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Liebe wider Willen: Roman.
Liebe wider Willen: Roman.
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eBook396 Seiten3 Stunden

Liebe wider Willen: Roman.

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Über dieses E-Book

North Carolina, Ende des 19. Jahrhunderts: Als die junge Tillie Reese ihre Stelle in Biltmore House antritt, ist sie von dem Luxus fasziniert, der sie dort umgibt. Und von Mack Danvers, einem alles andere als angepassten jungen Mann aus den Bergen, der anfängt, im Haushalt der Familie Vanderbilt zu arbeiten. Als Tillie den Auftrag bekommt, Mack Benehmen beizubringen, funkt es zwischen den beiden. Doch ist die junge Frau bereit, sich von ihrem Lebenstraum zu verabschieden, als Zofe von Edith Vanderbilt durch die ganze Welt zu reisen? Und überhaupt: Was ist Gottes Wille für ihr Leben?
SpracheDeutsch
HerausgeberGerth Medien
Erscheinungsdatum5. Sept. 2013
ISBN9783961220632
Liebe wider Willen: Roman.

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    Buchvorschau

    Liebe wider Willen - Deeanne Gist

    Über die Autorin

    Deeanne Gist hat bislang neun Romane verfasst, von denen bislang sechs auf Deutsch erschienen sind („Die widerspenstige Braut, „Die unbeugsame Dame, „Die eigenwillige Jungfer, „Das kratzbürstige Frauenzimmer, „Eine Braut auf Bestellung und „Auf verborgenen Wegen). Sie ist verheiratet, hat vier erwachsene Kinder und lebt in Texas.

    Deeanne Gist

    Liebe

    wider Willen

    Roman

    Aus dem Englischen übersetzt

    von Silvia Lutz

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    Das amerikanische Original

    erschien im Verlag Bethany House Publishers

    unter dem Titel „Maid to Match".

    © 2010 by Deeanne Gist

    © 2013 der deutschen Ausgabe by Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 Asslar

    1. Auflage 2013

    ISBN 978-3-96122-063-2

    V002

    Umschlaggestaltung: Hanni Plato; Jennifer Parker

    Umschlagfotos: Mike Habermann; Alamy

    Bearbeitung: Nicole Schol

    Satz: DTP Verlagsservice Apel, Wietze

    Kapitel 1

    Biltmore Estate

    In der Nähe von Asheville, North Carolina

    August 1898

    Wie ein Schmetterling, der sich aus dem Kokon befreit, der ihn gefangen hält, ließ Tillie Reese den kahlen, in Brauntönen gehaltenen Dienstbotenbereich hinter sich und tauchte in den Luxus von Biltmores Erdgeschoss ein. Diese Stunden vor Tagesanbruch liebte sie am meisten. Alles war noch dunkel, niemand rührte sich, und sie hatte das gesamte Stockwerk – das gut und gern zweitausend Quadratmeter einnahm – ganz für sich allein.

    Sie war diesen Weg schon unzählige Male gegangen und fand sich auch ohne Kerze oder Lampe gut zurecht. Einen Moment lang stellte sie sich vor, sie wäre die Herrin dieses Schlosses. Elegant gekleidet glitt sie über das Parkett und sann darüber nach, ob der Küchenchef an diesem Tag Petites Bouchées oder Puits d’amour zubereiten sollte. Ob sie an diesem Morgen Yeats, Browning oder Dickens lesen sollte. Ob sie die Kutsche kommen lassen und eine Spazierfahrt unternehmen oder auf einem der Vollblutpferde, die im Stall standen, einen Ausritt machen sollte.

    Die junge Frau verstärkte ihren Griff um die Dienstbotenkiste und atmete tief ein. Der Duft der Politur, die sie aus Leinöl, Essig, Terpentin und Wein zubereitet hatte, kitzelte in ihrer Nase. Sie gestattete sich einen Nieser. Das wäre streng verboten gewesen, wenn jemand in der Nähe gewesen wäre.

