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Liebe in der Warteschleife: Roman.
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Liebe in der Warteschleife: Roman.
eBook506 Seiten6 Stunden

Liebe in der Warteschleife: Roman.

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Über dieses E-Book

Texas, 1904: Die junge Telefonistin Georgie Gail ist stolz auf ihre Unabhängigkeit und darauf, dass sie sich in der Männerwelt ihres kleinen Ortes behaupten kann. Deshalb ärgert sie sich gleich doppelt, als die Telefongesellschaft ihr einen Techniker vor die Nase setzt, der ihr auf die Finger schauen soll.

Doch der gutaussehende Luke Palmer ist alles andere als ein erfahrener Telefonist. In Wirklichkeit ist er ein Gesetzeshüter, der auf der Spur einer Verbrecherbande ist. Er hat also völlig andere Dinge im Sinn, als Telegraphenleitungen zu reparieren und sich mit dem couragierten Frauenzimmer auseinanderzusetzen, das ihm das Leben schwermacht. Aber als Georgie durch seine Arbeit in Gefahr gerät, erkennt er, dass mehr auf dem Spiel steht als nur sein Job ...

Eine wunderbare Mischung aus Humor und Tiefgang.
SpracheDeutsch
HerausgeberGerth Medien
Erscheinungsdatum29. Aug. 2014
ISBN9783961220625
Liebe in der Warteschleife: Roman.

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    Buchvorschau

    Liebe in der Warteschleife - Deeanne Gist

    Kapitel 1

    Alle verlassen sofort den Zug!"

    Während sie sich vorsichtig an dem Mann vorbeizudrängen versuchte, der eine Waffe auf die Zugfahrgäste gerichtet hielt, wurde Georgie Gail von aufgeregten Fahrgästen geschubst und angerempelt. Sie verdrehte sich fast den Hals, als sie versuchte, mehr zu erkennen, aber auf dem Mittelgang des Zuges herrschte ein zu dichtes Gedränge.

    Niemand sprach ein Wort, selbst die Kinder spürten, dass sie still sein mussten. Angesichts der vielen Menschen, die sich so eng nebeneinander drängten, bildete sich eine dünne Schweißschicht unter ihrem Reisekleid aus brauner Wolle. Der leichte Zimtgeruch ihres selbst gemischten Eau de Cologne vermischte sich mit den süßen Parfüms und dem Duft der Pomade ihrer Mitreisenden.

    Neben dem Zug standen zwei Mitglieder der Comer-Bande und bewachten den Ausgang. Die Februarsonne ging gerade hinter den Bäumen unter und überzog den Himmel mit rosa und roten Schattierungen.

    „Vorsicht beim Aussteigen, Miss!" Der Hutrand eines Stetsons tauchte die Augen des Banditen in Schatten, während ein Halstuch die untere Hälfte seines Gesichts bedeckte. Er hielt in einer Hand eine Waffe und hob die andere, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein.

    Mit einem schweren Schlucken schob sie ihre Hand, die in einem dünnen Handschuh steckte, in die seine. Er stützte sie, als sie aus dem Zugwaggon auf die Erde sprang.

    „Danke." Die Antwort kam unwillkürlich über ihre Lippen.

    „Gern geschehen, Ma’am. Und jetzt Hände hoch!"

    Sie warf einen Blick auf ihn und hob die Hände, aber er hatte sich bereits abgewandt, um der nächsten Frau zu helfen.

    Ist das Frank Comer?, überlegte sie. Er war eindeutig höflich genug, um es sein zu können, aber sie hatte ihn sich größer vorgestellt. Breitschultriger. Überlebensgroß.

    Die Abendluft kühlte ihre Haut ab, obwohl die Wärme des Frühlingsanfangs die Kälte etwas abmilderte. Das Klirren von Pferdegeschirr lenkte ihre Aufmerksamkeit auf mehrere Pferde, die ein paar Meter entfernt standen. Ein Palomino in der Farbe einer frisch geprägten Goldmünze schnaubte und schlug mit seinem hellen Schweif nach Fliegen.

    Sie warf einen kurzen Blick zum vorderen Teil des Zuges, konnte aber weder Schaffner noch Lokführer entdecken. Eine Mischung aus Rauch und Dampf wehte aus dem Schornstein.

    Ein Mitglied der Bande trat vor und betrachtete sie genau, bevor er sie zur Seite führte, wo drei Banditen mehr als fünfzig Fahrgäste mit ihren Gewehren in Schach hielten. Ein kleines Mädchen mit braunen Zöpfen stieß stolpernd von hinten gegen sie.

    „Vorsicht, flüsterte Georgie, die sich bückte, um sie festzuhalten. „Wo ist denn deine Mutter?

    „Ich kann sie nicht finden. Die Unterlippe des Mädchens zitterte. „Ich habe meinen Hut verloren. Wenn Mama das merkt, bekomme ich Prügel.

    Georgie hockte sich vor das Mädchen und strich diesem eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Nein, bestimmt nicht. Deine Mama versteht das und wird nicht schimpfen."

    Tränen traten in die Augen der Kleinen. „Sie hat gesagt, wenn ich wieder einen Hut verliere, gibt es Ärger. Und das heißt eine Tracht Prügel."

    „Wie heißt du?"

    „Rosella Platt."

    „Rosella, mein Name ist Miss Gail und ich bin Telefonistin."

    Die Augen des Mädchens wurden ganz groß. „Wirklich?"

    „Ja. Und wenn das hier vorbei ist, helfe ich dir, deine Mutter zu finden. Ich werde sogar –"

    „Gibt es ein Problem, Miss?"

    Georgie schaute hoch, dann richtete sie sich langsam wieder auf und hob die Hände. Der maskierte, kräftig gebaute Mann trug eine schmutzige Weste. Sein breiter Revolvergürtel lag um den Bund seiner eng sitzenden Hose.

