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Atterwellen
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eBook173 Seiten2 Stunden

Atterwellen

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Über dieses E-Book

Mit fünfundzwanzig Jahren zieht Erna, Tochter eines niederösterreichischen Bauern, zu Leopold nach Seewalchen am Attersee. Rasch begreift sie, wie klein die Welt ist, die ihr als Ehefrau und Mutter zugedacht ist. Erna bekommt fünf Kinder. Sie bauen ein Haus, eröffnen ein Gasthaus. Da ist der Traum vom erfüllenden Eheleben längst nur mehr Erinnerung. Nach siebenundzwanzig Ehejahren ist Scheidung die einzige Lösung. Aber Erna hat das Träumen nicht verlernt …
Ihre Tagebucheinträge aus fünfundsechzig Jahren werden zur Basis episodenhafter Erkundungsgänge durch ein Leben – und ein Zusammenleben – dabei sind sie auch ein zeithistorisches Dokument der damaligen gesellschaftlichen sowie politischen Veränderungen.
SpracheDeutsch
HerausgeberHollitzer Verlag
Erscheinungsdatum3. Okt. 2016
ISBN9783990123515
Atterwellen

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    Buchvorschau

    Atterwellen - Luis Stabauer

    Atterwellen

    Luis Stabauer

    Atterwellen

    Episoden-Roman

    Umschlagbild: Maria Maller

    Umschlaggestaltung: Nikola Stevanović

    Lektorat: Annalena Stabauer

    E-Book-Ausgabe mit freundlicher Genehmigung des Resistenz Verlags, Kematen/Krems

    Luis Stabauer: Atterwellen

    Alle Rechte vorbehalten

    © HOLLITZER Verlag, Wien 2016

    ISBN 978-3-99012-351-5 epub

    www.hollitzer.at

    Danke Ulla,

    deine Kommentare nach dem Erstlesen regen mich an.

    Danke „Textmotor"-LiteratInnen, danke Alois,

    eure kreativen Rückmeldungen sind nachhaltiger Ansporn.

    Danke Geschwister,

    eure Erinnerungen sind vielfach eingeflossen.

    Danke Annalena,

    dein Mitdenken im Lektorat, deine Fähigkeiten als Lehrmeisterin sind Architektur am Buch.

    Danke Maria,

    dein Cover-Bild ist das wunderschöne Entree in mein Buch, es freut mich ungemein.

    Danke Mutter,

    du hast so viel aufgeschrieben, so viel erzählt, so viel angeregt.

    1  Prolog oder dein Badezimmer

    In deinem neuen Zimmer in Lenzing hast du auf mich gewartet. Das Aufstehen fällt dir sichtlich schwer. Deine Augenbrauen sind nicht nachgezogen, die Lippen nicht eingefärbt.

    – Heute haben sie mir das Frühstück und das Mittagessen aufs Zimmer gebracht, sagst du. Am Abend möchte ich wieder mit dem Rolli in den Speisesaal fahren. Aber mit der Frau Werner will ich nicht mehr an einem Tisch sitzen.

    Angeblich hat sie dich beschimpft, weil du dein Messer abgeschleckt hast.

    – Schade, meinst du, sie ist bis dahin immer freundlich gewesen, jetzt wird sie komisch. Vielleicht ist es nicht gut, wenn man über hundert Jahre alt wird?

    Wieder einmal erzählst du mir von deiner Kindheit am Bauernhof in Plaika. Dabei benutzt du Ausdrücke, die mir Bilder von meinen Sommeraufenthalten am großelterlichen Hof zurückbringen. Es dauert nicht lange, und deine Erinnerungen drehen sich um deinen Vater. Ich habe ihn nur als Kind noch erlebt. Die Hoppa-Reiter-Spiele auf seinem Schoß werden in meinem Kopf wieder lebendig. Es muss schön sein, so angenehme Erinnerungen an seinen Vater haben zu können, denke ich. Aber warum verfällst du plötzlich wieder in den Dialekt deiner Kinder- und Jugendzeit?

    Schließlich erwähne ich meine große Reise nach Lateinamerika. Langsam kannst du dich wieder erinnern, möchtest wissen, ob ich auch die Schneeberge in den Anden sehen werde. Und ob ich wieder so lange wegbleiben werde wie damals in El Salvador.