    Das Klappern ihrer Absätze hallte in dem großen, weitflächigen Raum wider, als sie das Atrium durchquerte, das mit Palmen, exotischen Pflanzen, blühenden Sträuchern und einer großen Fontäne, die erst noch eingeschaltet werden musste, ausgestattet war. Schließlich erreichte sie die Gobelin-Galerie und blieb stehen. Sie lauschte der Stille und genoss die Anonymität der Dunkelheit.

    Es werde Licht.

    Sie betätigte den weißen Schalter. Elektrische Lichter strahlten auf und beleuchteten einen Raum, der so lang war, dass zwei bescheidene Häuser darin Platz gefunden hätten. Mehrere Gruppen von salbeifarbenen Brokatsofas und -sesseln füllten den Raum. Riesige Wandteppiche säumten eine Wand. Ihnen gegenüber befanden sich große Fenster und Türen, die auf die Terrasse hinausführten.

    Das leise Summen der Edison-Glühbirnen wünschte ihr einen guten Morgen. Die Aufregung und das Staunen über die elektrischen Lichter erfüllte sie jedes Mal wieder aufs Neue. Aber an diesem Morgen rang noch etwas anderes um ihre Aufmerksamkeit, und plötzlich fühlte sie sich in dem hellen Licht bloßgestellt, verwundbar und nackt.

    Die junge Frau drückte auf den schwarzen Knopf. Sogleich umhüllte die Dunkelheit sie wieder, so als hätte sie den Deckel einer Truhe zugeschlagen. Alles war still. Nicht das leiseste Flüstern war zu hören.

    Sie hielt den Atem an und spürte, wie ihr Herz in ihrer Brust hämmerte. Und sie gab den Gedanken, die sie seit dem Vorabend verdrängt hatte, Raum.

    Bénédicte ging weg. Sie kehrte nach Frankreich zurück und ließ die neue Mrs Vanderbilt ohne Zofe zurück.

    Zofe. Nach der Hausdame die höchstmögliche Stellung für eine Frau. Die Zofe war die Bedienstete, die sich vom ersten Hausmädchen den Morgentee bringen ließ, während das zweite Hausmädchen ein Feuer in ihrem Zimmer anmachte.

    Die Zofe war die Bedienstete, die ein Bad nehmen konnte, sooft sie wollte. Die Mrs Vanderbilt auf ihren Reisen begleitete. Die Mrs Vanderbilt Bücher – Bücher! – vorlas. Von der erwartet wurde, dass sie sich genauso modern kleidete wie Mrs Vanderbilt. Doch der größte Vorteil war der, dass eine Zofe wesentlich mehr Geld verdiente und dadurch ihrer Familie und notleidenden Menschen helfen konnte.

    Tillie würde als erstes Dienstmädchen für diese Stelle sicher in Betracht gezogen werden. Die Hausdame hatte sie vor dem Frühstück zu einem privaten Gespräch zu sich bestellt. So Gott wollte, würde es bei diesem Gespräch um die Stelle gehen.

    Nachdem sie diesem Gedanken noch ein letztes Mal nachgehangen hatte, verbannte sie ihn sorgfältig wieder aus ihrem Kopf. In Fantasien zu schwelgen, während sie die Galerie in Ordnung bringen sollte, war bestimmt nicht der richtige Weg, um zur Zofe befördert zu werden.

    Sie betätigte erneut den weißen Knopf, und schon durchflutete helles Licht wieder den Raum. Wenn das ganze Erdgeschoss bereit sein sollte, bevor der Herr des Hauses und seine frisch angetraute Gattin den Tag begannen, musste sie sich an die Arbeit machen.

    * * *

    Fröhliches Geplapper, Lachen und das Klappern von Geschirr erfüllte den Speisesaal der Dienstboten, aber Tillie war schweigsam. Sie mied den Augenkontakt mit der langen Reihe livrierter Männer, die ihr gegenübersaßen, und mit der genauso großen Zahl an Frauen, die in ihrer Dienstkleidung auf ihrer Seite des Tisches saßen. Besonders achtete sie darauf, nicht zu ihrem Bruder zu schauen. Ein Blick auf Allan genügte und er wüsste, dass etwas geschehen war.

