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Der Anhalter: Die Ankunft
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eBook842 Seiten12 Stunden

Der Anhalter: Die Ankunft

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Über dieses E-Book

Der Anhalter ist mehrdeutig. Die Hauptperson in der Geschichte wird auf die Erde gesandt, um eine Entwicklung anzuhalten; ohne anzuhalten läuft jeder an allem vorbei, ohne es bewusst zu sehen, nicht einmal das, was in der unmittelbaren Umgebung passiert.
ist auch ein hinweis auf Kunstliche Inteligenz von ausserhalb
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum18. Jan. 2018
ISBN9783746003955
Der Anhalter: Die Ankunft
Autor

Elfy Graham

Diese Kurzgeschichte habe ich vor ungefähr 30 Jahren geschrieben, und ist eine von mehreren. Es war ein "Wettbewerb" aus Spass zwischen meinem Sohn und mir gewesen. Wir haben beide gewonnen - und das war die Freude am Schreiben gewesen.

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    Buchvorschau

    Der Anhalter - Elfy Graham

    *

    KAPITEL 1

    Der Ursprung

    Die Einladung

    Sie folgten der Einladung, die jeden einzelnen von ihnen wie ein Impuls erreicht hatte, und über deren Sinn kein Zweifel bestand. Von einer seltsamen Erregung ergriffen reisten sie ihrem Ziel entgegen.

    Eine lange Zeit war vergangen, seitdem sie das letzte Mal von Legur gehört hatten. Dennoch wussten sie, dass er nie fern von ihnen gewesen war. Sein Ruf erreichte sie, und löste sie nun aus ihrem bisherigen Leben.

    Damals waren sie ihm gefolgt, als er sie als Schüler zu sich gerufen hatte. Und jetzt? Je mehr die Entfernung zu Legur schmolz, um so stärker wurde das Herzklopfen. Sie hatten sich untereinander nicht in Verbindung zu setzen brauchen um zu wissen, dass er sie gemeinsam zu sich rief. Ja, sie hatten es nicht einmal gewollt, denn jeder brauchte noch eine letzte Zeit des Alleinseins mit sich selbst.

    Samoht schloss das Buch, das er sich für die Fahrt mitgenommen hatte. Nun schaute er aus dem Fenster und stellte mit leichtem Erstaunen fest, dass er sein Ziel fast erreicht hatte, ohne es zu merken, ohne zu wissen, wo die Stunden geblieben waren. Sein Blick streifte die vertrauten Berge mit den schneebedeckten Gipfeln. Dann lief der Zug im Bahnhof ein und er stieg aus.

    Nach den ruhigen Stunden der Fahrt stand er für einen Moment wie benommen zwischen all den Leuten in der Halle. Seine Augen suchten nach einem vertrauten Gesicht, seine Gefühle tasteten nach einem Anzeichen des Erkennens. Dann bückte er sich, nahm seinen Koffer und ging auf den Bahnhofsvorplatz. Das helle Licht der Spätsommersonne blendete ihn, und er schloss für einen Moment die Augen, bevor er sich nach einem Taxi umsah.

    Geschickt lenkte der Fahrer den Wagen die Straße hinauf, vorbei an hohen Felswänden und steilen Abhängen. Wieder überkam ihn dieses Gefühl einer seltsamen Erregung. Würde er der erste sein?

    »Fahren Sie diese Strecke öfter?«, fragte er, um sich von seinen Gedanken abzulenken.

    Der Fahrer warf ihm einen leicht verwunderten Blick im Rückspiegel zu. »Nein … aber heute schon zum vierten Mal.«

    Nach einer Kurve tauchte plötzlich Hallborough auf. Die alten, mit Efeu berankten Mauern, erinnerten ihn sofort an die angenehme Kühle, die ihn in den Räumen erwarten würde. Nachdem sie den Innenhof überquert hatten, hielt der Wagen direkt vor den Eingangsstufen. Die schwere, breite Eingangstür stand offen.

    Zögernd verließ Samoht das Taxi, nahm seinen Koffer, und schaute dem abfahrenden Wagen nach. Dann streifte sein Blick über die Hausfront. Die Fenster waren geöffnet, an einem bewegte sich die Gardine, wie eine weiße, ihm zuwinkende Fahne. Waren die anderen auch schon da? Noch immer zögernd betrat er die Halle. Er spürte Legurs Anwesenheit, die jeden einzelnen Stein des Gebäudes durchdrang, und beschloss nach oben, in sein ehemaliges Zimmer zu gehen, und dort zu warten.

    Er packte seinen Koffer aus und legte sich angezogen auf das Bett. Nach einer Zeitspanne, die er nicht abzuschätzen vermochte, und in der die verschiedensten Erinnerungen auf ihn einstürmten, vernahm er erneut Legurs Ruf.

    *

    Airam hatte am Fenster gestanden und Samohts Ankunft beobachtet. Er hatte sie nicht sehen können, da der Efeu so üppig gewachsen war, dass er die Fenster schon teilweise überdeckte, und sie somit seinem aufschauenden Blick entzogen gewesen war. Ihre Gefühle für ihn waren noch die gleichen, eine tiefe innere, doch neutrale Zuneigung. Unbewusst lächelte sie, als ihr bewusst wurde, dass er noch immer dieses offene, schöne Gesicht mit den so nachdenklich, leicht schwermütig schauenden Augen besaß. Die blonden Haare waren kürzer als damals, und kringelten sich leicht im Nacken. Als er auf die Eingangsstufen zugegangen war, hatte sie sich vom Fenster zurückgezogen und auf ihr Bett gelegt. Den Wunsch gleich zu ihm zu laufen und ihn zu begrüßen, hatte sie unterdrückt, in dem Bewusstsein, dass Legur sie alle gerufen hatte. Also würde die erste Begegnung eine gemeinsame sein.

    Die Ungeduld ging vorbei während sie ruhte, und flackerte erst wieder auf, als Legur erneut rief.

    *

    Surtep hatte sich gleich nach seiner Ankunft zu einem Spaziergang aufgemacht. Schon damals, als er sich als Schüler an diesem Ort aufgehalten hatte, waren es die langen, ausgedehnten Wanderungen gewesen, die ihm am besten halfen, sein inneres Gleichgewicht wiederzugewinnen, wenn es durch allzu große Erschütterungen gestört worden war.

    Der Anblick des gewaltigen Bergmassivs, mit den selbst im Sommer schneebedeckten Gipfeln, vermittelte ihm eine Ruhe, die er in sich selbst nicht immer finden konnte.

    Nach dem ausgiebigen Spaziergang lag er nun auf einer Wiese, von wo aus er auf das Dorf im Tal, auf Hallborough, und auf den schmalen Weg, der hier herauf führte, blickte. Der Geruch des erst vor kurzem gemähten Grases hing in der Luft, und weckte angenehme Erinnerungen an die Zeit, die er früher hier verbracht hatte.

    Mit der Hand schirmte er die Augen gegen die Sonne ab, um besser sehen zu können, als er meinte, dass ein Wagen angekommen ist. Es war ein Taxi. Jetzt fehlte nur noch einer von ihnen, dann waren sie vollzählig. Die besorgten Gedanken kehrten zurück. Es musste etwas sehr Dringendes sein, wenn Legur sie alle nach so langer Zeit treffen wollte. Doch er hatte es nicht eilig, dahinterzukommen. Er blieb auf der Wiese liegen und machte sich erst auf den Weg nach unten, als Legur rief.

    *

    Kaasi hatte gleich nach ihrer Ankunft die Reisetasche ausgepackt, und ihre Sachen im Schrank untergebracht. Ihrer aller Bleiben würde von kurzer Dauer sein, der Grund, warum sie gerufen wurden, dafür mit einer um so länger anhaltenden, schmerzhaften Auswirkung.

    Diese Vorahnungen hatte sie schon als Kind, und später als Legurs Schülerin, belastend empfunden … eigentlich in all ihren vergangenen Leben. Auch jetzt spürte sie das Gewicht wieder auf ihren Schultern, und wünschte sich bei den anderen zu sein, doch sie würde warten, bis alle da waren.

    Nicht nur Vorahnungen, auch Erinnerungen, die bei ihr nie so weit unter der Oberfläche schlummerten wie bei den anderen, hatten sie zu einem äußerst empfindsamen Wesen werden lassen.

    Sie nahm wahr, dass jemand in dem Zimmer neben ihr einzogen war. Nomis war angekommen. Die optimistische und quirlige Nomis, die mit ihrer ausgleichenden Art immer dafür gesorgt hatte, dass in harten und schweren Situationen der Lichtblick auf die Freude nicht verloren gegangen war.

    Samoht war gefühlsstark, manchmal schwermütig, und von einer entwaffnenden Offenheit. Diese wirkte so anziehend auf andere, dass es teilweise schwierig für ihn war, die ganze Zuneigung, die ihm entgegen gebracht wurde, so in Grenzen zu halten, dass er davon nicht erdrückt wurde.

    Airams Wesen war ebenfalls von starken Gefühlen geprägt, gepaart mit einer ebenso starken Anziehungskraft. Aber sie hatte die Fähigkeit, fast mühelos eine Distanz aufrecht zu erhalten.

    Surtep war eine ruhige Kraft, die anderen dazu verhalf ihre eigenen Kräfte zu wecken, oder zu regenerieren. Und Haon besaß die Ruhe, die allen half, wenn die Bemühungen blockiert wurden, oder in Hektik auszuarten drohten.

    Ob die unterschiedlichen Reaktionsweisen von ihnen wohl damals, bei Legurs Auswahl seiner Schüler, eine Rolle gespielt hatten?

    Legurs Ruf riss sie aus ihren Überlegungen heraus.