    „Rosella hat ihren Hut verloren", sagte sie.

    „Wirklich? Nun wandte er sich dem Mädchen zu. „Ich glaube, im Waggon lag ein Hut. Ist es ein Strohhut mit einer hübschen braunen Schleife?

    „Ja, Sir, flüsterte Rosella. „So sieht er aus.

    „Dann ist es wahrscheinlich dein Hut. Mach dir also keine Sorgen."

    Er war einen ganzen Kopf größer als Georgie und richtete seine Aufmerksamkeit jetzt auf sie. „Darf ich einen Blick in Ihre Handtasche werfen, Miss?"

    Blau. Seine Augen waren eindeutig blau und von dichten Brauen überzogen.

    Sie nahm die Hände herab und schob das Retikül an ihr Handgelenk.

    „Sie ist Telefonistin", verriet Rosella dem Banditen mit ehrfürchtiger Stimme.

    Der Mann schaute Georgie wieder an. „Wirklich? Sie arbeiten in einer Telefonvermittlung?"

    „Ja."

    „Wo?"

    „In Washington County."

    Er beugte sich nach hinten und neigte den Kopf zur Seite, um sie unter der breiten Krempe ihres Hutes besser sehen zu können. „Ich glaube, ich habe noch nie eine echte Telefonistin gesehen."

    „Mir geht es ähnlich, Sir. Sie schob die Finger in die Öffnung ihres Handtäschchens und öffnete die Bänder. „Ich habe noch nie einen echten Banditen gesehen.

    Kleine Fältchen waren nun an seinen Augenwinkeln zu sehen. Dann warf er einen Blick in das Täschchen und hielt es ihr wieder hin. „Danke, Miss."

    „Aber … wollen Sie das Geld nicht?"

    „Sie leben allein?"

    „Ja."

    „Sie haben dieses Geld als Telefonistin verdient?"

    „Ja."

    „Dann behalten Sie es."

    Ihre Schultern entspannten sich. „Danke."

    „Bitte. Er ging an der Reihe entlang, aber statt Handtaschen an sich zu nehmen oder Taschenuhren von den Ketten zu reißen, beruhigte er eine ältere Frau. Er ließ ihr ihre Handtasche und forderte sie auf, die Arme nach unten zu nehmen. „Ihre Arme sind inzwischen bestimmt schon ganz schwer.

    Ein paar Schritte weiter gab er einem dünnen, blassen Jungen ein paar Münzen, die er aus dem Waggon gestohlen hatte, in dem die Eisenbahngesellschaft Wertgegenstände transportierte.

    „Ist das Frank Comer?", flüsterte Rosella. „Der echte Frank Comer?"

    „Ich glaube schon", antwortete Georgie aufgeregt.

    „Er mag Sie."

    Georgie bedeutete dem Mädchen mit einer Handbewegung zu schweigen. Sie versuchte, die Hitze aus ihren Wangen zu vertreiben, während sie einen weiteren Blick auf den berüchtigten Verbrecher warf.

    Comer klopfte einem Mann auf die Schulter und sagte etwas, woraufhin beide lachen mussten. Dann erregte eine Bewegung seine Aufmerksamkeit und er schaute rasch nach links. „Wir müssen los, Männer!"

    Die Bandenmitglieder rannten zu ihren Pferden. Die Taschen mit der Beute schlugen bei jedem Schritt an ihre Seiten. Einige sprangen auf ihre Pferde, ein paar hatten Mühe, ihre aufgeschreckten Pferde zu zügeln.

    In diesem Augenblick stürmte auf der anderen Seite des Zuges ein Mann auf einem Pferd durch ein lichtes Wäldchen. „Alle auf den Boden legen!"

    Der Befehl donnerte über die Köpfe der Fahrgäste hinweg und duldete keinen Widerspruch. Wie Dominosteine sanken die Leute auf die Erde. Rosella bewegte unruhig die Beine und versuchte, so dicht wie möglich an Georgie heranzukriechen.

    „Still. Georgie strich beruhigend ihre Schulter. „Bleib ruhig liegen!

    Kugeln flogen über ihre Köpfe hinweg. Bei jedem lauten Knall zuckte Georgie zusammen. Die Versuchung, sich die Ohren zuzuhalten, war groß, aber sie wagte es nicht.

    Eine Frau in ihrer Nähe schrie und löste damit eine Kettenreaktion aus. Georgie kam es so vor, als stünde sie in einem Glockenturm, in dem alle Glocken gleichzeitig läuteten. Trotzdem fragte sie sich, ob einige Schreie vielleicht von verwundeten Mitgliedern der Verbrecherbande stammten.

    Hoffentlich nicht. Bitte, Herr, hilf Frank Comer und seinen Männern, sich in Sicherheit zu bringen.

    Wie die übrige Bevölkerung von Texas verfolgte auch sie die Geschichten von Comers Überfällen und seiner Mildtätigkeit gegenüber Alten, Schwachen und Armen ganz genau.

    Der Mann neben ihr bewegte sich. Staub stieg ihr in die Nase und in den Mund und klebte an ihren Zähnen. Sie hob den Kopf nur ein kleines bisschen und wischte sich mit dem Handschuh über die Lippen. Eine Kugel durchschnitt gefährlich dicht über ihr die Luft.

    Sie drückte sich wieder flach nach unten und versuchte zu ignorieren, dass sich eine Hutnadel in ihre Kopfhaut bohrte. Stattdessen konzentrierte sie sich auf das Poltern der Pferdehufe, das sie unter sich spürte, und staunte darüber, dass die Erde als Reaktion auf die flüchtenden Männer und Tiere erzitterte.