    Das sechzehnjährige Mädchen, das die Dienstboten im Speisesaal bediente, füllte zum zweiten Mal Tillies Milchglas. „Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit, Miss Tillie? Sie haben Ihre Leber und Ihren Speck kaum angerührt."

    „Es schmeckt gut, Nell. Wirklich köstlich."

    Nell warf einen Blick auf die Uhr, sagte aber nichts, während der Minutenzeiger einen Schritt weiter auf die Halbstundenmarke zurückte.

    Tillie nahm einen großen Bissen Kartoffeln. Sie würde schnell essen müssen, wenn sie vor halb neun fertig sein wollte. Aber nach ihrem Gespräch mit der Hausdame weigerte sich ihr Magen, das Essen aufzunehmen.

    „Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?" Mrs Winter, die an der Stirnseite des Tisches saß, sprach ihre Aufforderung nur ein einziges Mal aus. Schlagartig wurde es still im Raum. Als Hausdame unterstand sie direkt den Vanderbilts und hatte damit sogar eine höhere Stellung inne als der Butler.

    Sie wechselte einen kurzen Blick mit diesem, der am anderen Ende des Tisches saß, dann ließ sie ihren Blick über die langen Reihen von Männern und Frauen schweifen, die zwischen ihnen saßen. „Wie Sie wissen, hat Bénédicte beschlossen, nach Frankreich zurückzukehren, sobald Ersatz für sie gefunden wurde."

    Aller Augen richteten sich auf Mrs Vanderbilts Zofe, die direkt rechts von Mrs Winter saß und damit gegenüber von den Laufburschen, den Hilfsbutlern und den Lakaien. Der dunkelgrüne Stoff ihres Kleides, der mit rosa und gelben Blumen durchsetzt war, ließ ihre olivfarbene Haut leuchten.

    Tillie hatte gehört, dass Bénédicte sich aufgrund der Sprachbarriere und der Isolation auf Biltmore nicht ganz wohlfühlte. Sie wollte wieder nach Hause.

    Neben Bénédicte saß Tillie. Rechts von Tillie das erste Zimmermädchen, dann das erste Hausmädchen und so weiter bis zum Ende des Tisches, wo die Wäscherinnen und die Spülmädchen saßen.

    „Statt jemanden aus Frankreich oder England oder auch nur aus Newport zu holen, fuhr Mrs Winter fort, „hat Mrs Vanderbilt beschlossen, eine unserer jetzigen Bediensteten mit Bénédictes Aufgaben zu betrauen.

    Die Aufmerksamkeit richtete sich schlagartig auf Tillie und die drei Mädchen rechts neben ihr, die höchsten weiblichen Dienstboten.

    „Nach reiflicher Überlegung hat sie die Wahl auf Tillie oder Lucy eingegrenzt."

    Dixie Brown beugte sich über ihren Teller und lenkte Tillies Aufmerksamkeit auf sich. Es war unübersehbar, dass ihre Freundin aufgeregt war und sich für sie freute.

    Tillie bedachte sie mit einem leichten Lächeln und warf dann einen Blick auf ihren Bruder. Allan hatte die Brauen zusammengezogen. Sie konnte an seiner Miene nicht ablesen, was er dachte.

    Mrs Winter trank einen Schluck Kaffee. „Bis Mrs Vanderbilt sich auf eine der beiden festlegt, werden Tillie und Lucy einige von Bénédictes Aufgaben übernehmen. Dies führt dazu, dass einige von Ihnen die Arbeiten, die die beiden nicht erledigen können, übernehmen werden."

    Gleich rechts von Tillie saß Lucy Lewers hoch aufgerichtet und selbstsicher auf ihrem Stuhl. Ihre karamellfarbenen Haare hatte sie sauber unter einer schneeweißen Haube hochgesteckt, die nicht mehr als ein Stück Rüschenstoff war. Lange Wimpern in der gleichen Karamellfarbe wie ihre Haare umrahmten ihre Augen. Ihre Haut war makellos, ihr Profil perfekt. Mit leicht erhobenem Kinn schaute sie alle anderen am Tisch an, als stünde ihre Beförderung unmittelbar bevor.

