Ziegel zu sehen. Anscheinend ist es das einzige Haus, das nie renoviert wurde. Die Klingelschilder sind neu, aber sie tragen keine Namen. Ob mich jemand reinlässt?

    Ich schaue hinauf zum ersten Stock, wo unsere Wohnung war. Die Fenster sind getauscht worden, sonst sieht alles aus wie damals. Ich drücke auf die sechste Taste von unten, das könnte passen. Eine Frauenstimme meldet sich. Ich erkläre ihr, warum ich hier bin, sie scheint mich nicht zu verstehen und spricht in einer Sprache, die ich nicht einordnen kann. Nach dem Drücken der Taste unterhalb meldet sich eine Frau mit „Hallo, Avdujeva" oder so ähnlich. Erneut trage ich mein Anliegen vor:

    „Patosek, ich habe vor mehr als sechzig Jahren hier gewohnt und würde gerne noch einmal das Stiegenhaus und den Hof sehen. Darf ich hineinkommen?"

    „Ich kommen, Toroffener kaputt", sagt sie.

    Schritte nähern sich, eine Frau öffnet die Haustür. Sie ist um die vierzig und trägt ein Kopftuch, ich kann allerdings Haare sehen. Sie streckt mir an der Eingangstür ihre Hand entgegen und spricht besser Deutsch, als ich nach der Namensnennung erwartet habe. Ich bemühe mich dennoch langsam zu sprechen und erkläre ihr, warum ich hier bin. Sie lächelt und lädt mich mit einer Handbewegung ein, hereinzukommen.

    „Kommen Sie mit, ich haben Kaffee fertig. Ich Madina. Ich sehr interessiert, wer wohnt hier früher", sagt die Frau und geht vor mir die Stiegen hinauf. Ich wollte zwar nur das Haus sehen, folge ihr nun aber zu ihrer Wohnung. Vor dem Eintreten bleibe ich erstaunt stehen. Es ist tatsächlich unsere alte Wohnung. Jener Teil des Flurs, den meine Eltern als Vorraum zur Wohnung dazugenommen haben, sieht immer noch gleich aus. Die beiden Türen haben meine Eltern nur geschlossen, wenn die Weißen in unserer Küche ihre Geheimtreffen abgehalten haben. Und da, der Wasserhahn am Gang. Offensichtlich gibt es in der Wohnung immer noch kein Fließwasser, die Kübel stehen neben dem Eingang. Mit jedem Schritt, den ich vorwärtsgehe, erwachen Bilder aus Kindheitstagen.

    „Ich Madina, wiederholt die Frau, „wie dein Name? Darf ich Kaffee geben? „Nicht gleich Freundschaft schließen", denke ich noch, aber für einen Rückzug ist es bereits zu spät.

    „Ich heiße Franzi. Ist ein Bubenname, mein Vater hat mich so genannt."

    „Franzi", sage ich noch einmal und strecke ihr meinerseits die Hand entgegen. Madina lächelt mich breit an, zwei Zahnlücken werden sichtbar.

    „Bub ist junger Mann?", fragt sie.

    „Genau."

    Unser alter Küchenherd steht noch da. Unglaublich!

    „Das ist die Wohnung meiner Kindheit, darf ich mich umsehen?", frage ich.

    Madina öffnet die Tür zum Schlafzimmer. Auf dem Platz des Ehebettes meiner Eltern steht jetzt eine ausziehbare Couch. Und da, wo ein klappriges Ikea-Bett steht, stand mein Himmelbett. Vati hatte alle Betten selber gemacht. Den Himmel hatte Mutti genäht. Auch wenn das Bett nicht groß war, durften Freundinnen bei mir übernachten, wenn deren Eltern es erlaubten. Alle aus dem Kindergarten und später aus meiner Klasse wollten einmal in einem Himmelbett schlafen.

    Unser alter Kleiderkasten fällt mir ein. In dem hatte Vati mit einem doppelten Boden ein Geheimfach eingebaut. Nur meiner besten Freundin, der Hannerl, zeigte ich es einmal, als wir alleine zu Hause waren. Dass darin manchmal Flugblätter und eine Pistole aufbewahrt wurden, sagte ich ihr aber nicht.

    „Seit wann sind Sie hier und woher kommen Sie?, frage ich. „Tschetschenien, sagt sie nur, dann läutet die Türglocke.

    Madina lässt mich alleine im Zimmer. Ich sehe mich auf dem Bett sitzen, wie ich Weinen und Nichtweinen üben muss. Die Erinnerungen an die Verhaftung meines Vaters und an das, was danach geschehen ist, werden lebendig. Ich halte kurz den Atem an, schließe die Augen, Traurigkeit breitet sich aus.

