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Überrannt
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eBook482 Seiten6 Stunden

Überrannt

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Über dieses E-Book

Es beginnt in Schweden und breitet sich von dort über die ganze Welt aus. Das große Sterben. Menschen fallen ohne ersichtlichen Grund tot um. Die Experten sind ratlos und vermuten zunächst den Ausbruch einer viralen Pandemie. Doch sie sind nicht in der Lage, einen Erreger zu identifizieren. Da macht Major Albin Nielsen von der schwedischen Armee eine seltsame Entdeckung. Ein blinder Mann ist von dem seltsamen Sterben ebenso verschont geblieben, wie ein schreiendes Neugeborenes. Mysteriös wird es, als die deutsche Wissenschaftsjournalistin Ariane Hellenberg und ihre schwedische Freundin Ella Degerlund ebenfalls Opfer der neuen Krankheit werden - und überleben. Während Ariane das Erlebnis unbeschadet übersteht, mutiert Ella jedoch. Zum ersten Mal keimt der Verdacht, dass die Pandemie außerirdischer Herkunft ist. In Sundsvall errichten die Überlebenden eine Militärbasis und gründen die Joint Defense Initiative, um einer möglichen Alieninvasion zu begegnen. Aber zu diesem Zeitpunkt scheint jedes Handeln bereits zu spät, denn der unsichtbare Gegner hat die Erde sprichwörtlich ... ÜBERRANNT.
SpracheDeutsch
HerausgeberAtlantis Verlag
Erscheinungsdatum28. Feb. 2022
ISBN9783864028281
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    Buchvorschau

    Überrannt - Martin Kay

    Prolog

    Beginn

    Der Tag, den Vincent Degerlund mit Faulenzen nutzte, markierte das Ende der Menschheit. Die meisten Menschen verbrachten zu viel Zeit in der Vergangenheit. Im Gestern. Ihnen fehlte der Mut und die Zuversicht, nach vorn zu blicken. Dabei vergaßen sie oft, sich im Jetzt aufzuhalten und das zu tun, wozu sie auf Erden waren: zu leben.

    Einfach zu leben. Den Tag zu genießen. Jedem Tag die Chance zu geben, der schönste zu werden. Das war Vincent Degerlunds Maxime und Devise. Er hatte oft genug miterlebt, was geschah, wenn man der Vergangenheit nachhing. Das Leben stagnierte. Statt zu sich weiterzuentwickeln, stapfte man auf der Stelle. Daraus ergab sich oft eine Unzufriedenheit mit sich selbst und dem Rest der Welt. Und diejenigen, die mit sich selbst im Argen lagen, zogen meist ihre Mitmenschen noch mit hinein. Tagein, tagaus hatten sie nichts Besseres zu tun, sich über alles zu beschweren, und gewannen noch Sympathien und Zustimmung für ihre Meinung.

    Vincent Degerlund lächelte, als er daran dachte, dass er dies alles hinter sich gelassen hatte. Er konzentrierte sich auf das, was er erlebte und erleben wollte. Er lenkte seine Gedanken und Wünsche in die richtigen Bahnen und bekam dafür vom Leben das geschenkt, was er wollte: Glück und Freude.

    Ja, er war ein glücklicher Mann geworden, seit er aufgehört hatte, in der Vergangenheit zu leben. Er hatte eine wunderschöne Frau, zwei prächtige Söhne, erfreute sich bester Gesundheit und war als freischaffender Berater von börsenorientierten Unternehmen finanziell unabhängig. Letzterer Punkt ermöglichte es ihm und seiner Familie, des Öfteren eine Auszeit zu nehmen. Wenn Geld keine große Rolle spielte, war man frei genug, einfach mal seine Sachen zu packen und übers Wochenende wegzufahren.

    So wie an diesem verlängerten Osterwochenende. Sie hatten Glück mit dem Wetter. Die Temperaturen lagen zwar um die zehn Grad, doch der Himmel war wolkenlos und sonnig.

    Die Jungs tollten am Ufer im Gras und warfen Steine ins Wasser, während Mia den Picknickkorb auspackte und Vincent immer wieder einen ihrer strahlenden Blicke zuwarf. Sie war genauso glücklich wie er. Das sah er. Er spürte es.

    Es war perfekt.

    Vincent war heute Morgen in aller Früh mit seiner Familie von Luleå nach Boden aufgebrochen und hatte einen schönen Platz am Ufer des Buddbyträsket gefunden, noch bevor andere Osterurlauber auf die gleiche Idee kamen. Am späten Vormittag begann sich das Grasufer zu füllen. Keine zwanzig Meter von ihrem Picknickplatz entfernt hatte sich eine Gruppe junger Leute niedergelassen, die Drachen steigen ließen.

    »Ist dir nicht kalt?«, fragte Mia und riss Vincent aus den Gedanken.

    Er sah sie an und wollte den Kopf schütteln, doch dann überlegte er, ob ein Vorwurf in ihrer Stimme lag. Immerhin rekelte er sich auf der ausgebreiteten Decke und faulenzte, während seine Frau die Arbeit machte.

    »Möchtest du eine Jacke?« Er sah, wie Mia den Kragen ihrer Strickjacke hochgezogen hatte. Im Wagen hatten sie noch Windjacken. Vielleicht war es besser, sie zu holen.