    „Beeilen Sie sich mit dem Essen, tadelte Mrs Winter die Anwesenden. „Die Arbeit ruft.

    * * *

    Allan hielt Tillie auf dem Weg zur Morgenandacht auf.

    „Warum hast du mir nichts verraten?" Er ergriff sie am Arm, schob sie in die Speisekammer und schloss die Tür hinter sich. Er war fünfzehn Zentimeter größer als sie und hatte breite Schultern und genauso dichte, schwarze Haare wie sie.

    „Ich habe es selbst erst vor dem Frühstück erfahren." Sie rieb sich die Stelle, an der er sie etwas zu fest gehalten hatte.

    „Was willst du jetzt machen?"

    Sie neigte den Kopf leicht zur Seite. „Was ich mache? Ich werde mir meine Hände wund arbeiten, wenn es sein muss, und Gott um Gnade bitten. Was glaubst du denn, was ich tun werde?"

    Er rieb sich den Nasenrücken. „Das verändert alles. Dann bist du eine von ihnen."

    Sie wusste, dass die Hausdame, der Butler, der Chefkoch, die Zofe und der Kammerdiener eine Sonderstellung unter den Dienstboten einnahmen. „Aber ich will eine von ihnen sein. Kannst du dir vorstellen, welche Möglichkeiten mir das eröffnet? Und die Bezahlung? Die Kleider? Die Privilegien? Die Reisen?"

    „Die Reisen? Dir wird schon übel, wenn du eine Kutsche nur siehst. Wie willst du das schaffen?"

    Sie versteifte sich. „Ich bin jetzt älter. Ich bin sicher, dass mir das Schaukeln nicht mehr so viel ausmacht wie früher, als ich klein war. Denk doch nur an die Freiheiten, die ich jeden Tag haben werde. Ich kann dann –"

    „Freiheiten?, schnaubte er. „Bei dieser Stelle gibt es so etwas wie Freiheit nicht. Du musst Tag und Nacht springen, wenn die Herrschaft dich ruft.

    „Aber das ist es doch gerade. Ich werde die Vertraute von Edith Stuyvesant Dresser Vanderbilt sein!"

    „Du bist dann aber nicht mehr im dritten Stock bei Dixie und den anderen Mädchen. Du hängst im ersten Stock bei ihr und der großen, mächtigen Mrs Winter fest. Es gibt dann für dich keinen Kuchen, keinen Tee, keinen Tratsch mit uns anderen mehr. Du musst dich mit dem Butler, dem Kammerdiener und dem Chefkoch in Mrs Winters Zimmer zurückziehen."

    „Und ich darf den gleichen Kuchen essen wie die Vanderbilts! Tillie schüttelte ironisch den Kopf. „Das wird bestimmt eine große Belastung sein.

    Er kniff den Mund zusammen. „Du wirst nicht heiraten können."

    Sie runzelte die Stirn. „Keiner von uns kann heiraten. Es sei denn, er will seine Stelle verlieren."

    „Man könnte aber heiraten. Es würde nur bedeuten, dass man nicht mehr im Haus arbeiten kann. Man müsste auf einem von Mr Vanderbilts Höfen oder in der Molkerei oder so etwas arbeiten."

    „Warum sollte ich das wollen, wenn ich doch hier arbeiten kann? Bist du verrückt?" Sie griff nach der Türklinke.

    Er legte seine Hand auf die ihre. „Die Stelle als Zofe raubt dir die besten Jahre deines Lebens, Tillie. Und sobald dein erstes graues Haar zu sehen ist oder die ersten Fältchen auftauchen, ist Schluss damit. Nur die jungen und schönen Mädchen können Zofen sein."

    „Graue Haare? Du erzählst mir etwas von grauen Haaren? Ich bin erst achtzehn."

    „Ich weiß, wie alt du bist."

    „Warum machst du dir dann solche Sorgen? Ich werde einen Teil von meinem Lohn sparen. Und wenn die Zeit kommt, macht es mir nichts aus, meine Stelle aufzugeben, weil ich genug Geld habe, von dem ich für den Rest meines Lebens leben kann."