    Ein Bub und ein Mädchen unterbrechen meine Gedanken. Sie kommen ins Zimmer, offensichtlich in ihres, die Schultaschen noch umgehängt. Ich will ihnen die Hand geben. Sie ignorieren mich, werfen ihre Taschen auf den Boden.

    „Uch, sagt Madina, „noch nichts gekocht. Bitte kommen Sie anderes Tag wieder, dann ich kann erzählen von tschetschenischen Krieg und von unsere Flucht. Ja?

    „‚An einem anderen Tag‘ heißt das", korrigiert das Mädchen.

    „Ja gerne, sage ich, „darüber weiß ich viel zu wenig.

    Tschetschenen sind brutal. Ich wundere mich über mein Vorurteil. Diese Frau strahlt Wärme aus. Ich möchte mehr wissen, gleichzeitig habe ich ein wenig Angst. Wovor? Ich weiß es nicht. Wir vereinbaren ein Treffen für übermorgen, zeitig, damit ich sie nicht vom Kochen abhalte. Nachdenklich schaue ich von der Straße aus noch einmal hinauf zur Wohnung, dann fahre ich heim.

    Zwei Tage später stehe ich wieder vor dem Haus meiner Kindheit. Wie immer komme ich einige Minuten vor der vereinbarten Zeit, aber Madina winkt mir schon vom offenen Fenster aus zu.

    „Ich kommen, bitte warten", ruft sie.

    Ich nehme mir vor, den Besuch kurz zu halten. Die Begrüßung ist herzlich, sie umschließt meine Hand mit ihren beiden Händen und bittet mich vorauszugehen. Wieder bietet sie mir Kaffee an, diesmal stehen auch Kekse auf dem Tisch. Auf meine Fragen zu Tschetschenien und zu ihrer Flucht holt sie ihre Tagebücher hervor und zeigt mir eine Zeichnung darin.

    „Madina mit elf", sagt sie und übersetzt mir das Gedicht darunter, blättert weiter und erzählt von ihrer Mutter und ihrer Großmutter. Offensichtlich wurde sie in der Schule geschlagen, weil sie eine russische Mutter hatte, und in der kleinen Wohnung lebten sie ständig unter Angst vor tschetschenischen Soldaten. Auch ihre Mutter verprügelte sie öfters.

    „Mutter viel Sorgen, sagt sie und deutet auf ein Foto an der Wand. Ich tauche in ihre Vergangenheit ein. Sie zeigt mir weitere Zeichnungen, die sie als Kind angefertigt hat, stolz fügt sie hinzu: „Für Babuschka gemacht.

    Ihre Eintragungen berühren mich. Gleichzeitig fällt mir wieder Vatis Verhaftung ein. Mit Mutti musste ich auf der Küchenbank warten, während die Gestapo-Leute diese Wohnung durchsucht haben.

    „Soldaten sind Schweine", sage ich und Madina nickt.

    Wie oft habe ich die Briefe meiner Eltern gelesen, wie oft die Kassiberl meines Vaters, seine auf kleine Zettel gekritzelten Geheimbotschaften aus dem Gefängnis? Sie sind fest in meiner Erinnerung verankert. Werden sie mit meinem Tod verschwinden? Erstmals wünsche ich mir, auch ein Tagebuch geschrieben zu haben. Madina steht auf und beginnt zu kochen, ich blättere noch einmal in ihren Tagebüchern. Sowohl in den Zeichnungen als auch im Schriftbild kann ich ihre Entwicklung zur jungen Frau erkennen. Jetzt scheint sie sich wohlzufühlen, in Ottakring.

    Schon in der Straßenbahn nehme ich mir fest vor, auch meine Erinnerungen zu sammeln. Viele Briefe, Fotos, Artikel und Dokumente liegen in Schachteln. Ich werde alles Vorhandene neu ordnen. Vielleicht schreibe ich das nichtgeschriebene Tagebuch? Jetzt sind meine Erinnerungen noch sehr lebendig, aber was ist, wenn ich einmal nicht mehr bin. Sollte das nicht auch für meine Kinder und Enkelkinder niedergeschrieben werden?

    Ich kaufe ein dickes, leeres Buch. Franzis Erinnerungen schreibe ich daheim drauf. In Stichworten notiere ich das heute Erlebte, zeichne einen Plan der alten Wohnung, hole die Schachteln mit den Briefen und den Fotos meiner Eltern hervor. Alles will ich aufschreiben. Alles.