    – Aber die langen Briefe, die du mir damals geschrieben hast, sagst du mit leuchtenden Augen, die habe ich immer noch. Sie liegen bei meinen Tagebüchern.

    – Tagebücher?, wiederhole ich. Schreibst du schon lange?

    Du lächelst mich an. Die Frage berührt dich, meine ich zu spüren.

    – Geschrieben habe ich schon als Kind, heimlich, sagst du. Ab 1944 habe ich die Bücher auch aufgehoben. Mittlerweile sind sie mir recht wichtig.

    Ja, denke ich, mein erstes Buch über die Geschichte einer Wienerin hat dich so begeistert: Hast du damals bereits an deine Tagebücher gedacht? Sollten sie vielleicht eine Fundgrube sein?

    – In den letzten Tagen daheim in meinem Zimmer, erzählst du weiter, habe ich die frühen Einträge wieder gelesen. Die Kriegszeit hat mich am meisten berührt. Wenn ich einmal nicht mehr bin, deine Stimme ist jetzt sehr leise, kannst du die Tagebücher lesen. Es steht nichts Spektakuläres drinnen, aber wer weiß, vielleicht machst du ja noch einen richtigen Roman daraus.

    Ich sage nichts, denke an deine Geschichten über die Russen, dann spüre ich deinen Blick.

    – Mach dir keine Sorgen, sagst du, jetzt wieder laut und deutlich, mir geht es gut hier. Alle sind freundlich, und vielleicht holt mich die Pepperl demnächst noch für ein paar Tage heim. Das Bett ist sicher noch da und ich habe ja den Stiegenaufzug.

    Schweigen. Ich möchte das Thema wechseln.

    – Deine Zahnpasta liegt im Badezimmer, sage ich, die hast du vergessen, ich habe nur ein wenig davon genommen und die Tube ist beinahe noch voll.

    Mit einem Lächeln legst du deine Hand auf meinen Arm.

    – Du kannst sie ruhig aufbrauchen, wenn du oben am Attersee bist. Ich mag die Colgate nicht, und wenn mich die Pepperl abholt, nehme ich mir eine andere von da herinnen mit. Und versprich mir eines: Sollte etwas mit mir sein, unterbrich deine Reise nicht. Die Pepperl und die Frieda kümmern sich vorbildlich um mich. Mach dir keine Sorgen, wiederholst du, mir geht es gut und ich werde dich in Gedanken auf deiner Reise begleiten. Vielleicht bekomme ich ja auch wieder ein paar Briefe von dir?

    Erst danach ziehst du deine Hand wieder zurück. Mit einem tiefen Seufzer.

    Ich fahre weg. Zuerst von deinem neuen Zuhause, dann aus Wien. In Argentinien sehe ich die ersten Schneeberge der Anden. Nicht nur dabei denke ich an dich. Deine guten Wünsche und der Hinweis auf deine Tagebücher begleiten mich. Ob ich dich noch wiedersehen werde? In der Atacama-Wüste erreicht mich Friedas Anruf. Du seist heute in Lenzing friedlich nach dem Frühstück gestorben. Soll ich abbrechen? Ich erinnere mich an deine Worte, entscheide mich für die Weiterreise und bereite dir einen besonderen Abschied in den Anden.

    Zehn Wochen danach stehe ich in deinem alten Badezimmer. Deine Manikürtasche, die vielen Haarshampoos, das Tuch, mit dem du penibel die Wassertropfen von den Fliesen und den Chromteilen entfernt hast, die Haarbürste, dein höherer Sitz für das WC, der Badeaufzug, alles ist noch da. Erst wenige Monate vor deinem Tod warst du ausgezogen, hattest dein Zimmer, deinen Balkon, dein Bett, deine Blumen und dein Badezimmer zurückgelassen. Freiwillig?, fragt mich der Spiegel – oder ich ihn? Auch die fast volle Colgate-Tube steht noch immer auf der Glasablage unter dem Spiegel. Die Tube nehme ich als Andenken mit, ich werde die Zahncreme sehr sparsam, aber doch verwenden.