    »Du bist ein Schatz.« Mia beugte sich vor und gab ihm einen Kuss auf den Mund.

    Als Vincent aufstand und zum Wagen ging, wehten die Klänge von Lenny Kravitz’ Stand zu ihm herüber. Er warf einen Blick zurück und sah, wie einige der jungen Leute tanzten und ausgelassen feierten. Sollten sie ihren Spaß haben, solange niemand im betrunkenen Zustand begann Stunk zu machen.

    Vincent fischte die Jacken aus dem Wagen und hörte über die Musik hinweg plötzlich einen Laut, der jeden Vater sofort alarmierte: das Schreien seines Knirpses Casper. Er sah, wie der Kleine und sein jüngerer Bruder Linus auf Mia zurannten, die die beiden in ihre Arme schloss.

    »Was ist denn los?«, fragte Vincent.

    Linus begann zu weinen, während Casper in Richtung der jungen Leute zeigte. Eine Handvoll von ihnen hatte sich um einen Mann geschart, der offenbar neben der Picknickdecke auf dem Boden lag. Anscheinend war etwas passiert.

    »Wartet, ich schau mal nach«, sagte Vincent. Doch bevor er Mia die Jacken reichen und gehen konnte, fiel einer der anderen Männer ohne Vorwarnung hin. Direkt aus dem Stand. Er knickte in den Knien ein und stürzte, als hätte man einer Marionette die Fäden durchgeschnitten.

    Ehe einer der anderen überhaupt begriff, was geschah, fiel der Nächste.

    Dann noch einer.

    Eine Frau folgte. Zwei, drei Menschen sahen sich an, ehe sie einfach umkippten und nicht wieder aufstanden.

    Casper brüllte wie am Spieß.

    »Was geht da vor sich, Vincent?«, rief Mia verzweifelt. Ein hysterischer Unterton schwang in ihrer Stimme mit.

    Vincent stand wie angewurzelt da. Er fühlte sich mit einem Mal überhaupt nicht mehr verpflichtet, nach dem Rechten zu sehen. Ihn beschlich das Gefühl, dass das, was die Jugendlichen heimsuchte, ihn selbst befallen konnte, wenn er nur in deren Nähe geriet.

    Jetzt erwischte es auch die Leute, die vorher am Seeufer getanzt hatten. Wie die Fliegen fielen sie, einer nach dem anderen. Zwei Frauen kreischten und rannten davon. Eine kam keine zwei Meter weit, als sie hinfiel und sich nicht mehr rührte. Die andere schaffte es bis zu einem der Vans, mit dem sie hergekommen waren, doch kaum dass sie die Tür berührte, brach auch sie zusammen.

    »Rasch, weg hier!« Vincent spürte Panik in sich aufsteigen. »Lasst alles stehen und liegen!«

    »Mama!« Linus. »Was war das?«

    Der Junge entglitt Mias Hand und sackte zu Boden.

    Nein, nicht Linus!

    Mias und Vincents Blicke trafen sich. Entsetzen stand in ihren Augen, gepaart mit tiefgründiger Furcht und der Gewissheit, dass es kein Entkommen gab.

    Dann änderte sich Mias Ausdruck. Eine Falte entstand zwischen ihren Brauen. »Was … was war das?«

    Im nächsten Moment klappte sie zusammen.

    Casper hörte auf zu brüllen. Er sah Vincent an. Dieser wollte irgendetwas tun, seinen Jungen packen und rennen, doch das, was um ihn herum geschah, lähmte ihn. Nicht nur sein Körper war wie festgefroren, auch seine Gedanken schienen in einem Eisblock festzustecken.

    »Papa?«

    Casper sank vor seinen Augen zu Boden. Er verdrehte die Augen. Die Lider schlossen sich, dann fiel er in sich zusammen. Neben seinem Bruder und seiner Mutter.

    Vincent verfolgte den Sturz wie in Zeitlupe. Er war nicht fähig, zu denken, zu fühlen oder zu begreifen. Er merkte nicht, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach, wie Übelkeit einen Würgereiz verursachte, ohne dass er in der Lage war, sich zu übergeben.

    Fassungslos starrte er auf die leblosen Körper.

    Dann jedoch erwachte für einen Sekundenbruchteil sein Verstand, als er etwas registrierte, das er nicht einordnen konnte: etwas Fremdes, nicht Greifbares.

    Irritiert hob er die Brauen und sah sich um.

    »Was war das?«, hörte er sich selbst sagen.

    Nur einen Augenblick darauf wurde es dunkel um ihn.

    Vincent war bereits in dem Moment tot, in dem seine Beine nachgaben.

    Teil 1

    Vorhut

    Kapitel 1

    Der Traum war intensiver als die Realität. Er kehrte in unregelmäßigen Abständen zurück und quälte die junge Frau im Bett aufs Neue. Ariane Hellenberg befand sich mit ihrer Freundin Sybille in New York und genoss den Hubschrauberrundflug über die Wolkenkratzer der Stadt. Das Wetter war ihnen wohlgesinnt. Sonnig, nicht zu warm, nicht zu kühl. Man konnte von hier oben bis zum Horizont sehen. Das One World Trade Center ragte imposant aus den Türmen der anderen Hochhäuser hervor. Doch an ein sprichwörtliches Kratzen an den Wolken war nicht zu denken, denn keine Cumulus-Gebilde trübten den Himmel. Hinter dem riesigen Gebäude war die Freiheitsstatue auf Liberty Island zu sehen.