    EINGEBUNKERT

    „Dein feiner Herr Schwiegersohn war wieder bei den Aufständischen, er wurde verhaftet. Deine Tochter war auch dabei", sagte der Herr Dichter.

    Ernst erwartete einen neuerlichen Gefühlsausbruch, aber Oma schloss die Haustür vor der Nase des Dichters, ging wieder zum Diwan und starrte ins Leere wie zuvor. Er drehte das Radio lauter. Dollfuß’ Rede wurde wiederholt. Jetzt erfuhren sie auch, dass die Regierung das Standrecht eingeführt hatte und dass die ersten Todesurteile vollstreckt worden waren. Ernst zog sich an, nahm die Schlüssel und verließ das Schrebergartenhaus, seine Oma saß immer noch unbeweglich im Zimmer.

    Ernst kannte einige Freunde seiner Eltern. Zuerst ging er in die Rankgasse zu den Patoseks, dem Toni und der Hedi. Mit ihnen hatten sie einige Ausflüge gemacht, außerdem gab es in ihrer Wohnung immer wieder Treffen, an denen zumindest sein Vater teilgenommen hatte.

    Hedi öffnete. Sie hatte rote Augen. Mit der Schürze wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht.

    „Toni auch?", fragte Ernst.

    „Ja, sie verdächtigen ihn. Vier Hahnenschwanzler haben ihn heute abgeholt. Weißt du etwas von deinen Eltern?"

    „Nein. Omas Dichter hat nur gesagt, dass Mama auch bei den Aufständischen gewesen ist und Papa verhaftet worden ist. Oma sitzt im Schrebergartenhaus, sie ist irgendwie komisch."

    Hedi bot Ernst einen Stuhl an. Die kleine Franzi war ebenfalls in der Küche, sie spielte mit dem Puppenwagen. Ernst erzählte, was passiert war, und Hedi versprach ihm, sich bei der Polizei nach dem Verbleib seiner Eltern zu erkundigen.

    Erst am Rückweg bemerkte Ernst die vielen Polizisten und das Militär in den Straßen. Sie beachteten ihn nicht.

    Oma hatte sich inzwischen hingelegt. Als Ernst eintrat, hob sie nur den Kopf. Ernst berichtete ihr, sie fragte nicht nach. Er wolle am Abend noch einmal nach Ottakring gehen, vielleicht könne er erfahren, wo seine Eltern seien, ergänzte er. Oma sagte nichts.

    Auf dem Weg in die Rankgasse begann sein Herz heftig zu schlagen. Hedi und Toni führten eine Wäscherei und Putzerei. Vorübergehend geschlossen stand auf einem Zettel, der im Fenster der Wäscherei hing. Was konnte das heißen? Sollte er wieder umkehren? Nein, er musste wissen, was mit seinen Eltern war. Langsam stieg er die Stufen hinauf, schon am Gang hörte er Franzi in der Wohnung plappern. Er klopfte an.

    Hedi nahm ihn bei der Hand und führte ihn zum Tisch. Sie ließ seine Hand nicht los.

    „Deinen Papa haben sie nach Wöllersdorf ins Anhaltelager gebracht, mehr haben sie auf der Polizei nicht gesagt."

    „Und?"

    „Leider, laut Auskunft eines Genossen aus dem 3. Bezirk sind einige durch die Kanonenkugeln der Vaterländischen gestorben. Ob deine Mutter auch dabei war, wusste er nicht."

    Ernst sagte nichts, schob nur Hedis Hand weg. Franzi wurde ruhig, als hätte sie alles verstanden. Dann sackte Ernsts Kopf auf den Tisch. Bald schien er vor lauter Weinen zu wenig Luft zu bekommen. Er ließ es zu, dass Hedi ihren Arm um ihn legte, das beängstigende Weinen wurde zum Schluchzen. Hedi hob ihn hoch und drückte ihn an sich. Franzi stellte sich dazu und umarmte sein Bein.

    „Du kannst hierbleiben", sagte Hedi nach einer Weile.

    „Das geht nicht, die Oma", antwortete er. Sein Schluchzen ebbte langsam ab und er löste sich aus der Umarmung. Er stand auf und wollte gehen. Hedi bot ihm ihre Begleitung an. Ernst schüttelte den Kopf.

    „Und was ist mit Toni?", fragte er an der Tür.

    „Sie halten ihn in der Liesl, dem Polizeigefangenenhaus, fest, aber ich glaube, sie können ihm nichts nachweisen."