    *

    Haon sprang vom Heuwagen ab und bedankte sich bei dem Bauern, der ihn ein Stück mitgenommen hatte. Er spürte, dass die Zeit zur Neige ging, die ihm für seine Anreise gegeben worden war. Mit weit ausholenden, aber dennoch ruhigen Schritten, legte er die letzte steil bergab führende Strecke zurück. Mit einem Schmunzeln im Gesicht betrat er in dem Augenblick den Innenhof von Hallborough, als Legurs Ruf zu kommen, an sie alle ging.

    *

    Samoht verließ sein Zimmer. An der Treppe traf er mit Nomis, Kaasi, Surtep, und Airam, zusammen, gerade als Haon die Halle betreten, seinen Koffer abgestellt hatte, und ihnen entgegenblickte, bis sie unten angekommen waren.

    Sie sahen einander an, schweigend, ernst, bis die Gefühle der Wiedersehensfreude alles überflutete. Nach all den Jahren fügten sie sich wie die Teile eines Puzzles wieder zu einer Einheit zusammen.

    Gemeinsam betraten sie das runde Zimmer, in dem sie damals mit Legur gelernt hatten. Die Atmosphäre dieses Raumes empfing sie wie ein lebendiges Wesen, das sich über ihre Anwesenheit freute und sie willkommen hieß. Die schweren Vorhänge, in nachtdunklem Blau, waren halb vor die, bis zum Boden reichenden Fenster gezogen.

    Ihre Blicke glitten über die uralten Bücher in den Regalen, welche die Wände fast gänzlich bedeckten. Dieser Raum erfüllte sie jetzt wie früher mit einem eigenartigen Gefühl, auch wenn in diesem Moment eine andere Ursache als damals dafür vorlag.

    Während sie auf den Stühlen an dem runden Tisch Platz nahmen, tauschten sie untereinander Blicke aus, welche die Erinnerung an ihre früheren gemeinsamen Inkarnationen zurückkehren ließ. Sie waren immer zusammen gewesen, im Inneren, wenn auch im Äußeren oft zuerst getrennt, bis sie die Erfüllung gemeinsamer Aufgaben unweigerlich wieder zusammengeführt hatte. Nichts davon war verloren gegangen, hatte nur geruht wie in einem tiefen Schlaf, und überflutete sie jetzt beim Erwachen wie ein Ozean.

    Die verschiedenen Zeitalter, Aufgaben, Revolutionen und Kriege, Schmerzen, Trauer, Freude, Gefühle der Liebe und des Sterbens, das Verlassen–Müssen der Hülle des vertrauten Körpers, und die Wahl der nächsten Inkarnation, die sie in ein Leben brachte, das noch ärger als das vergangene, noch näher an der endgültigen Vernichtung war … all das reihte sich wie die Perlen einer Kette aneinander. Und schließlich folgten sie den Schichten der letzten Inkarnationen, die sie in immer harmonischer und friedlicher werdende Voraussetzungen entließen.

    Es waren Schichten, in denen sie die Bevölkerung ihres Planeten Schritt für Schritt wachrüttelten, in denen sie bei der Erfüllung ihrer Aufgaben immer wieder umgebracht worden waren, von Personen aus der Bevölkerung, den Machtinhabern der Politik und großen Konzerne, von religiösen Eiferern und Fanatikern. Bis dann die Erlösung kam, als jedes Einzelwesen endlich verstanden, gelernt und akzeptiert hatte, dass es nur ein Leben und Überleben geben konnte, wenn sich jeder von ihnen als ein Teil vom Ganzen verstand. Und dass das Einzelne ohne das Ganze – und das Ganze ohne das Einzelne – nicht existieren konnte. Die Früchte dieses Erreichten hatten sie jetzt eine lange Zeit genießen können.

    Durch die geöffneten Fenster suchten sich die Strahlen der nun tiefer stehenden Sonne ihren Weg ins Innere dieses Raumes. Die Stille, nur durch das Gezwitscher der Vögel in harmonischer Weise unterbrochen, führte sie wieder in die Gegenwart zurück.

    *

    Legur betrat das Zimmer und begrüßte jeden Einzelnen von ihnen. Mit der Macht der grenzenlosen Zuneigung, die ihn wie ein Mantel umgab, die im Laufe der hundert und aberhundert Jahre herangereift war, bis sie sein ganzes Wesen ausmachte, umhüllte er sie. Dann setzte er sich zu ihnen an den Tisch. Seine Gestalt war von einem pulsierenden Licht umgeben.

    'Ich habe euch gerufen, weil unserem Gegenpol die Vernichtung droht. Er nähert sich in erschreckender Schnelligkeit immer weiter dem endgültigen Tod, dem wir entgangen sind.

    Von einigen wahren Sehern, verantwortungsbewussten Wissenschaftlern und Forschern abgesehen, haben zu viele Fanatiker und sogenannte Gläubige aus Eigeninteresse zu oft den Untergang vorhergesagt, sodass die Prophezeiungen an Glaubwürdigkeit verloren haben. Zu viele leiten die Vernichtung aus ihren eigenen Motiven ab, aus angeprangerten Sünden, die sie als solche sehen und die in Wahrheit nur der eigenen Machtausübung dienen. Aber gleichzeitig verschweigen sie die wahren Sünden, kehren sie unter den Teppich, um sich dann weiter gierig zu bereichern.

    Jeder Einzelne, selbst wenn er die Wahrheit der Kollektivschuld begreift, befürchtet, dass er Abstriche bei sich selbst vornehmen müsste – die der Nachbar nicht mitvollzieht. Das Ego verhindert zu verstehen, dass der Nachbar vielleicht mitziehen würde – wenn einer den Anfang macht. So macht keiner den Anfang, aber gemeinsam suchen sie nach anderen, die sie für all das Elend verantwortlich machen und verurteilen können, um das eigene Gewissen zu entlasten. Ein anderer ist Schuld, man selber ist ohnmächtig, und nur voller Hoffnung auf Besserung. Damit kann auf den bequemen Gleisen der lautstarken Entrüstung und Empörung, bei gleichzeitiger Untätigkeit, weitergefahren werden.'

    Er schwieg für einen Moment in der Erinnerung, bevor er hinzufügte: 'Wir werden gemeinsam in unsere Vergangenheit eintauchen, um den Weg für unseren Gegenpol zu finden.'

    Schweigend saßen sie in Meditationshaltung. Die Atemübungen beruhigten den ungestümen Trommelschlag ihrer Herzen, bis er einer harmonischen Melodie gleichkam, die sie nun miteinander verband. Der Punkt, auf den sich ihre gemeinsame Aufmerksamkeit konzentrierte, näherte sich mit großer Geschwindigkeit ihrem Bewusstsein. Noch war ein leichtes, banges Zögern da. Phasen gemeinsamer Erlebnisse tauchten auf, verschwanden wieder, ließen sich nicht halten, und ergaben noch kein zusammenhängendes Bild.

    Er war sich der Anspannung, in der sich seine ehemaligen Schüler befanden, bewusst und empfand ein tiefes Mitleid für sie – die sich auf diese Reise begaben. Er ließ sie fühlen, dass er bei ihnen war, wie ein ruhiges helles Licht. Behutsam begleitete er sie, während sie ihr Zögern überwanden, und weiter und weiter in die Vergangenheit vordrangen.

    Die Vergangenheit

    Die nebelhaften Schleier des Schutzes verzogen sich, und gaben dann in schwindelerregender Schnelligkeit über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg den Blick auf das frühere Edre frei. Es herrschte die trügerische Ruhe vor dem Sturm, denn die vernichtenden Wellen zogen immer weitere Kreise. Das war die Phase, in der das Bewusstsein der Bevölkerung darüber, dass alles miteinander verbunden ist, mit Fäden, die sich nicht durchtrennen ließen – ohne den alles umfassenden Tod einzuleiten – verloren gegangen war. Die größte Gefahr wurde durch den Irrglauben ausgelöst, dass das ICH um so besser überleben kann, je mehr es das DU vernichtet. Diese Trennung von ICH und DU wurde mit verbissener Konsequenz vollzogen, bis in die kleinste Einheit des Zusammenlebens.

    Noch ließ diese Spaltung keine Nachteile, eher Vorteile für das ICH erkennen. Die Bevölkerung war noch nicht zu der erdrückenden Masse angewachsen, sodass die Berührungspunkte zu der letzten Konsequenz des Einzelnen, jeden selber vernichten zu wollen um zu überleben, noch nicht ausgeprägt war.

    Doch mit der Vermehrung der Völker, wider jede Vernunft, rückten diese Berührungspunkte immer näher. Die Erwartung der Lebensdauer war heraufgesetzt, indem Seuchen und Krankheiten nahezu besiegt, die Kindersterblichkeit gesenkt, und die Arbeit erleichtert worden war.

    Der Abgrund zwischen den verschiedenen Ethnien der Bevölkerung, zwischen den hochzivilisierten Staaten und den hinter diesem Prozess Zurückgebliebenen, klaffte immer breiter und tiefer auf. Die Bevölkerung nahm in erschreckender Weise allgemein zu. Paradoxerweise mehr in den Schichten und Regionen derer, die nur ein Dasein an der Existenzgrenze oder dem Hungertod zuließen.Viele Nachfahren zu haben war ein uraltes und tief verwurzeltes, einmal sinnvolles, aber schon längst nicht mehr vertretbares Prinzip, mit dem diese Völkergruppen dem Aussterben Einhalt bieten wollten, indem sie sich millionenfach duplizierten.