    Pepperl hat deine Tagebücher bereits geordnet. Einen Meter und dreizehn Zentimeter hoch ist der Stoß. Die ersten Einträge sind von 1944, die letzten von 2009. Welches Erbe, welchen Schatz hast du uns da hinterlassen? Hast du gehofft, dass wir dich durch deine Aufzeichnungen besser verstehen werden? Ich bin überrascht: Die Struktur deiner Aufzeichnungen ist denen in meinem Reisejournal ähnlich. Hast etwa du mir die Lust am Schreiben weitergegeben? Ich schlage meine Einträge aus Chile auf:

    12. März 2011,

    Samstag: Die Wüste glüht. Copiapó in der Atacama-Wüste. Vor zwei Jahren erlangte die Stadt Berühmtheit, die Rettung eingeschlossener Bergleute wurde weltweit übertragen. Morgen fahre ich mit einem Geländewagen und einem Reiseführer hoch hinauf in die Anden.

    13. März 2011,

    Sonntag, frühmorgens: Meine Schwester Frieda rief an, ihre verweinte Stimme schnürte mir die Kehle zu: „Mutti ist heute Früh gestorben."

    Für einige Minuten konnte ich meine Gedanken nicht ordnen: Heimfahren oder doch nicht. Die geplante Tour zur Laguna Verde absagen? Was hättest du dir gewünscht, Mutter? Du warst reiselustig. Wenige Wochen vor deinem 90er hast du dich noch interessiert nach der Route erkundigt. „Ich reise in Gedanken mit", hast du gesagt. Gut, Mütterchen, du bekommst deinen Abschied in den Anden.

    14. März 2011,

    Montag: Der Kopf brummt. Sind es die Nachwirkungen der Höhenluft oder doch die drei Flaschen Rotwein. Nacho und Klaudia haben mich trösten wollen. Mutter, ich hab für dich einen Stein in den Grünen See auf 4300 m Höhe geworfen. Ich hab dann der Zeit zugesehen, wie sie die Wellen glättete. Wie lange wird der Stein auf dem Grund liegen? Die Schneeberge um den See hätten dir gefallen, sie werden deinen Stein behüten.

    Das Begräbnis, die Worte des Pfarrers, der Leichenschmaus, die Kaffeerunde im engen Familienkreis: Ich bin nicht dabei gewesen. Jetzt besuche ich dich am Friedhof. Die Erde auf dem Grab ist noch gewölbt, dein Körper im letzten, kleinen Zimmer benötigt Platz. In fünf bis sechs Wochen wird dein Grab wieder eben sein. Dann kann der neue Grabstein aufgestellt werden. ‚Erna und Leopold‘ soll darauf eingraviert werden. Du hast es dir gewünscht, wieder bei deinem Poidl zu liegen. Wir Kinder haben euch nach der langen Trennung wieder vereint.

    Die provisorische Grabumrandung kenne ich. Vor fünfundzwanzig Jahren habe ich mir mit den zugeschnittenen Brettern mein erstes Bett gezimmert.

    – Einen Meter und vierzig Zentimeter Liegefläche hätte ich schon gerne, habe ich zum Tischler Franz gesagt, es kann ja sein, dass jemand bei mir nächtigen möchte.

    Der hat mich angelächelt:

    – Charly, das wird nicht lange dauern bei dir.

    Jetzt haben die Bretter eine letzte sinnvolle Verwendung gefunden. Ich lege meine Gedanken dazu. Mütterchen: Vor sechs oder sieben Jahren haben wir unseren Frieden finden können, haben uns gegenseitig nicht mehr verändern wollen. Darüber bin ich heute noch froh.

    Wieder im Elternhaus an der Ager, daheim, denke ich überrascht, erzählen mir meine Schwestern Josefa und Frieda ausführlich von der Verabschiedung unserer Mutter. Pepperl bemerkt meine Tränen und nimmt mich in ihre Arme. Jetzt kann ich meinen Schmerz zeigen.