    »Wahnsinn!«, sagte Sybille Stobbe und lachte. »Wenn Rainer das wüsste, hätte er mich nie allein mit dir den Urlaub verbringen lassen.«

    Ariane grinste. »Dein bescheuerter Freund hätte es uns nur vermasselt.«

    Dafür fing sie sich einen Stoß in die Rippen ein und hätte aus einem Reflex heraus beinahe zurückgeboxt. Ariane machte keinen Hehl daraus, dass sie Sybilles Lebensabschnittsgefährten nicht mochte. Das hatte nichts mit Eifersucht zu tun, auch wenn sie und ihre Freundin mehr als einmal gemeinsam im Bett gelandet waren. Das war rein sexuell gewesen, hatte nichts mit Liebe zu tun und ihrer tiefen Freundschaft keinen Stein in Weg gelegt.

    »Ich such mir ja einen neuen«, sagte Sybille nach einer Weile. »Aber erst … wenn mir Rainer zu langweilig wird. Er ist gut im Bett, weißt du?«

    »Das sind andere auch. Und du kannst dich in Hannover aufs Messegelände stellen, mit den Armen wedeln und rufen: ›Ich bin Single.‹ Was glaubst du, wie viele Kerle sich plötzlich um dich scharen und um dich werben werden?«

    »Als ob gutes Aussehen alles wäre. Übrigens trifft das auf dich noch mehr zu. Du bist doch viel hübscher als ich.«

    »Quatsch! Erzähl nicht so einen Unfug.«

    Sybille blickte aus dem Fenster. Sie überquerten gerade den Central Park.

    »Rainer ist loyal. Und hilfsbereit.«

    »Aber er ist dumm«, sagte Ariane. »Zumindest kann er dir nicht das Wasser reichen. Meine Mutter hat immer gesagt, du musst dir einen Mann angeln, der mindestens so intelligent ist wie du selbst.«

    »Das sind doch alte Weisheiten, die heute nicht mehr gelten.« Sybille machte eine wegwerfende Handbewegung. »Alte Wertvorstellungen haben sich doch grundlegend geändert. Zu alt, zu jung, ob Mann mit Frau, Mann mit Mann, Frau mit Frau, eine Beziehung zu dritt oder ein offenes Verhältnis … das alles gab es zu Zeiten der weisen Worte deiner Mutter doch gar nicht.«

    Natürlich hatte Sybille recht und Ariane wusste das. Das änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass sie Rainer nicht mochte. Dabei konnte sie noch nicht einmal sagen, warum. Sie blickte auf ihrer Seite aus dem Fenster des Hubschraubers.

    »Wo sind wir eigentlich?«

    »Das sollte jetzt New Jersey sein«, sagte Sybille. »Wir fragen mal den Pil… Was ist das denn?«

    Der Tonfall in Sybilles Stimme alarmierte Ariane und sie folgte dem Blick der Freundin aus dem anderen Fenster. Von einem Moment auf den anderen hatte sich der Himmel verdunkelt, als würde gleich ein Gewittersturm losbrechen. Doch was da aus den pechschwarzen Wolken kam, waren keine Blitze, sondern lodernde Feuerbälle, die auf die Erde niederregneten.

    »Ein Meteoritenhagel?«

    Sie hatte noch nie einen miterlebt und wusste nicht, was da aus der Wolkenformation herabfiel. Die Objekte sahen aus wie ein halbes Dutzend brennender Medizinbälle, die, einen Feuerschweif hinter sich herziehend, auf die Erde fielen. Ariane hörte den Piloten fluchen. Er verriss das Steuer des Hubschraubers. Das Fluggefährt kippte zur Seite, die Turbinen heulten empört auf und der Rotor kämpfte gegen die plötzliche Überlastung an. Ariane wollte den Piloten anschreien, ob er noch ganz bei Trost wäre, doch dann erkannte sie, dass seine hektische Aktion ihnen das Leben gerettet hatte. Nur wenige Meter von ihrem Fenster entfernt fiel einer der Feuerbälle vorbei. Die Flammenbrunst, die ihm folgte, schlug durch den Fallwind peitschend um sich und erwischte den Rumpf des Helikopters. Ein Ruck ging durch die Maschine. Glas barst. Ariane und Sybille schrien gleichzeitig auf und wichen entsetzt von dem zersprungenen Fenster zurück auf die andere Seite. Der Hubschrauber geriet ins Trudeln und drehte sich in einer Schleife unaufhaltsam dem Boden entgegen. Der Pilot funkte Mayday, zerrte und riss an den Steuerelementen, während seine Füße die Pedale traten, doch der Flug wollte sich nicht mehr stabilisieren.

    Der Hubschrauber sackte durch und stürzte ins Bodenlose.

    Kurz vor dem Aufprall schreckte Ariane aus dem Albtraum auf. Schweißgebadet. Stoßweise atmend. Der Puls hämmerte hinter ihren Schläfen. Sie war die ersten Sekunden orientierungslos und fühlte sich erst wieder in die Wirklichkeit zurückgeholt, als ihr Berner Sennenhund Rocky aufs Bett sprang und sich an sie kuschelte.