    Den Staats- und Religionsführern in diesen schwach entwickelten Gebieten stand damit ein ungeheures Potential zur Verfügung, das sie sich auf keinen Fall entgehen oder nehmen lassen wollten. Massen, hungernd und auf dem niedrigsten Bildungsniveau gehalten, ließen sich leichter von den angeblichen Qualitäten eines Führers überzeugen, der hohle Versprechungen für Besserung gab; ließen sich leichter zu einem Krieg überreden, der in Wahrheit nur dem Machtanspruch des Regierenden diente.

    Nicht anders verhielt es sich bei den verschiedenen Religionen, die untereinander um jeden Anhänger ihres Glaubens kämpften, nach der Devise, dass der Zweck die Mittel heiligt. Not und Elend waren die besten Voraussetzungen dafür, den Glauben als letzten Ausweg zu sehen, und weder die Vertreter, noch deren Auslegungen der heiligen Schriften, infrage zu stellen.

    Auf der Seite der sogenannten zivilisierten Staaten wurden gewaltige Anstrengungen unternommen, um die Lebensmittelversorgung ihrer eigenen Bevölkerung zu gewährleisten. Denn die Konstellation eines hungrigen Bauches und eines gebildeten Kopfes, führte leicht zur Infragestellung der Kompetenz einer Regierung.

    Chemische Düngung vermehrte die Ernten, und chemische Schädlingsbekämpfung bewahrte diese vor Vernichtung. Massenhaltung von Tieren, mit Chemie vollgepumpt, sorgten für lebende Fleischberge.

    Traten einmal Probleme auf, welche die Lebensmittel zu einem gesundheitsgefährdenden Faktor werden ließen, wurde dies so lange wie möglich totgeschwiegen, um den Profit nicht zu schmälern. So lange, bis endlich der Tatbestand durch die Medien so publik gemacht worden war, dass ein Eingreifen der Regierung gefordert wurde. Doch die diesbezüglichen Gesetze besaßen so viele Schlupflöcher, die bei einem gleichzeitig extrem langsamen Handeln der Verantwortlichen, kaum noch einen Schutz für den Verbraucher ergaben.

    Schon lange übertraf die Produktion von Allem den tatsächlichen Bedarf, und den der erforderlichen Reserven. Um den Verdienst der Produzenten zu gewährleisten, wurden die Überschüsse mit einem hohen Kostenaufwand gelagert. Oder sie wurden von einem Land ins nächste, immer hin und her befördert, bis sich die Spur der Herkunft im Nebel der zahllosen Fracht- und Lieferscheine verlor, und die gleiche Ware oft als ein Produkt aus dem Ausland in das eigene Land zurückkam. Genau so zahllos waren die, die nun daran noch mal verdient hatten.

    Auf der anderen Seite standen die Millionen der Hungernden und Verhungernden, denen die so reichlich Versorgten kaum etwas von den Überschüssen abgeben konnten, weil Systeme das verhinderten. Abgeben kostete mehr Geld als das teure Horten, und kam daher nur in unangemessen wenigen Fällen zum Tragen.

    Sie lehnten sich nicht dagegen auf, als diese Systeme längst überholt und zur schreienden Ungerechtigkeit geworden waren, und erwarteten beunruhigt – aber satt und zufrieden – dass die Armen ihren Zustand genauso gelassen hinnahmen, wie sie selber ihren zur Selbstverständlichkeit gewordenen, und manchmal auch als Last empfundenen, Überfluss hinnahmen.

    Der Überfluss bei einigen, und die sich immer weiter verbreitende Bevölkerung im allgemeinen, hinterließ Unmengen an Abfällen, die genau so gedanken- wie verantwortungslos entsorgt wurden, wie sie hergestellt worden waren. Abfälle mit Langzeitschäden für Natur und Bevölkerung, wurden von einem Land ins andere, von einem Staat in den nächsten gefahren, verschifft, und dann irgendwo abgeladen, stehengelassen, vergraben, versenkt. Bis dahin hatten wieder Unzählige daran verdient, Wissende den gesundheitsgefährdenden Boden als Bauland verkauft, Ahnungslose ihr Haus mit Gemüsegarten und Kinderspielplatz darauf errichtet, aus den Meeren und Flüssen die verseuchten Fische verzehrt.

    Kettenreaktionen wurden ausgelöst durch Erfindungen, die in ihrem gesamten Ausmaß nicht von Anfang an völlig erkennbar, und nicht bis in alle Konsequenzen durchschaubar waren. Wenn es erkannt und durchschaut wurde, dann wurde schon so viel Profit daraus gezogen, dass ein Verzicht darauf unmöglich erschien.

    Für alles gab es nur noch eine Lösung: Änderungen auf allen und auf den schnellsten Wegen, nur auf Rettung und nicht mehr auf Bequemlichkeit und Profit gerichtet. Doch Änderungen kosteten nicht nur Geld, sie erforderten ein völliges Umdenken, und die Bereitschaft eines jeden Einzelnen.

    Es wurden andere Lösungen vorgezogen: Weitermachen, Schäden vertuschen und wenn das nicht mehr ging, dann mit hastigen Entscheidungen und kopflosen Beschlüssen notdürftig reparieren, ohne den Schaden wirklich zu beheben, und ohne die wahre Ursache zu beseitigen. Weitermachen, in der Einbildung, dass es nicht so schlimm sein würde oder werden konnte, wie es einige verantwortungsbewusste Forscher und Wissenschaftler voraussagten, die mit Entsetzen in die Abgründe der Entwicklung geschaut und davor gewarnt hatten.

    Keiner wollte mehr auf etwas verzichten. Die Sorge galt in erster Linie dem Erhalt des eigenen Wohlstandes. An den Nächsten oder den Lebensraum aller wurde nur noch gedacht, wenn sich ein Bewußtwerden darüber weder vermeiden noch verhindern ließ.

    Das war das Krebsgeschwür, das sich auf alles und jedem ausbreitete und festgesetzt hatte. Ein Parasit, der verantwortungslos und immer gieriger werdend seinen Wirt auffrisst – blind dafür, dass er selber, ohne Wirt, der eigenen Vernichtung preisgegeben ist. So deutlich sichtbar, und dennoch nicht erkannt, setzte sich das Prinzip dieser körperlichen Erkrankung im Inneren fest, in den Gedanken und im Handeln. Nur das Herz war nicht davon zu treffen, dem Symbol der Liebe. Denn Liebe war weder besitzergreifend noch zerstörend, sie war gebend und nicht fordernd. Auch das war deutlich erkennbar, und keiner sah es mehr.

    Die schlimmste und folgenschwerste Entdeckung sämtlicher Forschungen war jedoch die Spaltbarkeit des Atomkerns. Die Nutzung dieser Kraft war die letzte Voraussetzung für die endgültige Vernichtung gewesen. Neugier, das bis dahin für unmöglich gehaltene verwirklichen zu können, dabei schneller als andere zu sein, das Bedürfnis nach Anerkennung, Ruhm … was auch immer die Forscher angetrieben hatte – sie hielten für einen Moment das Weiterbestehen eines ganzen Planeten in den Händen. Und sie waren sich über die Konsequenzen einer Nutzung dieser Kraft bewusst gewesen.

    Die erste Nutzung war nicht friedlich, war auch nie als friedlich geplant gewesen; ausgeführt mit einer Verantwortungslosigkeit, die man bestenfalls einem unwissenden Kleinkind zugestehen mag, das einen Stein auf seinen Spielkameraden wirft.

    Die Wirkung war unvorstellbar grauenhaft gewesen, sie sollte als Abschreckung dienen – und wurde zum heiß begehrtesten Objekt aller Zeiten. Selbst im friedlichen Sinn, als unbegrenzte Energiequelle genutzt, war diese Kraft todesschwanger, durch den unreifen, verantwortungslosen Umgang damit. Die Atomkraft als Rettungsanker für alle Energieprobleme bejubelt, wurde durch die nicht unschädlich zu machenden, und nicht loszuwerdenden Rückstände, das um den Hals gehängte Gewicht für den Untergang. Der einmal gerufene, und nicht mehr loszuwerdende Begleiter, der sich nicht vernichten ließ – weil er selber die Vernichtung war.

    Die Formung

    Legur nahm bedrückt die Blicke wahr, die sich nun auf ihn richteten. Als erste fasste sich Airam wieder. Ihre Stärke hatte ihn schon damals beeindruckt. In den ganzen vergangenen Inkarnationen war sie diejenige gewesen, die bis auf wenige Ausnahmen keinen friedlichen Tod erlebt hatte. Und sie war auch diejenige gewesen, die am Beginn der Lehre die meisten Fragen gestellt, und die größten Zweifel zu überwinden gehabt hatte.

    'Warum mussten wir all das noch mal sehen?', fragte sie, und sah Legur mit unverhüllter Skepsis an.

    'Damit ihr euch noch einmal über die Entwicklung bewusst werdet, die Edre zu dem gemacht hat, was es heute ist. Ich musste euch in die Tiefen der Erin ­nerung führen, damit der durch die Zeit verblasste Eindruck wieder lebendig wird, um zu begreifen …'

    'Du hast gesagt, dass unserem Gegenpol die Vernichtung droht', unterbrach ihn Samoht. 'Was hast du vor, um ihn zu retten?'

    'Wen werden wir schicken?', fragte Kaasi, die ein leichtes Zittern in ihrer Stimme kaum unterdrücken konnte.

    Legur schaute von einem zum anderen. Surtep und Haon schwiegen, während Nomis aus dem Fenster schaute.

    'Es ist an der Zeit, die Vorboten auf den Weg zu senden', antwortete Legur mit einem verständnisvollen Lächeln.

    'Ich denke, dass du im Moment keine weiteren Erklärungen darüber abgeben möchtest', stellte Surtep mit leiser Stimme fest. 'Ist die Situation auf unserem Gegenpol wie bei uns damals?'