    Rosella begann zu wimmern. Georgie rollte sich zusammen, zog das Kind näher an sich heran und murmelte ein paar tröstende Worte. „Hab keine Angst, mein Kind, es ist gleich vorbei."

    Genauso schnell wie sie begonnen hatte, endete die Auseinandersetzung zwischen den Banditen und dem herbeistürmenden Gesetzesvertreter. Das Zittern der Erde, die Schüsse, die Rufe … alles verstummte plötzlich. Georgie blieb wie erstarrt auf der Erde liegen. Das rhythmische Zischen des Dampfes drang aus den Zylindern der Lokomotive. Der Geruch nach Kohle und Öl vermischte sich mit dem Geruch von Schießpulver.

    Es dauerte nicht lange, dann begann ihr Kopf an der Stelle zu pochen, an der die Haarnadel sie piekte. Ein Stein unter ihren Röcken bohrte sich in ihre Hüfte. Eine Stelle an ihrem linken Fuß juckte in ihrem Stiefel. Und der Staub kitzelte immer noch in ihrer Nase.

    „Können wir aufstehen?", flüsterte Rosella.

    Die Männer erhoben sich bereits und halfen den Frauen und Kindern auf die Beine.

    „Rosella!", schrie eine Frau.

    „Mama! Das Mädchen rappelte sich schnell auf die Beine. „Ich habe meinen Hut nicht verloren. Er ist noch im Zug.

    Die Antwort der Mutter verstand Georgie nicht, aber sie sah, wie die Frau ihre Tochter umarmte und die beiden sich dann aufgeregt miteinander sprechend fortbewegten.

    „Es ist vorbei, Miss. Sie können jetzt aufstehen." Die große, fleischige Hand eines Mitreisenden tauchte in Georgies Blickfeld auf.

    Sie versuchte, sich daran festzuhalten, aber ihre Röcke hatten sich hoffnungslos um ihre Beine gewickelt, und sie konnte nicht aufstehen.

    „Entschuldigen Sie, Miss." Er packte sie an der Taille, schwang sie hoch und stellte sie auf die Beine.

    Sie schluckte einen überraschten Aufschrei hinunter. „Danke, Sir."

    Auch mit Hut war ihr untersetztes Gegenüber ungefähr fünf Zentimeter kleiner als sie. „Es besteht kein Grund zur Angst. Offenbar hat ein Texas Ranger von Comers Plänen Wind bekommen und ist zu unserer Rettung geeilt."

    Sie schüttelte ihre Röcke aus und warf einen Blick zur Lokomotive. Dort stand der Zugführer mit einem Mann, dessen Gesicht sie nicht erkennen konnte, da die Sonne inzwischen untergegangen und die Dämmerung aufgezogen war. Aber sie konnte seine Silhouette sehen.

    Groß. Breitschultrig. Muskulös. Und von sich eingenommen.

    „Wo sind die anderen? Die Stimme des Zugführers zitterte vor Wut. „Sie haben den Safe leergeräumt und dann die Reisenden aus den Personenwaggons geführt. Jetzt ist Comer längst über alle Berge. Ihr solltet in der ganzen Gegend auf Patrouille sein.

    „Das sind wir auch. Wir sind hier schon seit Wochen in der Gegend und haben uns entlang dieser Strecke aufgeteilt."

    „Aufgeteilt?, rief der Zugführer entrüstet und wedelte mit den Armen. „Sie meinen, dass Sie allein sind? Ihr seid nicht in großen Gruppen zusammen? Das ist ja nicht zu glauben.

    „Natürlich nicht."

    „Sind Sie verrückt? Das war die Comer-Bande! Die hätten uns alle umbringen können!"

    Georgie runzelte die Stirn. Comer war doch kein Mörder. Er war ein … ein freundlicher Dieb, der, laut den Zeitungen, mehr Menschen half als schadete.

    Die Brust des Rangers blähte sich auf, als dieser tief einatmete. „Hören Sie zu, alter Mann. Ein Ranger reicht. Es wurde ja auch nur ein Zug ausgeraubt, oder?"

    Georgie zog eine Braue in die Höhe. Vielleicht genügte ein einziger Ranger, um die Comer-Bande in die Flucht zu schlagen, aber es wären viel mehr nötig, um die Bande zu verhaften.

    Mit einer gewissen Genugtuung wanderte ihr Blick zum Wald. Sie erstarrte. Sechs Bandenmitglieder lagen gefesselt auf der Erde.

    Ihr stockte der Atem. Ein einziger Ranger hatte das alles gemacht? Ihr Blick glitt über die Männer mit den Tüchern vor den Gesichtern, aber im immer schwächer werdenden Licht konnte sie sie kaum erkennen. Comer war jedoch nicht darunter, wie sie aus den Worten des Zugführers schloss.

    „Vielleicht ist ein einziger Ranger ja genug", er beugte sich vor, „solange nicht Sie dieser Ranger sind. Comer entwischt Ihnen doch immer wieder. So wie ich es sehe, ist die Chance, dass Sie Comer fassen, genauso groß wie die, dass ein Hase einen Kojoten fängt."

    Der Ranger ballte die Fäuste und spannte sich sichtlich an. Dann drehte er sich um und schritt auf die Fahrgäste zu.

    „Das muss Lucious Landrum sein, flüsterte der untersetzte Mann vor Georgie seiner Frau zu. „Er ist seit fast einem Jahr hinter Comer her. Schau dir nur an, wie er angezogen ist! Ganz teure Sachen.

    Georgie betrachtete den Ranger, konnte aber angesichts der schlechten Lichtverhältnisse nicht erkennen, was er anhatte, geschweige denn, welche Qualität seine Kleidung hatte. Sie konnte nur einen Cowboyhut, eine Weste und einen Revolvergurt mit zwei Holstern sehen.