    »Ein Traum …« Ihre Stimme war heiser. Der Mund fühlte sich so trocken an, dass sie nicht einmal genug Spucke sammeln konnte, um ihn zu befeuchten. Ariane schwang die Beine über die Bettkante und stand auf, nur um sich rasch an einer Kommode festzuhalten, ehe sie zu Boden stürzen konnte. Nicht nur, dass ihre Beine nachgaben und der Gleichgewichtssinn versagte, auch ein hämmernder Kopfschmerz schoss ihr durchs Gehirn und zwang sie in die Knie.

    Rocky bellte, tanzte um sie herum, schleckte sie ab, winselte, als sie nicht reagierte.

    Ariane brauchte ein paar Minuten, ehe sie auf die Beine kam und ins Bad gelangte. Sie drehte den Hahn am Waschbecken auf und spritzte sich eiskaltes Wasser ins Gesicht. Dann tauchte sie den ganzen Kopf unter den Hahn und nahm anschließend zwei, drei Schlucke vom Leitungswasser.

    So schlimm war es nie gewesen. Ja, ihr Urlaub in New York vor drei Jahren war beinahe in eine Katastrophe ausgeartet, doch so wild, wie es der Traum ihr weismachen wollte, war es niemals zugegangen. Das Ereignis hatte so nicht stattgefunden, sondern ganz anders.

    Sie waren auf einem Rundflug gewesen und ein einzelner Meteorit war aus dem Himmel auf die Erde gestürzt. Doch er hatte den Hubschrauber niemals in Gefahr gebracht. Der Pilot hatte den Rundflug abgebrochen und war notgelandet. Allerdings gab es einen Nachzügler des Meteoriten, der sie fast doch das Leben gekostet hätte. Er schlug unmittelbar neben der Landestelle des Helikopters ein und setzte Ariane und Sybille beim Aussteigen einer Strahlung aus. Den Rest ihres Urlaubs verbrachten sie in einem Strahlenzentrum in der Nähe von New York City. Die Ärzte waren besorgt über mögliche Mutationen und Bildung von Krebszellen, weshalb man ihnen eine Gentherapie anbot, die sie beide annahmen. Sie kehrten völlig genesen aus dem Urlaub zurück. Während Sybille keine Probleme mit dem Vorfall zu haben schien, wurde Ariane die nächsten drei Jahre von Albträumen verfolgt. Anfangs einmal wöchentlich, später reduzierten sie sich und traten nur noch alle paar Monate auf. Doch sie liefen immer ähnlich ab und machten aus dem Meteoritenfall ein Weltuntergangsszenario mit Feuerbällen und einem Absturz ihrer Maschine. Kopfschmerzen und Desorientierung waren nach dem Aufwachen die Folge, aber das verging nach ein paar Minuten wieder. Dieses Mal brauchte Ariane wesentlich länger und rief in der Redaktion an, dass sie sich heute um eine Stunde verspäten würde.

    * * *

    Die Kopfschmerzen waren wie weggeblasen, als Ariane Hellenberg die Wohnungstür hinter sich schloss und Rocky ihr förmlich in die Arme sprang. Der hüfthohe Berner Sennenhund stellte sich auf die Hinterläufe, streckte seine Pfoten aus und begann mit einer Schlabberorgie, die Ariane halb angewidert, halb erfreut über sich ergehen ließ.

    »Ist ja schon gut, mein Dicker, ist ja schon gut.« Sie drückte den Hund von sich, kraulte ihm das Halsfell und gab ihm dann zu verstehen, dass sie in die Küche wollte.

    Ariane wischte sich mit dem Handrücken über das feuchte Gesicht. Sie hatte sich heute schon früher aus der Redaktion verabschiedet, weil die Kopfschmerzen vom Morgen nicht nachlassen wollten. Doch kaum dass sie in Reichweite ihrer Wohnung war, ging es ihr wesentlich besser. Sie stellte ihre Laptoptasche auf dem Küchentisch ab, streifte die Stöckelschuhe von den Füßen und schlenderte barfuß zum Schrank. Rockys Napf war leer. Sie füllte ihn zur Hälfte mit Trockenfutter, erneuerte das Wasser in der zweiten Schale und schaltete anschließend ihre Nespresso-Maschine ein. Sie blätterte in dem Rondell mit Kaffeekapseln und entschied sich für einen Espresso Arpeggio.

    Rocky machte sich über sein Futter her.

    »Na, du hast noch was vom Leben. Jemanden, der für dich sorgt und dich den ganzen Tag über in Ruhe lässt.«

    Sie ließ den Espresso durchlaufen, gab einen Schuss frische Milch hinzu und setzte sich auf einen Barhocker an den Esstresen, der sich neben dem Küchentisch befand. Zuerst überlegte sie, ob sie noch an dem Artikel weiterschreiben sollte, den sie in der Redaktion abgebrochen hatte, doch sie verspürte nicht die geringste Lust. Vielleicht später.

    Stattdessen fischte sie das iPad aus ihrer Laptoptasche und schaltete es ein, um nach neuen E-Mails zu sehen, während sie ihren Espresso genoss.

    Sie scrollte durch die Nachrichten. Zehn Mal Spam. Davon sieben gewollter. Newsletter diverser Onlineshops, Parfümerien und Nachrichtenmagazinen. Sie löschte sie alle und stolperte über eine Mail von Sybille.