    Später sitze ich lange in deinem Zimmer. Fünf Bücher sind es von 1944 bis zu meiner Geburt. Zweiundfünfzig Bücher zähle ich insgesamt. Ich gehe in den Garten, lese und blättere, lese und blättere, die Sonne wärmt mich. Deine Zeilen über die letzten Kriegsjahre, die Bitterkeit nach der Todesmeldung deines Bruders, dein Warten auf Leo und der Mut, auch gegen den Willen deiner Mutter zu ihm zu ziehen: Ich beginne dich neu zu sehen. Dein Gesamtwerk gibt mir Anstöße und Ideen, Kurzgeschichten zu entwickeln. Ich glaube, du wärst stolz. Jetzt liegst du unter meinen Brettern und ich bin auch ein wenig stolz, was du alles aufgeschrieben hast. In deinen Einträgen wird auch sichtbar: Vom ‚Burli‘ über den ‚Karli‘ bis zum ‚Karl‘ hast du wie meine Entwicklung auch meine Namen mitgeprägt. Den ‚Charly‘ hast du lange nicht akzeptieren können, Englisch hat dich geärgert und das deutsche ‚Tschüss‘ auch. Den ‚Carlos‘ habe ich schon vor fünfzehn Jahren aus Lateinamerika mitgebracht. Du hast ihn nicht über die Lippen gebracht und auch meine Schwestern sind beim ‚Charly‘ geblieben. Es ist mir nicht so wichtig. Obwohl, es wäre schon fein gewesen, auch von dir den ‚Segen‘ für jene Veränderung zu bekommen, die ihre Wurzeln in Lateinamerika hat, den Namen Carlos.

    Es vergehen drei Jahre, bis ich zu schreiben beginne. Ich entscheide mich, einige deiner frühen Eintragungen an den Anfang zu stellen, um den Lesern deinen Ton hören zu lassen, der auch der Ton dieser Zeit ist. Hier beendest du deine vom Krieg geprägten Jugendjahre, mit der Übersiedlung vom elterlichen Bauernhof in Plaika, Niederösterreich, nach Seewalchen am Attersee.

    Aus deinen Eintragungen und meinen Erinnerungen entstehen Kurzgeschichten. Rund um Begebenheiten, die du oder ich, oder du und ich erlebt haben, erlebt haben könnten.

    15. Jänner 1944

    Sonntag: Schwerer Gang. Feierliches Requiem für meinen Bruder Hansl, Stephan kam nicht. Unendlich viele Menschen gaben ihm die letzte Ehre, es wurde geschlossen zur Kirche gebetet, 16 Kränze und 2 Buketts wurden von der männlichen Dorfjugend getragen. Nachher feierlicher Akt beim Krieger-Denkmal. Tee beim Mayrhofer!

    24. Mai 1944

    Mittwoch: Schöner Maitag. Bombardierung in Wien, 77 Tote.

    1. Oktober 1944

    Sonntag: Trüb – kühl. Requiem für den am 9. September gefallenen Sepp Hemmelmaier, hatte 30 Kränze, viele Menschen gaben ihm die letzte Ehre. Am Freitag, 9 Uhr, schenkte Frau Schradi einem Mäderl das Leben, doch kurz darauf verschied es. Mayr Steffi ist nur staatlich verheiratet, die Strafe Gottes hat einen Vater von Frau und 2 Kindern weggerissen. Poidl beginnt mit dem Lehrgang.

    18. November 1944

    Samstag: Schönwetter. Angriff auf Wien und Linz. Endlich dringt die Wahrheit vom Tod des Adolf Hitler auch durchs Volk, er ist der Verwundung vom Bombenangriff des 20. Juli erlegen; nun hat der Hauptmörder Himmler die Führung in der Hand.

    7. Jänner 1945

    Sonntag: 10 cm Neuschnee – kalt. Hab von Poidl gestern eine schöne belgische Pistole erhalten.

    2. Feber 1945

    Freitag: Glatteis – Mariä Lichtmess. In der Molkerei gibt es so wenig Brennmaterial, wird keine Milch mehr pasteurisiert, wenn das so weitergeht, gibt’s weder Magermilch noch Butter mehr! 400 Sträflinge sind in Mauthausen geflüchtet, der Volkssturm ist im Einsatz, mit der Landwache!

    9. Feber 1945

    Freitag: Gefroren. War bei den Sakramenten, gestern und heute wieder Angriffe auf Wien. Hab von Poidl aus Wien Post vom 6. Feber bekommen, der Nordbahnhof ist ganz kaputt, das Parlament und viele andere Sehenswürdigkeiten getroffen; bin sehr in Gedanken um Poidl.

    26. April 1945

    Donnerstag: Mein 24. Geburtstag. Hatte noch nie

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