    Legur schüttelte den Kopf. 'Die Situation ist weiter vorangeschritten. Für eine Zeitlang sah es sehr vielversprechend aus … einige hatten es geschafft, die Bevölkerung wachzurütteln. Und viele folgten ihnen in dem Bemühungen, zu retten was noch zu retten ist. Aber dann … sie verloren sich in Konzepten und Vorschriften, vieles stand auf dem Papier und verschwand bereits wieder, bevor es ausgeführt wurde.'

    'Du weißt, dass sie nicht mehr gerettet werden wollen wenn es so spät ist, weil sie die Gefahr immer weiter herabspielen, je größer sie wird?!', rief Airam aufgebracht. 'Eine Rettung ist nur durch eine 180 Grad Wende möglich, die bringt aber in den Augen des ICH`s nur Nachteile.'

    'Was ist die Auswirkung, wenn wir es nicht schaffen, wenn wir zu spät sind?' Haon sah zu Airam. 'Ich denke das ist die Frage, die wir uns alle stellen sollten.'

    Legur nickte. 'Das wäre auch das Ende von Edre. Wir befinden uns in einem seit ewigen Zeiten stattfindenden Wechselspiel, das von uns und unserem Gegenpol so lange fortgesetzt werden muss, bis eine durch nichts mehr zu erschütternde Stabilität für uns alle erreicht ist, und dieses Spiel sich auflösen kann. Wir nähern uns auf Edre dem Höhepunkt des friedlichen Miteinanders, während unser Gegenpol sich dem Tiefpunkt zuneigt. Wir müssen sie davor bewahren, sich gegenseitig endgültig zu vernichten. Ihr wisst, dass die Vernichtung durch eine Nuklearexplosion endgültig ist, weil nicht nur Gebäude und Leben zerstört werden, sondern alles … es bleibt nur noch das absolute Nichts übrig, und sie können nicht wiedergeboren werden.'

    'Sie müssen den Schlüssel zum ewigen Leben wiederfinden', stellte Kaasi fest. 'Das ist die einzige Versuchung, der niemand widerstehen kann. Seit Jahrtausenden sind die Völker auf der Suche danach. Sie haben so viel Mühe damit zu begreifen, dass sie ihn nicht suchen müssen, dass sie ihn seit Anbeginn ihrer Existenz in ihren eigenen Händen halten'.

    Jeder von ihnen dachte über das nach, was Kaasi ausgesprochen hatte. Im Laufe der vergangenen Zeit waren immer wieder Boten von ihrem Planeten zu ihrem Gegenpol gesandt worden, um das Bewusstsein über diesen Schlüssel wachzuhalten. Die letzten von ihnen waren als Vorboten vor etwa zweitausend Jahren dort angekommen. Sie hatten trotz der Liebe, die sie in sich trugen, und die sie den Menschen bringen sollten, nicht viel ausrichten können, um den Weg für Den zu bereiten, dessen Ankunft erwartet wurde. Als Er kam, wichen die Erwartungen, die die Menschen in Ihn gesetzt hatten, so völlig von dem ab, was Er ihnen übermitteln sollte. Als sie begriffen, dass er nicht derjenige ist, der sie an die Macht führen – sondern sie im Leben führen wür ­de – entledigten sich seiner in aller Eile, um ungehindert weitermachen zu können.

    Legur, der ihren Gedanken gefolgt war, spürte ihre Bedrückung, und teilte ihnen mit: 'Wir werden heute Nacht die Vorboten entstehen lassen, und sie mit der Hoffnung auf die Reise schicken, dass sie erfolgreich sein werden'.

    *

    Es war weit nach Mitternacht, als sie sich, von Angst und Hoffnung erfüllt, in ihre Zimmer begaben. Ihre Körper waren getrennt, doch durch Legurs spürbare Anwesenheit blieben sie im Bewusstsein miteinander vereint.

    In dieser spannungsgeladenen Nacht übergaben sie sich seiner Anleitung. Als sich ihre Wesen, losgelöst von der Angst des Scheiterns, befreit von dem berauschenden Gefühl der Hoffnung, vereinigten, stieg das Ergebnis in tausenden von glitzernden Lichtpunkten empor. Sie durchdrangen die Mauern der Zimmer wie übermütig spielende Kinder, für die es keine trennenden Mauern gibt, und tauchten die Zimmer in gleißende Helligkeit.

    Nachdem Beruhigung in diesen Schöpfungsprozess eintrat, und die Lichtpunkte sich zu festen Kernen materialisierten, umgab Legur sie mit seinem Schutz. Er formte aus dem Mantel seiner grenzenlosen Liebe die schützenden Kapseln, und projizierte das gemeinsame Wissen unter ihre Oberfläche, bevor die Kerne ihren Platz in den Kapseln einnahmen. Dann zog er sich zurück.

    Die restlichen Stunden bis zum Morgen verbrachten Samoth, Airam, Surtep, Kaasi, Nomis und Haon mit den Kernen, die ihnen wie ihre Kinder waren, und entließen sie dann mit den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne zu ihrem Ziel, dem Gegenpol, dessen Name Erde war.

    Das Ende der Reise

    Die Kapsel verringerte ihre Geschwindigkeit, und gab dem in ihr ruhenden Kern den Impuls zu erwachen. Eine leichte Anspannung breitete sich in ihm aus. Zu sehr war er mit der Kapsel verbunden, als dass ihm hätte entgehen können, dass irgend etwas nicht stimmte.

    Auf seine Frage übermittelte sie ihm mitfühlend: 'Der Kontakt zu den anderen Kapseln ist verloren gegangen. Die von diesem Planeten ausgehende negative, trennende Schwingung war stärker als erwartet.'

    'Hat das eine Auswirkung auf unsere … meine Aufgabe?'

    Die Antwort kam mit einer kurzen Verzögerung. 'Die Chancen, die Aufgabe zu erfüllen, wäre für euch alle unter diesen Voraussetzungen schon schwierig gewesen.'

    'Kannst du den Kontakt zu ihnen wieder herstellen?'

    'Ich werde es versuchen. Zu viele Menschen haben sich schon dem einen Pol zugewandt, der ihnen so vielversprechend zu sein scheint. Das Wechselspiel ist in Gefahr, du kennst die Bedeutung – alles hängt jetzt von dir ab.'

    'Die Verantwortung ist für mich alleine zu groß, ich fühle mich ihr nicht gewachsen …'

    'Sie wussten wie groß die Last der Verantwortung ist, darum hatte sie auch nicht einer alleine tragen sollen. Wenn du glaubst, dadurch der Aufgabe nicht gewachsen zu sein, dann kannst du die Umkehr für uns beide bestimmen. Sie haben jedem von euch die Möglichkeit dafür mitgegeben, weil immer die Entscheidungsfreiheit erhalten bleiben muss ... selbst wenn es um die Existenz al ­ler geht. Wie entscheidest du dich?'

    'Es schmerzt mich, dass ich überhaupt daran gedacht habe, aufgeben zu wollen. Ich werde es versuchen. Noch eine Frage …'

    'Ja', antwortete die Kapsel, und die Erleichterung in ihrer Schwingung blieb ihm nicht verborgen.

    ''Wie ist die Auswirkung auf mich, dass ich jetzt alleine bin?'

    'Das ist eine wichtige Frage. Ihr seid alle aus der Vereinigung entstanden, und hättet diese immer angestrebt. Nun bist du alleine, ohne Kontakt … vielleicht ändert sich das irgendwann. Auf der Erde wirst du nur noch selten die harmonischen Schwingungen des Eins–Seins vorfinden. Wäre der Kontakt zu den anderen Kernen noch da, hättet ihr dieses untereinander empfinden können, bis ihr in eure Aufgabe hineingewachsen wärt. Ohne dieses Gefühl kannst du nicht lange existieren. Ursprünglich war es vorgesehen, dass jede Kapsel ein sich in wirklicher Liebe vereinendes Paar ausfindig macht, wo ihr euch in dem Moment der Zeugung in dem neuen Lebewesen niedergelassen hättet. Dadurch wäre euch ein ganz natürlicher Lernprozess des Lebens ermöglicht worden, vom Kind bis zum Erwachsenen hin. Ihr Kerne hättet untereinander immer in Verbindung gestanden ...

    Jetzt werden wir diesen Prozess verkürzen müssen. Nach unserer Ankunft wirst du jemanden auswählen, einen Erwachsenen, mit dessen Äußerem du dich harmonisch identifizieren kannst … es muss deinem Inneren entsprechen. Danach wirst du dich auf die Suche nach deinem Gegenpol begeben, mit dem du zunächst zeitweise dieses Eins–Sein erleben kannst, bis dann die Vereinigung erfolgt. Vergiss nie, dass du das brauchst, um deine Energie aufrecht zu erhalten, und jede Disharmonie kostet dich Energie. Wir werden den Planeten bald erreicht haben. Ruhe jetzt, ich werde dich wecken, wenn die Zeit deines Lernens gekommen ist.'

    Langsam näherte sich die Kapsel der Erde. Für einen Augenblick lang gab sie sich ganz dem Anblick dieses wunderschönen blauen Planeten hin, und spürte die Verbundenheit mit dem, wo sie herkam.

    Riesige Weltmeere und Landmassen wurden erkennbar, Kontinente mit Gebirgen, Waldgebiete, Wüsten, Seen. Doch je tiefer sie schwebte, desto mehr wurde die trügerische Illusion deutlich. Dies war wirklich der Gegenpol von Edre, der sie mit einem Hauch der beginnenden Verwesung empfing.

    Durch die gewaltige Dunstglocke aus Schadstoffen erfasste die Kapsel den Grad der Zerstörung, den Verlust des Gleichgewichts, hier stimmte nichts mehr. Die Ausstrahlung der Bewohner untereinander, und mit der Natur, traf sie wie eine Dunkelheit, in die das Licht des Kerns nur noch mühsam würde vordringen können.