    Hi du,

    wie ist es? Bleibt es bei morgen Abend im Moonshine Still? Ich hab zwei Karten. Crazy Comets spielen und ab halb acht ist Happy Hour. Ich zähl auf dich.

    LG

    Bille

    PS: Was macht die Liebe?

    Ariane nippte an dem Espresso und lächelte. Das Moonshine Still war ihre und Sybilles Stammkneipe in Hannover. Gute Musik, gute Drinks, gute Unterhaltung. Und an den Wochenenden gab es Live-Gigs von lokalen Bands. Klar, sie war dabei. Jedoch beschloss sie, die Frage im Nachtrag zu ignorieren. Sybille wusste, dass sich Ariane vor dem New-York-Urlaub von ihrem Ex nach sechs Jahren getrennt und von da an beschlossen hatte, das Single-Dasein zu genießen. Daran hielt sie fest. Und wenn sie einen schlechten Tag hatte und eine Schulter zum Anlehnen brauchte, war da immer noch Rocky. Sie hätte es vorher nie für möglich gehalten, aber ein Hund war tatsächlich der beste Freund des Menschen.

    Zumindest mein bester Freund, dachte sie und nahm einen weiteren Schluck von dem Espresso. Sie strich sich eine braune Haarsträhne hinters Ohr und wischte über das Display zur nächsten Nachricht.

    »Oh.« Das war seltsam. Ella Degerlund. Von ihr hatte sie schon seit Ewigkeiten nichts gehört. Eine Urlaubsbekanntschaft aus Schweden und Facebook-Freundin. Sie hatten sich im Jahr nach Arianes Trennung kennengelernt, als sie auf einem Skandinavientrip über ihren Liebeskummer hinwegkommen wollte. Nach dem Urlaub hatten sie öfter telefoniert, gemailt und gechattet, doch der Kontakt war irgendwann eingeschlafen und man grüßte nur noch sporadisch im Facebook-Profil zum Geburtstag oder zu Weihnachten.

    Wie gewohnt war Ellas Nachricht in Englisch verfasst.

    Hallo Ariane,

    du wunderst dich sicher, dass ich mich nach langer Zeit mal wieder bei dir melde. Es tut mir leid, dass ich so selten etwas von mir hören lasse. Hoffe, es geht dir gut. Bei mir ist momentan leider alles beschissen. Mein Bruder Vincent, du kennst ihn noch von deinem Aufenthalt in Luleå, seine Frau Mia, die beiden Kinder Casper und Linus – sie sind tot, Ariane, tot. Alle!

    Es geschah vor einer Woche am Osterwochenende. Vincent war mit seiner Familie in der Nähe von Boden auf einem Ausflug. Er ist von dort nicht mehr lebend zurückgekehrt. Die Verwaltung von Boden sprach von einem Unfall. Angeblich sind sie in ein Sturmtief geraten, das das Ufer des Buddbyträsket überschwemmt hat. Merkwürdig ist nur, dass es für das Osterwochenende keine Unwetterwarnungen gab. Außer Vincent und seiner Familie befanden sich noch andere Leute am Ufer, die ebenfalls gestorben sind. Die Leichen werden unter Verschluss gehalten, sie wurden für Angehörige nicht freigegeben und das Gebiet rund um den Buddbyträsket ist von Polizei und Militär hermetisch abgeriegelt worden. Die Presse wurde mundtot gemacht. Niemand berichtet mehr über den Vorfall, als hätte er sich nie zugetragen.

    Ich weiß nicht mehr weiter, Ariane. Ich bin verzweifelt.

    Du arbeitest doch als Journalistin. Kannst du vielleicht irgendetwas herausbekommen? Ich will doch nur meine Familie sehen und wissen, was geschehen ist.

    Wenn du Zeit hast, können wir heute Abend vielleicht skypen?

    Deine Ella

    Ariane merkte, wie ihre Augen beim Lesen feucht wurden. Sie griff nach einem Kleenex am Rande des Tresens und schnäuzte hinein. Das iPad wurde ihr plötzlich zu schwer. Sie legte es aus der Hand und schluckte. Rocky spürte ihre Traurigkeit und kam zu ihr herüber. Er legte sich vor ihre Füße auf den Boden und winselte leise vor sich hin.

    Ariane las die E-Mail noch einmal. Sie berührte den Antworten-Button und tippte über die Bildschirmtastatur eine kurze Nachricht zurück, dass sie heute Abend Skype einschaltete und auf Ellas Anruf wartete. Sie wollte ihr Beileid ausdrücken, fand jedoch nicht die richtigen Worte und drückte grußlos auf Senden. Dann wechselte sie von der Mail-App zum Browser und rief die Google-Seite auf. Sie tippte Boden und Katastrophe Buddbyträsket in das Eingabefeld und wählte anschließend die Nachrichtensektion von Google. Dann grenzte sie die Suche nach Meldungen innerhalb der letzten Woche ein.

    Nichts.

    Sie tippte nur Boden ein.

    Zurück am Boden. Lärm am Boden. Auf dem Boden der Tatsachen. Zu Boden geschlagen. In Grund und Boden. Doppelter Boden.