    „Lu-ci-ous, wiederholte seine Frau und zog die Silben in die Länge. „Was für ein seltsamer Name. Und schau dir nur seinen Bart an. Ich dachte, er trägt einen ordentlich gestutzten Schnurrbart.

    „Normalerweise schon. Aber du hast ihn ja gehört: Er ist seit Wochen unterwegs."

    Der Ranger blieb ein Stück von ihnen entfernt stehen und befragte zwei Männer, die vorne in der Reihe standen. Eine Frau in schwarzer Trauerkleidung begann, leise zu schluchzen.

    „Wir werden es bald wissen. Der untersetzte Mann senkte die Stimme noch weiter. „Wenn seine Revolver Elfenbeingriffe haben und in die rechte Pistole ein Junge und in die linke, die dicht bei seinem Herzen steckt, ein Mädchen eingeschnitzt sind, ist es Landrum.

    Der Schaffner tauchte mit einer Laterne aus dem Zug auf und brachte sie zu dem Ranger hinüber, der jetzt nur noch ein paar Meter von Georgie entfernt war. Sie konnte nun einen eleganten weißen Stetson erkennen. Einen buschigen Bart. Ein olivfarbenes Hemd. Eine schwarze Krawatte. Und einen Revolvergurt, der um seine Hüften geschlungen war. Eine massive Schnalle aus Gold und Silber hielt den Gürtel zusammen. Sie strengte ihre Augen an, konnte die Pistolengriffe aber nicht erkennen.

    „Und Sie haben nichts gesehen?, fragte Landrum den kleinen Mann und seine Frau. „Nichts gehört? Überhaupt nichts?

    „Sie haben immer wieder gesagt: ‚Hände hoch!‘", erwiderte die Frau.

    Landrum rieb sich die Augen. Da sein Hut einen Schatten warf und er einen Vollbart trug, war sein Gesicht genauso wenig zu erkennen wie das der Banditen. „Irgendein Erkennungsmerkmal, Ma’am? Ein entstelltes Auge, eine Narbe? Jede Kleinigkeit könnte uns weiterhelfen."

    Das Ehepaar wechselte einen Blick, als würde ihnen das helfen, sich an etwas Wichtiges zu erinnern. Aber Georgie wusste, dass der Ranger hier nur seine Zeit vergeudete. Frank Comer war in Texas eine Legende. Er ritt schnelle Pferde, raubte Züge aus, überlistete die Gesetzeshüter und verteilte seinen neu erworbenen Reichtum unter den Menschen. Georgie hatte keine Zweifel, dass der Mann an jede Tür in diesem Bundesstaat klopfen könnte und mit offenen Armen aufgenommen werden würde und dass man ihm zu essen und Unterschlupf geben würde.

    Nein. Die Fahrgäste dieses Zuges würden selbst Berühmtheit erlangen und die Geschichten von Comer noch viele Monate weitererzählen.

    Es gelang den Umstehenden nicht, die weinende Frau zu trösten, die zunehmend hysterischer wurde. Ihr Schluchzen erinnerte an eine Säge, die durch Holz schneidet.

    Landrum schaute schließlich in ihre Richtung. „Ist sie verletzt oder hat sie bloß Angst?"

    Angesichts seiner groben Worte richtete sich Georgie zu ihrer vollen Größe auf. Sie öffnete den Mund, um die Frau zu verteidigen, aber die Witwe antwortete ihm selbst.

    „Keines von beidem, Sir. Ich bin vor Dankbarkeit überwältigt. Als Mr Comer erfuhr, dass ich nach der Beerdigung meines Mannes Henry alles verloren hatte, hat er mir das hier gegeben." Sie zeigte ihm eine Handvoll Goldmünzen.

    „Er hat mir meine Waffe abgenommen, rief ein Mann weiter hinten in der Reihe, „aber dann hat er nur die Patronen herausgenommen und sie mir wieder zurückgegeben.

    „Er hat mein Heft unterschrieben." Ein Junge mit Krawatte und kurzer Hose hielt sein Groschenheftchen in die Höhe. Georgie hatte ihn im Zug darin lesen sehen. Auf dem Umschlag war eine bunte Zeichnung zu sehen, die einen maskierten Mann mit freundlichen Augen darstellte. In dicken Lettern stand darüber: Die Legende von FRANK COMER.

    Ranger Landrum richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Witwe. „Dieses Geld gehört der ‚Texas & Pacific‘, Ma’am. Ich muss Sie auffordern, es zurückzugeben."

    Die Witwe zog die Hand zurück, dann kniff sie die Augen zusammen, öffnete den Kragen ihres Kleides und ließ die Münzen in ihr Mieder gleiten.

    Landrum trat einen Schritt auf sie zu. „Das hätten Sie nicht tun sollen, Ma’am."

    Sie knöpfte ihren Kragen wieder zu und hielt dem Blick des Rangers stand, ohne mit der Wimper zu zucken. „Ich bin müde, Sir. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen, ich kehre in den Zug zurück."

    Die Frau rauschte an ihm vorbei und forderte ihn mit ihrem Blick heraus, es ja nicht zu wagen, sie aufzuhalten.

    Georgie biss sich innen in die Wangen. Jede Unterstützung von Seiten der Zugreisenden, die Landrum vielleicht bekommen hätte, hatte er in dem Moment verspielt, in dem er die Witwe so unfreundlich behandelt hatte. Und sie hatte das Gefühl, dass er sich dessen auch bewusst war.

    Sein wütender Blick wanderte zu dem Jungen mit dem Romanheft.

    „Nein!", schrie der Kleine und presste sich Hilfe suchend an seine Mutter.

    Sie schwang ihn auf die Arme, drückte ihn fest an sich und ging ebenfalls zum Zug zurück. Die übrigen Fahrgäste folgten ihrem Beispiel und machten einen weiten Bogen um Texas Ranger Lucious Landrum.