    Sie begann mit der Vorbereitung, und nahm die Sendungen der vielen Satellitenstationen in sich auf. Die Flut der Nachrichten über Kriege, Krisengebiete, Hass, Gewalt und Wahn überwältigten sie.

    Selbst die Sendungen, die der Unterhaltung dienen sollten, spiegelten in fast kontinuierlicher Konsequenz die trennende Wirkung wider – einen ewig währenden Kampf, der auf zwei Spielfeldern ausgetragen wurde. Mal gewannen die auf dem einem Spielfeld, mal die auf dem anderen. Doch es ging nur noch um den Sieg für den einen, und die Niederlage für den anderen; keine Freude mehr an dem, worum es in Wahrheit dabei ging – etwas Gemeinsames getan zu haben.

    Jeder verschloss sich immer mehr, und ließ den Anderen höchstens noch an sich heran kommen, aber kaum mal in sich hinein. Der Andere war automatisch zu einem Feind geworden, und das Zusammenleben zu einem Gegeneinander, nicht Miteinander.

    Eine tiefe Traurigkeit erfasste sie. Ihren Kern erwartete eine Welt der Maurer – jeder richtete künstliche Mauern auf, um sich herum, um andere herum, es gab kaum noch Öffnungsmöglichkeiten. Mit diesen Mauern, die sie schützen sollten, hatten sie sich selber eingemauert; den vermeintlichen Feind nicht ausgesperrt – sondern den wirklichen Feind, der in ihnen selber war, in sich eingesperrt.

    Musik besaß noch die stärkste positive Ausstrahlung, in Form einer vereinenden Kraft, welche die Menschen wenigstens einen Moment füreinander öffnete, und das Ich mit dem Du verband. Diese Ausstrahlung besaß auch noch eine andere Fähigkeit – sie konnte ein Ich und Du in eine Zeit zurückbringen, in der beide einmal miteinander verbunden gewesen waren, bevor das jahrelange Zusammenleben sie immer weiter voneinander entfernt hatte. Und sie konnten durch diese Erinnerung das Gewesene, das sie Trennende, überwinden und wieder zueinander finden.

    Aber auch hier gab es den Gegenpol – Musik, welche Aggressivität, Zerstörungswillen, Brutalität und Hass zu einem hoch auflodernden Feuer schürte. Mit Musik wurde die Stimmung und die Bereitschaft für einen Krieg erzeugt, in einen Krieg gezogen, ein Durchhaltewillen erzeugt, wenn dieser sich schon längst als Weg in den Selbstmord erwiesen hatte.

    Musik war keine Waffe, sie war ein Werkzeug, das jedem zur Verfügung stand. Es hing von dem eigenen Entscheiden ab, als was sie genutzt werden sollte oder benutzt wurde. Und dann konnte aus dem Werkzeug eine Waffe werden – wie aus jedem anderen Werkzeug auch, was einer Zweckentfremdung entsprach.

    Die Kapsel ließ sich jetzt treiben. Dies war ein Teil des Planes gewesen. Alle Kerne hatten willkürlich, durch die Strömungen der Luft, an irgendwelchen Orten auf der Erde ankommen sollen. Auch ohne Kontakt untereinander blieb der Plan bestehen.

    Ein Kontinent wurde erkennbar, ein Staat, die Landschaft, die Zerstörung des Gleichgewichtes in der Natur durch den Menschen; Flussläufe, große Städte, Häusermeere, kleinere Ortschaften, Straßennetze, Schienenstränge, Industrieanlagen, landwirtschaftliche Nutzflächen.

    Jetzt schwebte sie über der massenhaften Besiedlung, und der Ausstrahlung der Bewohner, die wie eine unsichtbare, schmutzige Glocke aus Disharmonie darüber hing.

    Für eine Zeitlang blieb sie in dieser Position, und speicherte die Informationen über den Lebensablauf dieser Menschen; ihr Verhalten in ganz alltäglichen Situationen, und den Ablauf des Zusammenlebens in allen Facetten. Die Wege der Bildung und der beruflichen Entwicklung, das Benutzen der technischen Errungenschaften, einfach alles, was der Kern später brauchen würde, um nicht durch ein fehlerhaftes Verhalten aufzufallen. Denn was würden die Menschen damit anfangen, wenn sie etwas entdecken, das es gar nicht geben konnte …?

    Danach schwebte die Kapsel weiter herab, entdeckte einen See in einer leicht hügeligen Landschaft, an dem zwei durch eine Schnellstraße miteinander verbundene Städte lagen.

    Die Landung

    Der Ort für die Ankunft war nun bestimmt. Für die Landung wählte die Kapsel einen sandigen, mit Kies vermischten Seitenstreifen aus, der einige Meter von der Straße entfernt lag, und passte ihre äußere Erscheinung der Umgebung an. Jetzt war sie nur noch ein Kiesel zwischen Millionen anderer Kiesel. Sofort begann sie mit der weiteren Vorbereitung. Sie suchte die Verbindung zu den Computern der Schulen, Bibliotheken, Universitäten, Funk- und Fernsehsendern. Dann war die Zeit gekommen, den Kern zu wecken.

    Von nun an bestanden die Tage aus unaufhörlichem Lernen, bis er mit dem Wissen, der Sprache und den Lebensgewohnheiten der Menschen umgehen konnte. Die aktuellen Nachrichten vom Weltgeschehen und wissenschaftlichen Sendungen der Fernsehanstalten, vermittelten ihm einen erschreckenden Blick auf das, was ihn erwartete.

    'Sind alle Menschen so?', fragte er verstört. 'Gibt es keine anderen? Wie soll ich hier existieren … hat denn keiner ein Wissen davon, dass es auch anders sein kann?'

    'Es gibt einige', beruhigte ihn die Kapsel, wenn auch zögernd. 'Doch sind davon wieder die wenigsten das, was sie vorgeben zu sein. Die meisten von ihnen erliegen irgendwann dem Gefühl der Macht, die sie damit ausüben können. Mit ihren Fähigkeiten helfen sie anderen, sie können heilen, doch selbst wenn sie Hilfe und Heilung geben, nähren die meisten damit nur ihr eigenes Ego.

    Sie glauben die Macht, die in diesem Wissen steckt, zu beherrschen, und mer ­ken nicht, dass sie sich in Wahrheit von der Macht beherrschen lassen. Doch wenn sie nicht mal ihr Ego beherrschen …

    Wer sich durch dieses Wissen und diese Fähigkeit bereichern will, wer es benutzt um andere zu manipulieren, zu verführen, um sie für sich zu gewinnen, ist kein wahrer Helfer und Heiler. Selbst ein aus den besten und ehrlichsten Gründen Manipulierender ist kein wahrer Helfer und Heiler, denn es ist nur die eigene Ungeduld, ein sich selbst gestecktes Ziel so schnell wie möglich erreichen zu wollen, das er mit dieser Manipulation befriedigt … der Zweck heiligt nicht die Mittel.'

    Einige Zeit später nahm der Kern die Information – Deine Ausbildung ist abgeschlossen – in sich auf.

    'Wird meine Beschaffenheit genau wie die eines Menschen sein?', fragte er besorgt.

    'Nicht ganz ... da ich nicht weiß, was mit den anderen Kernen ist, werde ich den Prozess verkürzen. Du wirst nicht in einem neugeborenen Lebewesen deine Existenz beginnen, und nur das äußere Bild eines Menschen sein. Du verfügst über keine inneren Organe, und um deinen Körper zu versorgen, brauchst du keine Nahrung aufzunehmen. Dennoch ist dir dieses möglich, um nicht aufzufallen. Du nimmst die Mahlzeiten, die du in bestimmten Situationen nicht vermeiden kannst, in dir auf, und kannst sie später entfernen.

    Gefühle die dir übermittelt werden, kannst du erkennen und auch wiedergeben, sie werden sich mit den in dir gespeicherten Informationen verbinden, sodass du entsprechend reagieren und handeln wirst. Ebenso werden Herzschlag und Lungentätigkeit wahrzunehmen sein, und sich deinen Empfindungen oder Tätigkeiten anpassen. Da du über keine Nervenbahnen verfügst, und deine Hülle unzerstörbar ist, solltest du in bestimmten Situationen Schmerzempfinden zeigen.'

    'Noch etwas, das ich beachten muss?'

    'Ja. Ich konnte nicht alles speichern, denn das war so nicht vorgesehen … jede Speicherung kostet Energie. Du kannst in riskanten Situationen ein imaginäres Bild hervorrufen, und es für eine befristete Zeit aufrecht halten. Aber das kostet Energie … wäge es also sorgsam ab, denn du musst eine Reserve behalten. Hast du noch Fragen?'

    Unsicher antwortete er: 'Weiß ich jetzt genug, um dieses Leben führen zu können?'

    'Es muss reichen. Alles was ich dir vermitteln konnte, ist Theorie. Es gibt vieles, was du selber erfahren musst, um es wirklich zu begreifen, und dazu gehört der Bereich der Emotionen. Du bist so auf Harmonie, auf das wechselnde Geben und Nehmen ausgerichtet, dass es nicht einfach für dich werden wird. Die stärksten Bereiche der Emotionen liegen in dem gegenseitigen Geben und Nehmen zwischen den Geschlechtern ... in der Liebe, der Sexualität, und im Hass und Neid. Dort liegt der Menschen größtes Schlachtfeld der Täuschungen und Selbsttäuschungen, der Enttäuschungen. Und dort ist dein Einsatz.'