    Keine Nachrichten zum schwedischen Ort Boden. Ariane trank den Rest des Espressos und merkte, dass er mittlerweile kalt war. Sie verzog das Gesicht, drückte zweimal die Home-Taste des iPads und wechselte zurück in das Mailprogramm, um sich Ellas Nachricht durchzulesen. Sie hatte sich nicht verlesen. Der Ort stimmte. Als sie anschließend Google Maps startete und den Ort suchte, fand sie ihn auf Anhieb, ebenso wie den besagten See.

    Ella hatte erwähnt, dass die Presse mundtot gemacht worden war und niemand darüber berichtete. Das konnte doch nicht sein.

    Ariane legte das Pad auf den Tisch und sah zu Rocky. Als der Berner Sennenhund ihren Blick bemerkte, sprang er hoch und legte seine Vorderläufe auf ihren Schoß, damit sie ihn im Nacken kraulen konnte.

    »Das Ganze ist reichlich merkwürdig, mein Dicker. Was denkst du, sagt Ella die Wahrheit oder fantasiert sie sich was zusammen?« Sie kannte die Schwedin nicht gut genug, um jederzeit die Hand für sie ins Feuer zu legen. Momentan stand ihr Wort gegen eine fehlende Berichterstattung. Aber selbst wenn die Presse nichts berichtete, musste doch wenigstens feststellbar sein, dass ihr Bruder und seine Familie verstorben waren.

    Ariane zog einen Zettel von einem Notizblock und schrieb einige Stichworte auf. Sie würde eine E-Mail nach New York schicken. Einer ihrer Bekannten war Arzt bei der Gesundheitsbehörde. Wenn Ella recht hatte und man das Gebiet um den See abgeriegelt hatte, musste mehr geschehen sein als nur ein Unwetter. Vielleicht eine Virusepidemie, die man eingrenzen wollte?

    Morgan-Thorne schrieb sie auf den Zettel. Sie hatte ihn bei einem Symposium kennengelernt und stand in lockerem Kontakt zu ihm.

    O’Connell war der nächste Name auf dem Zettel. Liam O’Connell, ein Brite, Inspektor bei Scotland Yard – vielleicht konnte er über seine Interpol-Verbindungen etwas herausfinden. Immerhin war er ihr noch einen Gefallen schuldig.

    In Schweden würde sie selbst anrufen. Sie hatte noch Redaktionskontakte. Auch wenn die keine Auskunft über einen Vorfall am Buddbyträsket geben konnten, ließ sich vielleicht über sie herausfinden, ob Vincent Degerlund und seine Familie verstorben war.

    So viel zum freien Nachmittag, dachte Ariane und beschloss, sich noch einen zweiten Kaffee zu machen.

    Kapitel 2

    Sterbe ich oder sterbe ich nicht?

    Die Chancen für Tod oder Leben standen nach Albin Nielsens Einschätzung fünfzig-fünfzig. Der Tod konnte sehr überraschend kommen, doch in diesem Fall war er auf ihn vorbereitet.

    Er sah in die Runde und fühlte sich in einen Science-Fiction-Film versetzt. In seiner Gesellschaft befanden sich fünfzehn Männer und Frauen, die in futuristische Ganzkörperpanzeranzüge gehüllt waren, die direkt einem Space-Marine-Szenario entstammen konnten. Die Tyr-Rüstung, benannt nach dem nordischen Gott des Kampfes und des Sieges, war ein hermetisch abgeriegeltes und autark arbeitendes Hightechsystem, das vor allen erdenklichen Gefahren Schutz bieten sollte: vergiftete Luft, verstrahlte Areale, Hitzewände, Kugelfeuer und Explosionsdruckwellen. Mit einer Tyr-Rüstung war ein Überleben unter Wasser bis zu 200 Metern möglich, ebenso konnte man damit Mondspaziergänge unternehmen. Das Innenleben der Anzüge strotzte vor hochtechnologischem Equipment und verfügte über eine ausgezeichnete Sensorik, um die Umgebung wahrzunehmen und Messergebnisse an den im Helm integrierten Computer weiterzuleiten. Strahlungswerte, biologische Erreger, Feinstaubbelastungen, Windgeschwindigkeiten, Temperaturen, Gaskonzentration in der Umgebungsluft: All das war nur ein Bruchteil dessen, was die Messfühler aufnehmen konnten.

    Darüber hinaus war jedes Teammitglied mit einer persönlichen Ausrüstung entsprechend seinem jeweiligen Fachgebiet ausgestattet. Bewaffnet waren sie jedoch alle mit dem gleichen Gewehr: einem Lokipuls-Sturmkarabiner. Trotz der nordischen Anlehnung war die Waffe nicht in Schweden entwickelt worden, sondern eine Koproduktion des deutschen Waffenherstellers Heckler & Koch und der belgischen Firma Fabrique Nationale d’Armes de Guerre. Das Gewehr war bisher nicht in Serienproduktion gegangen, sondern existierte in einigen Prototypvarianten, von denen das schwedische Militär welche zu Testzwecken im Einsatz hatte. Das Lokipuls, wie es die Soldaten kurz nannten, verschoss in Munitionsstreifen gelagerte hülsenlose Projektile, die elektromagnetisch beschleunigt wurden. Der ausbleibende Rückstoß war ein Vorteil für die Mitglieder von Nielsens Gruppe, die nicht jeden Tag mit Waffentraining unter Gefechtsbedingungen beschäftigt waren. Außerdem erzeugten die beschleunigten Geschosse einen Reibungsstreifen in der Luft, der dem Glühen von Leuchtspurmunition gleichkam und somit beim Zielen half.