    Kapitel 2

    Telefonvertreter? Lucious starrte seinen Vorgesetzten entsetzt an. „Ich soll als verdeckter Ermittler arbeiten? Und mich als Telefonvertreter ausgeben?

    „Und Telegrafenleitungen reparieren." Captain Heywood blickte nicht einmal auf und bewegte ungerührt eine kratzende Feder über ein Blatt Papier.

    „Sie machen wohl Witze."

    „Sehe ich so aus, als würde ich Witze machen?"

    Obwohl die Fensterläden vor den Fenstern des Büros im Ranger-Hauptquartier zum Schutz vor der Mittagssonne dicht verschlossen waren, trug der Captain seinen silbergrauen Stetson. Und Lucious musste nicht unter die Hutkrempe lugen, um zu wissen, dass der Mann keine Witze machte. Er hatte diesen Tonfall schon oft gehört.

    „Sir, ich halte es für einen Fehler, verdeckt zu ermitteln. Mein Ruf als Ranger wird Comer schon aufscheuchen."

    „Wie beim letzten Mal und beim Mal davor und beim Mal davor?" Das Kratzen der Feder wetteiferte mit dem Klicken des Ventilators an der Decke.

    „Ja, mit allem nötigen Respekt. Genauso wie in diesen Fällen."

    Die Feder erstarrte. Die Krempe des Stetsons hob sich langsam. „Darf ich Sie erinnern, Landrum, dass diese Versuche alle fehlgeschlagen sind."

    „Ich habe ihn jedes Mal erfolgreich aufgescheucht, Sir. Ich habe ihn nur noch nicht festgenommen."

    Die Haut, die von den zahllosen Jahren auf Verbrecherjagd wettergegerbt war, war genauso sehr ein Markenzeichen seines Berufs wie der fünfzackige Stern auf der Jacke des Captains. „Unser Ziel ist es aber, ihn festzunehmen."

    „Genau das ist mein Plan. Ich werde ihn festnehmen. Aber wenn ich verdeckt ermittle, bin ich zwangsläufig zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, um ihn aufzuspüren. Und während dieser Zeit könnte er noch ein Dutzend Züge ausrauben. Wenn Sie mir einen Trupp Männer geben, könnten wir nach Washington County reiten, ihn aufscheuchen, und dann hätte ich ihn."

    Heywood steckte die Feder in die Halterung und lehnte sich auf dem Holzstuhl zurück, der fast genauso alt war wie er und protestierend knarrte. „Das haben Sie letztes Mal auch gesagt."

    „Ich habe sechs seiner Männer verhaftet."

    „Aber keiner von diesen Männern redet."

    „Wir haben herausgefunden, dass Comer untergetaucht ist. Wir haben herausgefunden, dass er und seine Männer Land in Washington County besitzen. Dass sie sich zwischen ihren Raubzügen auf ihren Farmen verkriechen."

    „Das hatten wir bereits vermutet."

    „Und jetzt hat sich dieser Verdacht bestätigt."

    „Von den Zugreisenden haben Sie aber nichts erfahren."

    Lucious’ Kinn spannte sich an. „Die Leute schützen ihn, Sir. Sie glauben, was in den Zeitungen steht. Er spielt den Leuten etwas vor. Sie haben keine Ahnung, wie er wirklich ist."

    Heywood legte die Ellbogen auf die Stuhllehne und verschränkte die Finger. „Sie müssen nicht verdeckt ermitteln, Lucious."

    Lucious erlaubte sich den ersten freien Atemzug, seit er das Büro betreten hatte. „Danke, Sir."

    „Ich schicke Harvey. Er hat bestimmt nichts dagegen, getarnt zu ermitteln."

    „Nein."

    Heywood zog eine Braue in die Höhe. „Nein?"

    „Ich brauche weder Harvey noch sonst jemanden, der meine Arbeit macht."

    „Gut. Heywood beugte sich vor und kramte in einem Papierstapel, von dem kleine Staubwolken aufstiegen. „Sie melden sich bei … Er zog ein Blatt Papier aus dem Stoß, legte es vor Lucious auf den Schreibtisch und klopfte mit dem Fingernagel darauf. „… bei einer Miss Georgie Gail. Sie ist Telefonistin der ,Southwestern Telegraph & Telephone Company’. Man hat ihr gesagt, dass ein Techniker kommt."

    Lucious überflog den Auftrag:

    NAME: Lucious Landrum

    KOMPANIE: A

    DECKNAME: Luke Palmer

    BERUF: Telefonvertreter und -monteur, einschließlich Rechnungstellung und Buchhaltung

    EINSATZORT: Brenham, Texas

    ARBEITSPLATZ: Büro von Georgie Gail, Telefonistin der Southwestern Telegraph & Telephone Company

    Lucious blickte auf. „Luke Palmer, Sir?"

    Heywood hatte sich schon wieder den Unterlagen zugewandt, an denen er zuvor gearbeitet hatte. „Ich dachte, das könnten Sie sich leicht merken, da ‚Luke‘ eine Abkürzung von ‚Lucious‘ ist und ‚Palmer‘ der Geburtsname Ihrer Mutter."

    Lucious fuhr sich mit der Hand über den Mund. „Wäre es in Ordnung, wenn ich nur die Reparaturen und die Buchhaltung mache?"

    „Haben Sie etwas dagegen, Telefone zu verkaufen?"

    „Ehrlich gesagt, ja. Das ist unehrenhaft, Sir."

    Heywood hob abrupt seinen Kopf und kniff die Brauen zusammen. „Unehrenhaft? Wie darf ich denn bitte diese Aussage verstehen?"