    Als Abschluss beschränkte sich ihrer beider Tätigkeit darauf, die Informationen von der nächsten Umgebung zu sammeln und auszuwerten. Die Straße, welche die beiden Städte miteinander verband, wurde hauptsächlich in den frühen Morgen- und späten Nachmittagsstunden benutzt. Der Kern ordnete diese Art dieser Fortbewegung mehr dem Begriff des Klein- oder Bürgerkrieges zu, bei dem die Teilnehmer nicht davor zurückschreckten aufs Ganze zu gehen, und auch Guerillamethoden anzuwenden.

    In diesen Stunden standen einige Menschen, überwiegend männlicher und seltener weiblicher Art, am Straßenrand, und versuchten einen der vorbeifahrenden Wagen durch Handzeichen zum Anhalten zu bewegen. Die Bezeichnung für diese Art Menschen war sinnigerweise 'Anhalter'. Es gab sie in zwei Varianten – solche, die einfach nur ab und zu zwischen den beiden Städten hin- und herpendelten, und solche, die auf diese Weise durch das ganze Land reisten.

    Aufgrund des Landungsortes der Kapsel stand fest, dass der Kern am unauffälligsten in der Erscheinungsform eines solchen Anhalters sein Dasein auf der Erde beginnen konnte. Die letzte Vorbereitung bestand darin, dass der Kern sich mit den Gedanken einzelner Lebewesen vertraut machte. Die größte Auswahl boten die Insassen in den auf der Schnellstraße vorbeifahrenden Wagen.

    Viele von ihnen befuhren diese Strecke zwischen den beiden Städten zweimal am Tag, jeweils morgens – fast alle zur gleichen Zeit, und dann am späten Nachmittag bis zum Abend.

    Die Gedanken am Morgen waren bei ihnen beinahe identisch: Pünktlich zur Arbeit zu kommen; Hektik und Stress waren deutlich spürbar, da viele zu spät von ihrem Zuhause losgefahren waren; Zweifel, ob die Haustür wirklich abgeschlossen, oder die Kaffeemaschine ausgeschaltet worden war; Ungeduld, bis hin zu Flüchen und Verwünschungen gegenüber den anderen Verkehrsteilnehmern; selten angenehme, meist unangenehme Gedanken über den bevorstehenden Arbeitstag.

    Am Nachmittag oder Abend, auf dem Weg zurück, zeigte sich nicht viel Unterschied zu den Gedanken am Morgen, doch kamen hier neue Stresssymptome hinzu, die sich mit der zu erwartenden Situation zu Hause verbanden.

    Unauffällig nahm er an diesen Gedanken teil, bis ihn nach einigen Tagen eine Person zu interessieren begann. Er lotete ihre Schwingungen aus und empfand etwas, von dem er sich angezogen fühlte.

    Die Wahl

    Die Kapsel registrierte eine leichte Nervosität und Erwartungshaltung im Kern. Seine Wahl, auch wenn ihm noch nicht bewusst war, dass er eine getroffen hatte, war nicht negativ, wenn auch kompliziert – sie würde seine Geduld erfordern.

    Der Kern nahm auf, dass die Gedanken dieser Person weitschweifig waren, jedoch immer wieder auf einen Punkt hinaus liefen: Sie stellte den Sinn des Lebens allgemein – sowie den ihres bisherigen – in Frage. Sie stand kurz davor, in ihrem Leben eine Veränderung herbeizuführen, war sich jedoch nicht bewusst darüber, dass ihre noch in viele Richtungen strebenden Gedanken darauf hinauslaufen würden.

    Mit wechselnden, bisweilen sich vollkommen widersprechenden Gefühlen, tauchte bei ihr immer wieder ein Name auf. Sie steckte in einer Krise des Zusammenlebens mit jemandem; fühlte das Fehlen von etwas, ohne zu wissen was es war, und schob gerne alle Gedanken daran beiseite, wenn sie merkte, dass aus all ihren Überlegungen und Abwägungen Konsequenzen gezogen werden müssten.

    'Ich könnte sie dazu bewegen, ihre Gedanken nicht immer dann abzubrechen, wenn sie auf den Punkt ihrer Probleme stößt.' Es war mehr eine Feststellung als eine Frage gewesen, die er der Kapsel übermittelte.

    'Das liegt in deinem Ermessen', gab sie ihm zu verstehen. 'Doch bedenke, dass die Grenze zwischen Bewegen und Manipulieren sehr fließend ist. Und du bist noch nicht darin geübt, diese unsichtbare Grenze gleich zu erkennen.

    Die Trennung dieser Person von der, mit der sie zu dieser Zeit gemeinsam lebt, ist vorgegeben. Das bedeutet, dass du mit einem Eingreifen nicht etwas auseinander bringen würdest, das zusammen gehört. Aber du könntest sie dazu bewegen, etwas schneller zu beenden, als sie es von sich heraus tun würde – und ihr damit notwendige Erfahrungen nehmen. Sei vorsichtig im Umgang mit deinen telepathischen Kräften. Für die Bewohner von der Erde besitzt die Telepathie nicht die Selbstverständlichkeit wie auf Edre. Du kannst damit ihren Verstand zerstören, wenn sie fühlen, dass ihre so sorgfältig aufgerichteten Mauern plötzlich von innen heraus angegriffen werden.'

    'Ich werde es berücksichtigen', entgegnete er nachdenklich.

    In den folgenden Tagen konzentrierte er sich weiter auf diese Person, wenn sie die Straße befuhr. Er beschränkte sich auf diese Zeit, und beendete die Verbindung immer, wenn sie die Straße wieder verließ.

    Behutsam regte er sie in dieser kurzen Zeitspanne zum Weiterdenken an, wenn sie ihren Gedankenfluss abbrechen wollte, weil sie nicht die Konsequenzen daraus sehen mochte. Ab und zu nahm er auf, dass sie seine Existenz als das Eindringen von etwas Unbekanntem spürte, und darauf mit einem Befremden reagierte. In solchen Momenten zog er sich sofort zurück.

    Die Kapsel, die über ihn wachte, beobachtete seine Bemühungen mit zunehmender Besorgnis. Das sich Zurückziehen-Müssen von dieser Person verursachte in dem Kern mehr und mehr eine schmerzliche Empfindung.

    'Du hast dich entschlossen, mit dieser Person zu versuchen, deine Aufgabe zu erfüllen?'

    'Ja … ich bin mir sicher. Hast du Bedenken...?'

    'Es ist deine Wahl, und sie ist gut – wenn du die Geduld aufbringst, die du mit ihr haben werden musst. Damit ist die Zeit deiner Neutralität beendet. Du hast dich für diese Person entschieden, die den weiblichen Pol verkörpert, und damit deinen als männlichen Gegenpol bestimmt. Hätte sie die Veranlagung gehabt, sich von einem ebenfalls weiblichen Pol angezogen zu fühlen, hätte ich ablehnen müssen.

    Diese Ablehnung beträfe nur dich, nicht das Prinzip von gleichem und gleichem Pol. Denn du hast die Aufgabe die Gegenpole zu vereinen, um neue Kerne entstehen lassen zu können. Zwei gleiche Pole können miteinander verschmelzen, das Ergebnis ist ein Sich – Öffnen für das Einswerden mit dem anderen, und das ist nicht weniger wertvoll, denn was hat einen größeren Wert, als Liebe zu geben und Liebe zu empfangen.'

    Die Kapsel lieferte dem Kern die Aussicht auf die Straße, und er beobachtete aufmerksam die Anhalter, von denen er einen als Bild für sein Aussehen wählen würde. Viele Möglichkeiten, sein Inneres im Äußeren sichtbar werden zu lassen, boten sich ihm nicht, wie er resigniert feststellte. Die Anhalter waren sich in ihrem Aussehen sehr ähnlich – sie verkörperten betont den männlichen Pol, mit dem dominierenden Anspruch auf Durchsetzung, Härte, Unnachgiebigkeit. Die Eigenschaften des weiblichen Pols, Nachgiebigkeit, und die Fähigkeit zur Hingabe, waren wenn – dann nur noch verkümmert in ihnen vorhanden, und wurden als Schwäche ausgelegt.

    Seine Abneigung, in einer solchen Hülle zu sein, war sehr groß. Doch andererseits war ihm bewusst, dass er keine aufschlussreichen Informationen darüber besaß, wie die Auffassung der Frau darüber war, die er gewählt hatte.

    Die Kapsel half ihm. 'Sie neigt dazu, einer sichtbaren männlichen Stärke den Vorzug zu geben, ohne jedoch wirklich männliche Härte und Durchsetzungskraft zu fordern. Diese Vorstellung entspricht ihrem jetzigen Zustand, und beruht bei ihr darauf, dass sie sich selber noch nicht stark genug fühlt, und deswegen Stärke sehen und um sich haben möchte, um ihr eigenes Defizit auf diese Weise auszugleichen. Noch unbewusst spürt sie, dass sie diese Stärke selber in sich trägt, sodass sie nicht bei einem Mann danach fordern wird. Hilft dir diese Information weiter?'

    'Ja … ich glaube es zumindest.' 'Möchtest du sie sehen?'

    'Nein', antwortete er nach einer kurzen Überlegung. 'Ich weiß wie sie ist, das reicht mir.'

    Er war fast so weit den Versuch, eine geeignete Person für seine Formung zu finden, abzubrechen, als ein weiterer Anhalter ankam. Interessiert nahm er dessen Aussehen wahr – er war jung; Figur groß, schlank, nicht übertrieben muskulös; lange blonde, im Nacken zusammengebundene Haare; das Gesicht schmal, leicht gebräunt; Augen groß, in einem klaren blau, von einem dunklen Wimpernkranz umgeben; der Mund schmal, wie zu einem Lächeln verzogen. Am besten gefiel ihm der Gesichtsausdruck – sensibel, und von einer entwaffnenden Offenheit.