    Trotz der hervorragenden Ausstattung, die den 16-Mann-Trupp gut und gerne einen Krieg gewinnen lassen könnte, war Nielsen skeptisch, was ihre Erfolgschancen betraf. Er atmete tief durch und schaltete auf die Helmlautsprecher um.

    Die sechzehn futuristischen Ritter standen auf einer Anhöhe, etwa einen Kilometer vom Südufer des Buddbyträsket entfernt. Hinter ihnen befand sich der Ort Boden. Nielsen eingerechnet bestand die Gruppe aus zehn Elitesoldaten der schwedischen Spezialeinheit Särskilda Syddsgruppen – SSG. Die anderen Mitglieder waren Wissenschaftler mit militärischer Ausbildung oder vorzugsweise beim Militär beschäftigt: zwei Mediziner, Mikro- und Molekularbiologen, Virologen, Strahlungsexperten.

    »Meine Damen und Herren, wenn ich jetzt um Ihre Aufmerksamkeit bitten darf.« Auf der Innenseite von Nielsens Visier wurden die Vitalfunktionen jedes Teammitglieds projiziert und an das Einsatzcamp, das sich im Süden Bodens befand, übertragen. Sie waren mit zwei Großraumhelikoptern hergebracht worden, die nach dem Absetzen der Gruppe sofort wieder zur Basis zurückgeflogen waren.

    »Jeder Einzelne von ihnen gehört zu den Besten Schwedens auf seinem Fachgebiet, zumindest zu den Besten, die das Militär aufbieten kann. Dennoch können wir uns nicht allein auf unsere Ausbildung und Ausrüstung verlassen, wenn wir dem Unbekannten gegenübertreten. Hier noch einmal die Lage: Vor einer Woche sind am Ufer des Buddbyträsket siebenundzwanzig Menschen umgekommen. Die Ursache ist bisher unklar. Ein Rettungsteam, das nach Überlebenden suchen und die Leichen bergen sollte, starb ebenfalls direkt vor Ort. Es konnte einen Notruf absetzen, aus dem nur hervorging, dass die Teammitglieder der Reihe nach und ohne sichtlichen Grund starben.

    Daraufhin wurde das Militär hinzugezogen und die Gegend um den See in einem Umkreis von fünf Kilometern unter Quarantäne gestellt und abgeriegelt. Ein Ärzteteam der Seuchenbehörde betrat das Areal unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen. Niemand von ihnen ist je zurückgekehrt. Es gab noch zwei Zwischenfälle, bei denen die Quarantänemauer durchbrochen wurde. Ein paar Jugendliche fanden ein Schlupfloch und kamen bis auf fünfhundert Meter an das Seeufer heran, ehe sie von einem Bewachungstrupp gestellt wurden. Bevor man die Jugendlichen zurückbringen konnte, suchte sie und auch die Soldaten das gleiche Schicksal heim wie alle anderen, die vorher am See verstarben. Der zweite Vorfall bestand in dem Vorhaben eines Reporterteams, mit einem Hubschrauber das Quarantänegebiet zu überfliegen und Aufnahmen zu machen.«

    Nielsen streckte den gepanzerten Arm aus und deutete nach Norden. »Das Wrack des Hubschraubers befindet am Westufer des Buddbyträsket.«

    Allgemeines Gemurmel erhob sich in den Helmlautsprechern. Alle hatten die Berichte gelesen und wussten, worauf sie sich bei dieser Mission einließen – oder besser gesagt, sie wussten es nicht. Dennoch war es eine Sache, in Notizen zu lesen, jedoch eine gänzlich andere, noch einmal eine Zusammenfassung nahe am Ort des Geschehens zu hören. Nielsen konnte es den anderen nicht verübeln.

    »Wir können eine Virusepidemie wohl ausschließen«, sagte jemand. Im Display seines Helmes wurde der Name Dr. Eggström eingeblendet.

    »Woraus schließen Sie das?« Das war Dr. Hanna Agren aus der Forschungsabteilung für biologische Kampfstoffe. Nielsen hatte sie erst gar nicht mitnehmen wollen, da sie Betroffene war. Soweit er wusste, war sie mit der Schwester eines Mannes eng befreundet, der mit seiner Familie am Osterwochenende hier gestorben war.

    »Nun, wenn bereits ein Seuchenbekämpfungsteam unter strengsten Quarantänevorschriften hier war, ist doch davon auszugehen, dass keine Viren für das plötzliche Sterben verantwortlich sind. Oder glauben Sie, die Leute haben sich gegenseitig ihre biologischen Schutzanzüge aufgeschnitten?«

    »Mit Verlaub«, sagte jemand anderes. »Aber wir wissen doch gar nicht, womit wir es hier zu tun haben. Vielleicht handelt es sich um bisher unbekannte Virenstämme, die in der Lage sind, sich …«

    »… durch Bioschutzanzüge zu fressen?« Die Stimme Eggströms troff vor Hohn. »Machen Sie sich nicht lächerlich! Wie soll das denn gehen?«

    »Säure produzierende Viren?«, hakte Hanna ein.

    Ein Lachen klang aus Eggströms Mikrofon. Bevor die anderen damit beginnen konnten, wild zu diskutieren, unterbrach Major Albin Nielsen die Unterhaltung.