    „Diese Dinger sind unzuverlässig. Selbst unter den besten Bedingungen funktionieren sie kaum, aber in Notfällen versagen sie fast grundsätzlich. Sie wiegen die Leute in falscher Sicherheit. Ich möchte nichts damit zu tun haben."

    Wenn er seine Bedenken einem anderen gegenüber geäußert hätte, hätte er nur verständnislose Blicke geerntet. Aber Captain Heywood kannte ihn. Er wusste besser als jeder andere, welches Misstrauen Lucious modernen Kommunikationsmitteln entgegenbrachte.

    „Sie sind der beste Mann, den wir haben, Lucious, sagte der Captain jetzt mit weniger harter Stimme. „Und ich brauche Sie. Aber ich habe diesen Auftrag mit gewissen Vorbehalten unterschrieben. Der Sheriff von Washington County ist inkompetent. Die Stadtbewohner halten Comer für einen Helden. Und Sie neigen dazu, bei so etwas leicht die Geduld zu verlieren. Ich habe schon öfter überlegt, ob Sie wirklich der richtige Mann für diesen Auftrag sind.

    Wenn Heywood ihm einen Hieb in den Magen versetzt hätte, hätte er ihn nicht stärker treffen können. Er blickte schon sein ganzes Leben lang zu diesem Mann auf. Für ihn zu arbeiten war ein Privileg. Eine Ehre. Die Entdeckung, dass sein Captain an ihm zweifelte, war fast unerträglich.

    „Gibt es so etwas wie ein Handbuch?, fragte Lucious. „Ich habe keine Ahnung von Telefonen.

    Heywood war so freundlich, nicht zu lächeln, aber Lucious sah ihm an, dass er zufrieden war. Er zog eine Schublade auf und holte ein hellblaues Büchlein heraus. „Nehmen Sie das hier. Es ist ein Reparatur- und Verkaufshandbuch. Sie müssen es von der ersten bis zur letzten Seite lesen und sich so schnell wie möglich mit dem Inhalt vertraut machen. Es kostete mich einige Überredung, die SWT&T zu überzeugen, dass wir einen unserer Männer bei ihnen einschleusen dürfen."

    „Die SWT&T?"

    „Die ‚Southwestern Telegraph & Telephone Company‘. Sie wollen ihr Telefonnetz ausbauen. Ich habe ihnen versichert, dass ich meinen besten Mann schicke und dass er für sie viele Telefone verkaufen wird."

    Lucious verzog keine Miene. „Ich werde mich bemühen, Sir."

    „Gut."

    Er nahm das Handbuch und ging zur Tür.

    „Landrum?"

    Lucious drehte sich um.

    Die Miene des Captains war unerbittlich. „Ich will ihn haben. Wenn möglich, lebend. Wenn es nicht anders geht, auch tot. Aber ich will ihn. Wenn er Ihnen ein weiteres Mal durch die Lappen geht, setze ich Harvey auf ihn an."

    „Ich werde Ihnen den Verbrecher bringen, Sir." Als er durch die Tür schritt, kostete es ihn seine ganze Selbstbeherrschung, sie nicht hinter sich zuzuknallen.

    Endlich konnte Luke einen ersten Blick auf Brenham werfen, eine vorwiegend von deutschen Einwanderern bewohnte Stadt. Er saß in einem Anfängersattel, auf den sich normalerweise kein Ranger freiwillig setzen würde, auf einem gescheckten Pferd. Während seines fünftägigen Ritts von Alice nach Washington County hatte er die dreiundzwanzig Regeln für Mitarbeiter auswendig gelernt, die im Handbuch der SWT&T standen.

    Regel 1: Achten Sie auf ein gepflegtes Äußeres. Es ist nicht nötig, maßgeschneiderte Anzüge zu tragen; genauso wenig ist es nötig, wie ein Kohlenschlepper auszusehen. Eine Latzhose kann respektabel wirken, aber man muss ihr ansehen, dass sie regelmäßig gewaschen wird; und die Schuhe müssen regelmäßig mit Schuhcreme in Berührung kommen.

    Er hasste es. Keinen Stetson. Keine eleganten Cowboystiefel. Keinen Revolvergurt. Keinen Padgitt-Sattel. Keinen Schnurrbart. Nicht einmal eine richtige Hose! Er hatte seine Pistolen – Odysseus und Penelope – zusammen mit seiner Dienstmarke in einem speziell dafür konstruierten Fach seines Koffers versteckt.

    Seine schwarz-weiß gescheckte Tobiano-Stute schüttelte ihre Mähne. Zweifellos ein empörter Protest dagegen, dass sie mit diesem schrecklichen Sattel auf dem Rücken durch die Stadt traben musste. Er hatte die Stute in der vergangenen Woche erworben, und obwohl er in allen anderen Punkten seine Maßstäbe zurückgeschraubt hatte, zog er bei Pferden eine Grenze. Wenn etwas Unerwartetes geschah, wollte er ein Pferd haben, auf das er sich verlassen konnte.

    Er tätschelte den Hals der Stute und murmelte ihr mitfühlende Worte zu, während er sie auf eine Holzbrücke lenkte, die den Hog Branch River überquerte. Die pochenden Hufe erregten die Aufmerksamkeit einiger Jungen, die ihre Hosenbeine hochgekrempelt hatten und mit Elritzennetzen im Wasser standen. Sie wateten am Ufer entlang, blieben jetzt aber stehen und winkten.

    Luke tippte grüßend an seinen Hut. Sobald seine Fingerspitzen die Krempe berührten, wurde er wieder daran erinnert, dass er seinen Stetson hatte wegpacken müssen. Anstelle des feinen Biberfells trug er jetzt einen braunen Farmershut, der, falls er Sears, Roebuck & Co. glauben schenken konnte, jedem Wetter standhalten würde. Er hatte sich die ganze Woche bemüht, ihn schmutzig zu machen, genauso wie seine neuen Latzhosen und seine Arbeitsstiefel. Hoffentlich sahen sie getragen, aber trotzdem anständig genug für einen Mitarbeiter der SWT&T aus, der für Reparaturen verantwortlich war.