    'Das ist er', teilte er der Kapsel freudig, und auch erleichtert mit. 'Es ist deine Entscheidung', kam die zögernde Antwort.

    Irritiert fragte er: 'Ist meine Wahl nicht in Ordnung …?'

    'Darauf kann ich dir nicht mit einem einfachen Ja oder Nein antworten …'

    'Aber du hast Einwände … siehst du etwas, das ich nicht erkenne?'

    'Es sind zwei wesentliche Punkte, die für dich zu Schwierigkeiten führen können. Sieh' ihn dir genau an … sein Äußeres, es erweckt das Bedürfnis Zunei ­gung zu geben. Er ist nicht der typische Mann, Frauen entdecken in ihm einen Teil von sich, und fühlen sich dadurch von ihm angezogen. Junge Frauen, ältere, Mädchen, es gibt keine Grenze, jede sieht in ihm die Erfüllung ihrer Wünsche. Bei Frauen löst er, durch sein sensibles und unschuldiges Aussehen, eine Art Beschützerinstinkt aus, der aber schon bald damit kollidiert, dass sie sich gleichzeitig sexuell zu ihm hingezogen fühlen.

    Männer stehen ihm skeptisch gegenüber, weil sie ebenfalls nicht das typisch Männliche an ihm sehen, und darum können sie sich nicht mit ihm identifizieren. Und dann gibt es Männer, die sich gerade davon angezogen fühlen, sie finden sich in ihm wieder. Was liegt da näher, als dass sie sich mit ihm verei ­nen wollen.

    Nimmst du dieses Aussehen an, wirst du viele Menschen anziehen, was für deine Aufgabe von Vorteil sein wird. Aber gleichzeitig wirst du dagegen ankämpfen müssen, dass sie mehr von dir wollen … dass sie dich haben wollen. Diejenigen, die sich zu dir hingezogen fühlen, wollen deine Zuneigung, und die Vereinigung auf ihrer Ebene mit dir. Und wenn du dieses Bedürfnis nicht erfüllst, wenn du eine Nähe zulässt, die nach mehr verlangt, und dich dann zurückziehst, wirst du Enttäuschung bis hin zu Hass ernten. Bleibst du bei deiner Wahl?'

    'Ja, ich denke, dass ich mit genügend Aufmerksamkeit dieses Risiko eingehen kann … das Ganze ist doch sowieso zu einem Risiko geworden, nachdem die anderen verloren gingen, und ich alleine bin.'

    'Noch etwas – wichtig ist, dass du dir eine sichere Identität verschaffst. Nach der Formung hast du zunächst auch die Ausweispapiere dieses Anhalters … es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme. Ihr teilt euch praktisch eine Identität, doch so schnell wie möglich musst du dir eine eigene verschaffen, und auch dein Aussehen etwas verändern. Du brauchst einen Namen, Eltern, du musst deine Geburt, Wohnort, Schulbesuche, und so weiter nachweisen. Über einen Computer hast du Zugangsmöglichkeiten zu den entsprechenden Stellen, um deine Daten in bestehende Listen einzufügen.

    Such dir als Geburtsort ein sozial schwaches Viertel in einer Großstadt aus, dort werden eventuelle Nachforschungen ergebnislos verlaufen. Deine Eltern sind verstorben, du hast Gelegenheitsjobs angenommen. Deine Spur muss so wenig wie möglich verfolgbar sein.'

    'Ich werde mich danach richten. Du kannst mit der Formung beginnen. Wirst du es noch bis zu der Zeit schaffen, wo Sie hier vorbei fährt?'

    'Es wird möglich sein.'

    Die Kapsel hatte schon zu Anfang den Gedanken des Anhalters entnommen, dass er keiner der Pendler war, die immer mal wieder in Abständen diese Strecke nutzten. Er befasste sich mit einem weit entfernt gelegenen Ziel. Somit war die Möglichkeit einer Begegnung, zumindest vorerst, ausgeschlossen. Jetzt tastete sie die Form des Anhalters ab, nahm alle Informationen über seine Erscheinung in sich auf und projizierte sie unter ihrer Oberfläche. Dann übermittelte sie dem Kern:

    'Ich bin bereit. Hast du noch eine letzte Frage?'

    'Ich bin auch bereit … was wird aus dir, wenn ich meine Form bekommen habe?'

    'Ich bin deine Form, und damit erlischt meine bisherige Funktion vorerst. Du wirst als Kern auf der Stirn deiner menschlichen Form sein. Du hast ge ­nügend Informationen in dir, um dein Dasein auf der Erde beginnen zu können. Auf mich hast du nur noch Zugriffsmöglichkeit, wenn du dringend eine Information brauchst, du kannst sie unter dem jeweiligen Wort abfragen. Es wird keine Besprechungen mehr zwischen uns geben, wie du es bisher gewohnt warst. Doch es gibt ein Notprogramm, das du aber nur aktivieren darfst, wenn du einen so hohen Energieverlust erlitten hast, dass deine Existenz auf dem Spiel steht.

    Du kannst aus jedem Gefühl des Eins–Seins mit deinem Gegenpol Energie aufbauen. Doch du musst vorsichtig sein, damit sie es nicht sieht, denn du wirst dann aufleuchten, und darüber wird sie erschrecken. Dein Gegenpol wird dich zu Anfang Energie kosten, denn jedes Gefühl von Nicht–Eins–Sein führt zu einem Verbrauch deiner Energie, mit der du dein Inneres Gleichgewicht halten musst.

    Ich brauche meine Energie jetzt, um dir deine Form zu geben, und diese aufrecht zu erhalten. Hier auf der Erde wünscht man sich Glück für einen Neuanfang, also – viel Glück für dich bei deiner Aufgabe … und mit deinem Gegenpol. Emotionen sind nicht nur negativ, sie können durchaus einen Reiz haben. Wenn ihr beide in eure Rolle hineingewachsen seid, wirst du es feststellen.'

    Die Kapsel war besorgt, und musste das vor ihrem Kern verbergen. Konnte alles noch so laufen, wie es geplant gewesen war? Ihm hatte die Zeit gefehlt, um in sein Leben hier von einer Geburt an hineinwachsen zu können. Er wurde in das Alter eines gerade erwachsen Gewordenen hinein katapultiert, und war doch ein absoluter Anfänger. Alle Vorbereitungen waren Theorie gewesen, die Praxis fehlte ihm. Aber sie musste ihn nun gehen lassen.

    Er wurde von dem ihm unbekannten Gefühl des Trennungsschmerzes erfasst. Dem folgte eine Spannung, die ihm ebenfalls fremd, aber nicht unangenehm war, als die eiförmige Kapsel mit ihrer dehnbaren Hülle wuchs, bis sie die Größe eines Straußeneis erreicht hatte. Dann formte sie aus sich den Körper des Anhalters, projizierte sein Aussehen unter ihre Hülle, wuchs auf dessen Größe, während sie die Kleidung materialisierte, und als letztes die Reisetasche, einschließlich des Inhalts. Jetzt entsprach sie exakt dem Bild des Anhalters, bis auf einen kleinen Unterschied: Auf der Stirn, zwischen den Augen, war ein kleiner, glitzernder Punkt – der Kern, geschützt unter der unzerstörbaren Beschaffenheit der Kapselhülle.

    Die Zeit, wo sein Gegenpol diese Straße befahren würde, war nahe. Vorsichtig begann er, den ihm fremden Körper zu benutzen, und lief ein paar Schritte auf und ab. Noch waren seine Bewegungen nicht ganz fließend, und er schwankte leicht, aber für den Anfang reichte es. Dann bückte er sich, hob seine Reisetasche auf, und machte ein paar Übungen, seine Gedanken akustisch wiederzugeben. Was dabei herauskam gefiel ihm, die Stimme hatte einen leicht nasalen Klang. Aus der Ferne betrachtete er noch einmal den Anhalter. Seine Wahl war gut gewesen, mit dessen Aussehen konnte er sich identifizieren.

    Mit jedem Meter, den er nun zurücklegte, ließ das Schwanken nach, und seine Bewegungen wurden fließender. Nachdem er etwa einen knappen Kilometer hinter sich gelassen hatte, blieb er hinter einer Kurve, die um einen Hügel herumführte, stehen. Die Entfernung zu den Anhaltern würde ausreichen.

    Neugierig öffnete er die Reisetasche. Viel enthielt sie nicht, eine verwaschene Jeans, ähnlich der, die er jetzt trug; einige T-Shirts, Unterwäsche, Socken; eine angebrochene Tafel Schokolade, einen Apfel und eine Banane; eine reichlich oft benutzte, zerfledderte Landkarte. Das war alles.

    In der Brusttasche der ausgeblichenen Jeansjacke steckte ein zerknittertes Päckchen Zigaretten, in der anderen eine Brieftasche, die älter aussah als sie sein konnte. Interessiert entnahm er daraus einen Pass und einen Führerschein. Die Fotos wiesen einen großen Unterschied zu dem jetzigen Aussehen des Anhalters auf – die Haare waren kurz und dunkler. Irritiert fuhr er sich mit der Hand durch die langen, zusammengebundenen Haare. Anhand eines Visastempels sah er, dass der Anhalter vor kurzem drei Monate in Ägypten und Israel verbracht hatte. Daher kam also seine gebräunte Haut, und die Haare waren von der Sonne ausgebleicht worden. Das Datum im Pass zeigte, dass das Foto etwa zwei Jahre alt war, sein Name war Philipp Cramer, am 7. Juli 1964 geboren, also würde er bald fünfundzwanzig Jahre alt sein. Das Alter … irritiert wurde ihm bewusst, dass das eine Rolle spielen könnte … er hatte keine Ahnung, wie alt sein Gegenpol ist. Er besaß etwas Geld, allerdings so wenig, dass er sich bald darum kümmern musste, dieses zu vermehren, um überhaupt ein Dasein beginnen zu können.