    »Herrschaften, es gibt sicherlich noch genug Gesprächsstoff. Bevor wir uns jetzt in Mutmaßungen ergehen, sollten wir die Lage vor Ort erkunden. Unsere Tyr-Rüstung ist gegen biologische Erreger gleich welcher Form immun. Selbst wenn es so etwas wie Säure erzeugende Viren oder Bakterien geben …«

    »Es gibt Säure produzierende Bakterien …«

    Nielsen ließ sich nicht beirren, erhob seine Stimme und sprach einfach weiter: »… geben sollte, wird der Schutz unserer Außenummantelung ausreichen. Die Tyr-Rüstung wurde in Salz- und Schwefelsäurebädern getestet. Sie ist raum- und seetauglich und strahlungsresistent. Was immer das Seuchenteam hingerafft hat, wird uns kein Haar krümmen.«

    Er fand, dass seine Worte ziemlich überzeugend herüberkamen, und hätte sich fast selbst geglaubt. Doch die Skepsis und Zweifel blieben.

    »Also schön, wir gehen in zwei Gruppen zu je acht Mann. Löjtnant Larsen, Sie nehmen Dr. Eggströms Gruppe. Dr. Agren, folgen Sie mir bitte.«

    Der federgesteuerte Antrieb der Tyr-Rüstung unterstützte die Gehbewegung der Muskeln, sodass der schwere Schutzpanzer kaum zu spüren war. Über das Gelände zu marschieren, fühlte sich fast wie ein Spaziergang im Park an. Tatsächlich lud das Grün des Areals zum Wandern ein. Die beiden Gruppen stapften über einen unbefestigten Weg mitten durch einen Mischwald. Sie näherten sich parallel zum See dem Nordufer, das nicht bewohnt war.

    Nielsen rief sich eine Übersichtskarte der Umgebung auf das Helmdisplay und studierte das Südufer. Am Rand in Seenähe gab es mehrere Gebäude auf weiträumigen Parzellen. Den Daten nach einige Ferienhäuser und -siedlungen sowie Wanderhütten, dazu ein paar Gutshöfe. Das Gebiet war bis zu der Stadtgrenze der Gemeinde Boden evakuiert worden, auch wenn sich die Vorfälle bisher auf den nördlichen Bereich des Sees beschränkten.

    Nielsens Aufgabe bestand nicht nur darin, die Leichen zu bergen, sondern auch festzustellen, ob eine Evakuierung Bodens notwendig war. Die Stadt hatte fast 20 000 Einwohner. So etwas ließ sich nicht mehr vor der Presse und der Öffentlichkeit verheimlichen.

    »Noch knapp hundert Meter bis zur Sperrzone«, meldete sich Löjtnant Larsen über den Helmfunk.

    Die Zone befand sich im angeblich sicheren Territorium. Erst knapp hundert Meter hinter ihr waren die ersten Todesfälle aufgekommen.

    »Weiter. Wir halten an der Grenze.«

    Nielsen stellte auf den privaten Kanal um und wählte direkt Hanna Agrens Tyr-Rüstung an. »Ist alles in Ordnung, Doc?«

    Die Frau klang überrascht. »Warum fragen Sie?«

    »Ich meine nur … wegen …«

    »Schon gut, Major. Ich habe die Familie nur vom Sehen her gekannt. Es ist nichts, was mich in meiner Arbeit behindern würde.«

    Nielsen nickte, auch wenn Hanna die Geste nicht sehen konnte. »Tut mir leid, dass ich gefragt habe.«

    »Keine Ursache. Beten wir, dass unsere Ritterrüstungen wirklich einen Schutz gegen das darstellen, was das Massaker angerichtet hat.«

    Der Wald lichtete sich und gab den Blick auf eine große Lichtung frei, die direkt in das Seeufer mündete. Ein paar Baumgruppen versperrten die Sicht auf den Buddbyträsket, doch es gab auch offene Stellen weiter nördlich. Zu jeder anderen Zeit wäre die Aussicht fantastisch gewesen, doch was die Mitglieder von Nielsens Team zu Gesicht bekamen, war der reinste Horror.

    Die Lichtung und das Ufer waren gesäumt von Leichen. Sie lagen kreuz und quer verteilt auf dem Rasen und im Moos. Einige trugen Freizeitkleidung, andere die Westen von Rettungssanitätern und wieder andere lagen in Bioschutzanzügen dort. Manche befanden sich am Ufer des Sees. Etliche waren um eine riesige Picknickdecke verstreut. Eine Frau lag neben einem Wagen, der neben mehreren anderen am Rand der Lichtung geparkt war.

    Nielsens Blick schweifte zu der Familie, die sich nur knapp zwanzig Schritt von ihnen entfernt befand. Das mussten die Degerlunds sein, die Familie, die Dr. Agren über die Schwester des Verstorbenen kannte.

    »Mein Gott, haben wir die Zone bereits überschritten?«, rief jemand über Funk.

    Tatsächlich befanden sie sich bereits innerhalb des Gefahrenperimeters. Nielsen sandte ein Signal an seinen Leutnant, doch Larsen reagierte nicht. Er ging auf den privaten Kanal.

    »Isak, was ist los?«

    »Major, wir haben ein Problem. Die Sensoren hätten uns anzeigen müssen, an welcher Stelle die Warnbojen platziert

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