    Ein leichter Wind zog über den Fluss, und die Blätter einer Eiche flatterten wie die Rockschöße von Männern, die sich auf der Flucht befanden. Mit dem Wind kam der Duft des Frühlings. In der Ferne rief eine Wachtel.

    Er ließ seinen Blick über das Gelände schweifen und vermutete ihr Versteck entweder in der Stechpalme oder auf dem Mesquitebaum. Er hatte sie fast erreicht, als die Wachtel plötzlich aus dem Mesquitebaum flatterte und sein Pferd aufschreckte.

    Während er Honey Dew mit einer Hand zügelte, „zog er mit der anderen Hand, deutete mit dem Finger auf den Vogel und drückte mit dem Daumen ab. „Peng, murmelte er. „Treffer."

    Die Wachteljagd liebte er genauso sehr wie die Jagd auf Verbrecher. Es gefiel ihm, wie diese bis zur letzten Sekunde in ihrem Versteck blieben und dann plötzlich in die Luft schossen und ihm nur den Bruchteil einer Sekunde Zeit ließen zu zielen. Natürlich nicht mit einer Pistole, sondern mit seiner Remington. Aber er hatte seine Schrotflinte zurücklassen müssen. Für die Verfolgung von Verbrechern brauchte er sein Gewehr. Er rückte die 1895er-Winchester, die in einer langen Gewehrtasche auf der linken Seite seines Pferdes steckte, zurecht und hielt dann nach weiteren Vögeln Ausschau.

    Er hatte Comer genauso aufgescheucht wie die Wachtel. Dreimal. Aber jedes Mal hatte Comer entweder gewusst, dass er kam, oder er hatte göttlichen Beistand gehabt. Jedenfalls befand sich Luke deshalb jetzt in dieser unerfreulichen Situation.

    Er seufzte tief. Es wäre nicht so schlimm, wenn die Männer sich wie eine typische Bande gemeinsam am selben Ort verkriechen würden. Dann hätte er sie nur aufspüren und verhaften müssen.

    Aber nichts an Comer war typisch. Er ließ sich Zeit. Er dachte voraus. Und er hatte die Unterstützung der Bürger.

    Er verteilte seine Männer in der ganzen Gegend. Er sorgte dafür, dass sie ihre Felder bestellten, bis sich nach jedem Überfall der Staub wieder ein wenig gelegt hatte.

    Luke verlagerte sein Gewicht im Sattel. Soweit er wusste, waren sie schon die ganze Zeit Farmer gewesen. Vielleicht lebten sie seit Generationen in Washington County und kehrten nach jedem Raubüberfall in ein warmes, gemütliches Zuhause zurück.

    Die Männer, die er beim letzten Raubüberfall gefasst hatte, hatten nicht viel verraten, aber das erklärte auf jeden Fall, warum es ihm so schwerfiel, das Versteck zu finden. Das einzige Mal, als er sie fast erwischt hätte, war direkt nach einem Überfall gewesen.

    Ihm bliebe nichts anderes übrig, als sich bei jedem Farmer in der Gegend einzuschmeicheln. Er müsste sich zu ihnen setzen, Kaffee trinken und sich über Belanglosigkeiten unterhalten, bis die Leute ihm so weit vertrauten, dass sie ungezwungen über sich selbst und ihre Nachbarn plauderten. Das würde mindestens den Frühling und vielleicht sogar den Sommer in Anspruch nehmen.

    Er rieb sich die Augen. Telefonvertreter. Er hasste Telefone. Er hasste jede Form von Kommunikation, bei der man von Geräten abhängig war, die von Menschen gemacht worden waren. Er erinnerte sich noch ganz genau daran, wie es in seiner Heimatstadt Indianola ausgesehen hatte, nachdem sie von einem der größten Wirbelstürme getroffen worden war, die die Vereinigten Staaten je erlebt hatten. Bäume waren entwurzelt worden. Ganze Gebäude waren verschwunden. Telegrafenleitungen zerstört. Es war unmöglich gewesen, mit Pferden durchzukommen. Und vier Kilometer Eisenbahnschienen waren zerstört worden. Ein Bild von kompletter Zerstörung bot sich damals.

    Aber nichts davon hatte Captain Heywood, der damals noch ein junger Ranger ganz am Anfang seiner Berufslaufbahn gewesen war, aufhalten können. Luke war zehn Jahre alt gewesen, als Heywood groß und stocksteif im Sattel gesessen hatte und langsam durch den Schutt geritten war, der noch eine Woche zuvor eine blühende Küstenstadt gewesen war. Er hatte beim Aufräumen geholfen. Er hatte den Verwundeten geholfen. Und er hatte geholfen, Lukes Vater zu beerdigen, der bei der Tragödie sein Leben verloren hatte.

    Jetzt musste Luke nicht nur die Menschen dafür begeistern, ihr Geld in diese neuen Bauernfängereien zu investieren, er musste auch noch Zeit mit Nettigkeiten und geselligem Geplauder vergeuden. Es gab wohl nichts, das der Natur von Lucious Landrum so sehr widersprach.

    Regel 11: Seien Sie höflich und zuvorkommend, und scheuen Sie sich nicht, gelegentlich ein wenig humorvoll zu sein. Es schadet niemandem, wenn er ein wenig Humor an den Tag legt.

    Der junge Mann zügelte seine Stute ein wenig, ritt über die Eisenbahnschienen und blieb schließlich vor dem Bahnhof stehen.