    Daheim erzählte er Oma, was er von Hedi erfahren hatte, ohne deren Namen zu erwähnen. Sie begann wieder mit dem Kopf gegen die Wand zu stoßen. Ernst konnte sie wieder beruhigen.

    Eine Woche später wusste er immer noch nicht, wo seine Mutter war. Vielleicht konnte er seinen Vater in Wöllersdorf suchen. Hedi riet ihm allerdings zu warten.

    An einem Nachmittag war es mit Oma wieder einmal sehr schlimm. Schon lange bevor er heimgekommen war, musste sie begonnen haben sich den Kopf zu stoßen. Diesmal ließ sie sich nicht beruhigen. Sie begann zu bluten. Ernst musste schreien, um zu ihr durchzudringen. Seine Oma starrte ihn an, wischte sich das Blut von der Stirn und zog sich zurück. Ernst richtete sich sein Bett im kleinen Wohnzimmer des Schrebergartenhauses. Es war kalt.

    „Morgen ziehen wir wieder nach Ottakring, vielleicht ist Hansl schon daheim", sagte Oma eines Tages. Wie Ernsts Eltern hatte sie eine Wohnung im Sandleitenhof.

    Ernst sagte nichts darauf. Er hatte Hedi gefragt und wusste, dass sein Opa nicht mehr heimkommen konnte. Die meisten Soldaten aus den Isonzoschlachten hatten ihr Leben in den Bergen gelassen. Die wenigen Überlebenden waren längst wieder zu Hause.

    Sträucher und Bäume zeigten erste grüne Blätter, der Kirschbaum im Schrebergarten öffnete seine Blüten. Der Umzug dauerte doch länger als geplant. Seit drei Tagen packte Oma alles in Schachteln, Taschen und in ihren großen Lederkoffer. Der Herr Dichter war nicht mehr gekommen. Ihn hätte Ernst gerne gefragt, wie er ins Gymnasium kommen könnte.

    Die Ottakringer Wohnung verließ seine Oma nicht mehr, er musste sie versorgen. An den Wochenenden besuchte er Freunde im Negerdörfl, auch zu Hedi konnte er jederzeit gehen. Sie war froh, wenn ihre Kleine jemanden zum Spielen hatte.

    Nach einigen Monaten kam Toni wieder heim, sie hatten ihm nichts nachweisen können. Ernst wusste, dass sich Genossen von den Sozialisten nach wie vor in der Wohnung der Patoseks trafen. Die meisten von ihnen waren inzwischen zu den Kommunisten gegangen.

    Oma hatte verlernt zu lächeln. Ernst konnte sich nicht mehr an seine fröhliche Großmutter erinnern. Sie aß immer weniger. So schaute sie auch aus. Zwei Jahre lebte Ernst schon mit seiner Oma in der Ottakringer Wohnung und immer noch musste er sie mit Lebensmitteln versorgen. Sie fragte nie, woher er sie hatte. Sie wusste nicht, dass er manchmal von Hedi und Toni etwas Geld bekam, und er sagte ihr auch nicht, was er alles anstellen musste, um das Essen zu organisieren.

    Seit einem halben Jahr stand sie morgens nicht mehr auf, bevor Ernst zur Schule ging. Irgendwann machte sie sich Tee und aß ihren Zwieback dazu, das sah er an den Tassen und an den Bröseln auf der Kredenz. Das Kochen hatte sie eingestellt und auch von Hansl hatte sie seit Langem nicht mehr gesprochen. Nur die Wäsche, die machte sie noch für Ernst.

    Wieder einmal war er im Negerdörfl. Schon vor einigen Monaten hatte sich ein kleinerer Freundeskreis gebildet. Von den meisten wusste Ernst, dass ihre Eltern Sozialisten waren, nur einer erzählte nichts von seiner Familie, wollte aber auch mitmachen. Zu siebt hatten sie sich in einem Erdloch einen Bunker eingerichtet. Er wurde ihr geheimer Treffpunkt, auch ihre Namen sollten verdeckt bleiben. Ernst wollte Erich Mühsam sein, die anderen überlegten noch. Er wickelte sechs Zigaretten aus einem Taschentuch und erntete Applaus. Rosa wollte nicht rauchen, das wusste er. Sie las aus einer Broschüre über die Sozialistenprozesse vor. „Katholen-Faschisten" nannten sie die Vertreter des Austrofaschismus, und die wollten tatsächlich die Führung der Revolutionären Sozialisten³ wegen Hochverrates zum Tode verurteilen.

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1