    Plötzlich hob er den Kopf, als ob ihn etwas berührt hätte. Sein Gegenpol würde sich gleich auf den Weg von der Arbeit nach Hause begeben. Er steckte die Brieftasche zurück, und begann sich auf die Frau zu konzentrieren, die er noch nie gesehen hatte.

    * * *

    KAPITEL 2

    Die Begegnung

    Mai 1989

    »Schönes Wochenende, Annie.«

    Sie schaute kurz auf, lächelte ihren Chef an, und antwortete zerstreut:

    »Danke, dir auch, Jan«, während sie die restlichen Unterlagen vom Schreibtisch räumte, und die Schubladen verschloss. Dann huschten ihre Augen weiter nervös über die jetzt leere Fläche, auf der Suche nach den Wagenschlüsseln.

    Annie merkte, dass Jan noch immer in der offenen Tür zu ihrem Büro stand. Das unangenehme Gefühl, dass er ihr noch etwas sagen wollte und nur nicht wusste, wie er beginnen konnte, überkam sie.

    »Na dann bis Montag.« Nachdenklich verließ er das Büro. Annie zählte zu seinen zuverlässigsten Mitarbeitern. Ihre Ruhe und Ausgeglichenheit hatte in all den Jahren zu einer angenehmen Zusammenarbeit geführt. Gerade darum war ihm ihre Zerstreutheit in der letzten Zeit aufgefallen, und er fragte sich, worin die Ursache dafür liegen mochte. Vielleicht hatte sie Probleme … sollte er sie vorsichtig darauf ansprechen? Aber so lange die Arbeit nicht darunter litt, würde der Anfang eines solchen Gespräches, trotz aller Freundschaft, nicht einfach sein.

    »Verflixt, ich hatte die Schlüssel doch noch eben in der Hand!« Nervös strich sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn.

    »Annie? Bist du endlich fertig? Es ist schon nach Zwölf.«

    »Was? … ja gleich«, antwortete sie geistesabwesend ihrer Arbeitskollegin, die gerade in ihr Büro rauschte. Die Schlüssel hatte sie noch immer nicht gefunden.

    »Habt ihr am Wochenende schon etwas vor?«, fragte Christel, jetzt etwas lauter.

    »Am Wochenende … nein … nein, ich glaube nicht … ach, da sind sie ja.« Erleichtert griff sie nach den Schlüsseln, die ganz offen neben dem Telefon lagen. Dann nahm sie ihre Jacke von der Stuhllehne.

    »Habt ihr Lust, morgen Abend irgendwo hinzugehen? Ich hab Joe noch nicht gefragt … aber ich habe so richtig Lust, wieder mal etwas zu unternehmen.« Erwartungsvoll schaute Christel sie an und fuhr dann nach einer kleinen Pause fort: »Du kannst ja Tom fragen, und mich dann anrufen, ja?«

    »Mm, werd ich machen«, antwortete sie zurückhaltend, und blieb unschlüssig zwischen Schreibtisch und Tür stehen.

    »Annie … stimmt etwas nicht? Ich meine, wenn du keine Lust hast... du brauchst es nur zu sagen.«

    »Doch, doch, es ist alles in Ordnung … es ist nur ...«, hilflos brach sie ab, von der unsinnigen Hoffnung erfüllt, dass Christel jetzt einfach verschwinden würde.

    »Komm, lass uns gehen, ich will hier raus, ich will nach Hause«.

    »Ja, ich auch«, antwortete Christel, und gab endlich die Tür frei.

    Auf dem Weg zum Parkplatz dachte sie darüber nach. Einerseits hatte sie nicht die geringste Begeisterung bei diesem Vorschlag verspürt, und andererseits mochte sie nicht direkt schon wieder Nein sagen. Dafür waren sie zu lange befreundet, und sie hatte in der letzten Zeit schon einige Einladungen unter irgendeinem Vorwand abgelehnt. Es lag ja auch nicht an Christel oder Joe, dass sie keine Lust hatte, sondern einfach daran, dass es immer das gleiche war – sie gingen zusammen Essen, und unterhielten sich ein bisschen. Anschließend suchten sie eine Disco auf, bis dann Stunden später einer von ihnen sagte – 'du meine Güte, ist das aber wieder spät geworden', und alle wieder nach Hause fuhren. Manchmal waren diese Abende auch lustig gewesen. Sie wusste nicht wie sie das, was sie empfand, nennen konnte. Schluss! Sie wollte auch nicht länger darüber nachdenken.

    »Wenn du Probleme hast, Annie, du weißt doch, ich helfe gerne. Du kannst mit mir über alles reden. Stimmt mit Tom etwas nicht?«

    Sie hatte es geahnt. Und sie hasste diese aufdringliche Hilfsbereitschaft, auch wenn es von Christel gut gemeint war. Aber dahinter zeigte sich nur allzu deutlich die Neugier, und das Bedürfnis Ratschläge zu erteilen, die sie so zahlreich wie wahllos aus allen möglichen Boulevardblättern und Fernsehsendungen entnahm.

    »Wir beide könnten auch alleine essen gehen, ohne Joe und Tom, und dann … ich meine, du bist in der letzten Zeit nicht besonders gut drauf. Das ist uns allen hier schon aufgefallen.«

    »Was ist allen schon aufgefallen!«, wiederholte Annie aufgebracht, und erinnerte sich an den Blick von Jan.

    »Siehst du, du hast Probleme! Hab' ich doch richtig vermutet – mit Tom?«

    »Nein, wie kommst du darauf?! Es ist alles in Ordnung zwischen uns, das kannst du mir glauben.«

    »Nun, ich habe schon seit langem das Gefühl, dass eure Beziehung eine recht einseitige Sache ist. Du investierst viel zu viel, ohne dass von ihm auch mal was zurückkommt.«

    »Ach Christel, ich ...«, ihre Stimme schwankte in einem Tonfall zwischen Alarmierung und Aufgeben. Der Weg zum Parkplatz war ihr noch nie so lang wie jetzt vorgekommen.

    »Nein, nein, ich weiß schon, was du jetzt sagen willst, Annie. Aber du kannst mir doch nicht weismachen, dass du in deinem Innersten nicht doch manchmal auf eine Gegenleistung wartest! Wenigstens mal ab und zu ein Blumenstrauß … Joe schenkt mir jedes Wochenende einen. Ich hab ihn mal gefragt, warum er das macht, und weißt du, was er mir geantwortet hat? – weil er gerne mit mir zusammen ist. Wenn ich mich richtig erinnere, hast du an deinem letzten Geburtstag nicht mal einen Strauß von Tom bekommen. Wie war das noch … er war von einer Geschäftsreise zurückgekommen, und es war einfach zu spät gewesen, um noch in den Blumenladen in der Stadt zu gehen?! Als ob das eine Entschuldigung wäre. Unterwegs gab es doch auch Geschäfte! Den Strauß solltest du dann später noch bekommen – hast du aber nicht. Weißt du, was das ist?«

    Annie schüttelte verzweifelt den Kopf, sie wusste es, wollte es aber nicht auch noch hören.

    »Auch wenn du es nicht hören willst – das ist ganz einfach nichts weiter als Gleichgültigkeit!«

    Nach einer gefühlten Ewigkeit standen sie vor Annies Wagen

    »Können wir das Thema nicht fallen lassen, Christel? Ich habe … Kopfschmerzen. Und ich will einfach nicht ...«, nervös nagte sie an ihrer Unterlippe. Die Richtung, die das Gespräch genommen hatte, gefiel ihr nicht. Es ähnelte zu sehr ihren eigenen Gedanken, doch die konnte sie immer unterbrechen … jedenfalls fast immer.

    »Glaub mir, Annie, das sind deine Probleme, und wenn du jetzt Kopfschmerzen hast, kommen die auch davon. Hat Tom eine Andere?«

    »Nein! Wie kommst du denn auf so was?! Bei uns ist alles in Ordnung, und Tom hat auch keine andere. Bist du nun zufrieden?«

    Christel schmollte, doch dann setzte sie nach. »Dann hast du vielleicht jemanden kennengelernt und bist darum so zerstreut. Mein Gott, darauf hätte ich auch eher kommen können. Nun erzähl schon ...«

    Als Annie ihr einen völlig entgeisterten Blick zuwarf, reagierte sie beleidigt. »Ach, nun komm schon, hab dich nicht so. Vor mir brauchst du doch keine Geheimnisse zu haben. Du weißt doch, dass ich über so etwas wie ein Grab schweige. Und zu verdenken wärs dir auch nicht, wo du so wenig Echo von Tom bekommst.«

    Annie verzog ihr Gesicht zu einem schiefen Grinsen. Ausgerechnet Christel und Schweigen wie ein Grab – so lange keiner drin lag, vielleicht. »Ich weiß wirklich nicht, was du willst. Ich habe auch niemanden kennengelernt. Ich fühle mich nur einfach nicht besonders in der letzten Zeit, das ist alles.«

    Sie standen nun vor Annies Wagen, und sie öffnete die Tür. Endlich gab Christel auf und sagte: »Na gut … vielleicht sind das ja auch Hormonstörungen. Rufst du mich dann wegen morgen Abend an?«

    Annie versprach es und ließ sich erschöpft auf den Fahrersitz fallen. Irgendetwas stimmte tatsächlich nicht mit ihr, das stand fest. Fröstelnd zog sie die Schultern hoch. Es war kühl im Schatten der großen Kastanie, unter der sie das Cabriolet geparkt hatte, obwohl die Luft schon richtig warm war.

    Hinter ihr hupte es kurz. Erschrocken zuckte sie zusammen und hob dann automatisch

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