    Im Inneren des kleinen Schindelgebäudes bestanden alle Oberflächen aus polierter Eiche – die Wände, der Boden, die Dachbalken, die Bank. Zwei Fahrkartenschalter, die sich direkt gegenüber der Eingangstür befanden, waren mit mehreren vertikalen Holzgitterstäben versperrt. Aber niemand stand dahinter.

    Rechts von ihm drängte sich eine Gruppe von Jungen zwischen fünf und zwölf Jahren um ein Telefon, das an der Wand befestigt war. Die Hand des größten Jungen verschloss den Sprechtrichter, der Hörer befand sich irgendwo in ihrer Mitte. Plötzlich lachten und kicherten alle laut, aber im nächsten Augenblick ermahnten sie sich wieder gegenseitig zum Schweigen.

    Luke schmunzelte belustigt. Wer auch immer gerade telefonierte, der Inhalt seines Gespräches würde innerhalb weniger Minuten in der ganzen Stadt bekannt sein.

    Ein neuerlicher Lachanfall ließ die Jungen nach hinten taumeln, wodurch dem größten der Sprechtrichter aus der Hand glitt. Mehrere hielten sich den Bauch und krümmten sich vor Lachen. Einer warf sich in dem Versuch, die anderen zu übertrumpfen, auf den Boden. Das schallende Gelächter hallte von den Bahnhofswänden wider.

    Grinsend trat Luke auf den Fahrkartenschalter zu, um nach dem Weg zu fragen. Bevor er jedoch dort ankam, flog die Eingangstür auf. Ein Mädchen von ungefähr neun Jahren stapfte herein.

    „Jungs! Es reicht!" Sie baute sich in ihrer hochgekrempelten, weiten Latzhose breitbeinig und mit den Fäusten in die Hüften gestemmt vor ihnen auf. Wenn er die schmutzigen Zöpfe, die auf ihren Schultern lagen, nicht gesehen hätte, hätte er wahrscheinlich gar nicht gemerkt, dass er ein Mädchen vor sich hatte.

    Die Kleine marschierte in die Gruppe hinein und stieß sie zur Seite, als wären sie die Schwingtüren zu einem Saloon. Die Jungen, die immer noch lachten, ließen sich von ihr herumstoßen … bis sie versuchte, dem ältesten Jungen den Hörer aus der Hand zu nehmen. Er hob sofort den Arm hoch, damit sie nicht an den Hörer herankommen konnte.

    „Gib mir den Hörer, Kyle!"

    „Komm doch und hol ihn dir, Bettina!"

    „Miss Georgie schickt mich. Gib ihn mir!"

    Luke warf einen Blick zum Fahrkartenschalter. Ein alter Mann mit Brille und buschigen, weißen Brauen verfolgte die Szene, unternahm aber keine Anstalten, dem Mädchen zu helfen. Die Herausforderung des Jungen schien ihn höchstens zu belustigen.

    Bettina schob sich erregt einen Zopf auf den Rücken. „Ich komme auf jeden Fall ran und hole mir dieses Ding. Du weißt, dass ich das kann."

    „Dann zeig mir doch, wie du das anstellen willst."

    Das Gelächter verstummte. Luke spannte sich an.

    Der Junge war dürr wie eine Bohnenstange und hatte offenbar einen kräftigen Wachstumsschub hinter sich. Eine winzige Ansammlung von Barthaaren spross an seinem Kinn und an den Stellen, an denen irgendwann Koteletten wachsen würden. Das war kein kleiner Junge mehr; dieser Junge stand kurz davor, ein Mann zu werden.

    Luke trat auf die Gruppe zu. „Diese kleine Dame hat dich aufgefordert, ihr das Telefon zu geben, Junge."

    Kyle fuhr herum. Genauso wie die anderen Jungen. Offensichtlich hatte keines der Kinder bis jetzt seine Anwesenheit bemerkt.

    „Wer sind Sie denn?"

    „Mr Palmer. Ich arbeite für die Telefongesellschaft. Er zwang sich, seine Schultern zu entspannen und seinen Ton zu mäßigen, und setzte ein freundliches Lächeln auf. „Ich werde mit Miss Gail zusammenarbeiten. Und wenn sie sagt, dass ihr auflegen sollt, dann denke ich, müsst ihr auflegen.

    „Ich brauche Ihre Hilfe nicht, Mister, brummte Bettina. „Ich kann mich selbst durchsetzen.

    Er wandte den Blick nicht von Kyle ab. Der Junge zögerte. Luke sah ihm an, dass er nicht sicher war, auf wen er hören sollte.

    Tu es nicht, dachte Luke. Ich soll nett sein. Ich muss nett sein.

    Der Junge hob das Kinn. „Die Kurze hat recht, Sir. Das geht Sie nichts an."

    Schneller als eine Klapperschlange schnappte sich Luke den Hörer und reichte ihn dem Mädchen. „Danke, Kyle. Und ich glaube, die ‚Kurze‘ heißt Bettina. Ich würde vorschlagen, dass du sie mit ihrem Namen ansprichst."

    Ein bewunderndes Raunen ging durch die Reihe. Luke tadelte sich im Stillen. Er hatte nicht so schnell sein wollen. Er entwaffnete schon so lange Männer, dass er nicht einmal mehr nachdachte. Er handelte einfach.

    Gott sei Dank waren nur Kinder und ein alter Mann Zeugen seiner Schnelligkeit gewesen. Falls sie diese Episode weitererzählten, würde jeder annehmen, dass sie nur übertrieben.

    Er ließ seinen Blick über die Gruppe schweifen. „Schluss mit lustig, Jungs. Verschwindet jetzt. Ich werde euch sicher bald wieder in der Stadt sehen."

    Die Jungen schauten ihren Anführer an.

    „Kommt, Leute. Hier drinnen stinkt es so sehr, dass es selbst in einem Stall besser riecht."

    Sei nett. Du musst

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