    „Allein. Ohne jemanden, der dir Gesellschaft leistet. Und ganz bestimmt kannst du dann nicht den Lebensstil beibehalten, den du dir angewöhnt hast."

    Sie verdrehte die Augen und verschränkte die Arme. „Ich dachte, du würdest dich für mich freuen. Wenn ich diese Stelle bekomme, wird Mama auf Wolke sieben schweben."

    „Conrad ist in dich verliebt."

    Sie erstarrte und ließ dann langsam die Arme sinken. „Conrad? Der Lakai?"

    Die junge Frau malte sich den schlaksigen, jungen Mann vor Augen, der so dürr war, dass er seine Strümpfe ausstopfte, um halbwegs ansehnliche Waden zu haben.

    „Kennst du einen anderen Conrad?", gab Allan zurück.

    Wut erfüllte sie. „Er sollte sich das lieber schnell aus dem Kopf schlagen. Ich interessiere mich nicht für ihn und auch für keinen anderen, und falls er mir diese Chance vermasselt, will ich seinen Kopf auf einem silbernen Tablett. Sie pochte ihrem Bruder mit dem Finger auf die Brust. „Verstanden?

    „Du magst ihn nicht einmal ein bisschen? Alle Mädchen machen ihm schöne Augen."

    „Dann sollten sie sich dabei lieber nicht von Mrs Winter erwischen lassen. Sonst verlieren sie nämlich ihre Stelle, nicht er. Sie holte tief Luft. „Ich will diese Stelle, Allan. Ich will sie mehr, als ich jemals irgendetwas anderes in meinem Leben gewollt habe. Du musst Conrad sagen, dass er mich in Ruhe lassen soll. Hörst du?

    Mit einem Seufzen trat er von der Tür weg. „Ja, ich höre, was du sagst."

    Kapitel 2

    Ic h werde mich nicht übergeben. Ich werde mich nicht übergeben.

    Tillie konnte dieses Mantra noch so oft wiederholen, die Übelkeit legte sich einfach nicht. In diesem Augenblick fuhr das Kutschenrad durch ein Schlagloch und rüttelte ihren Magen noch mehr durcheinander. Sie biss die Zähne zusammen und schaute aus dem Fenster, aber als sie sah, dass die Bäume und Blätter wie Ozeanwellen an ihr vorbeirollten, wurde es noch schlimmer.

    Oh, warum konnten wir nicht mit offenem Verdeck fahren?

    In einer offenen Kutsche hatte sie sich viel besser unter Kontrolle. Die geschlossenen Kutschen hingegen bereiteten ihr große Probleme. Denk an etwas anderes.

    Edith Vanderbilt saß ihr gegenüber und las „Der Prinz und der Bettelknabe". Ihr Körper schaukelte im Rhythmus der Bewegungen der Kutsche. Sie hatte braune Haare und nussbraune Augen, war fünfundzwanzig, fast einen Meter achtzig groß und hatte eine so starke Ausstrahlung, dass Tillie sich neben ihr fast klein vorkam, obwohl sie selbst auch einen Meter siebzig groß war.

    Die abgestandene Luft in der Kutsche wurde von Minute zu Minute dicker. Tillies Nasenflügel zogen sich bei dem vergeblichen Versuch, frischen Sauerstoff aufzunehmen, zusammen. Denk an etwas anderes.

    Mrs Vanderbilt hatte Mr Vanderbilt in Paris kennengelernt und geheiratet, obwohl sie ursprünglich aus New York kam. Deshalb entsprachen die Kleider, die sie mitgebracht hatte, der neuesten europäischen Mode.

    Tillies Übelkeit verschlimmerte sich zunehmend. Sie schob einen Finger zwischen ihren Kragen und ihren Hals und hoffte, dass sie dadurch etwas mehr Luft bekam.

    Du bist kein Kind mehr. Du bist eine erwachsene Frau. Denk an etwas anderes.

    Die blaue Serge, die Mrs Vanderbilt trug, war anders als alles, was Tillie je gesehen hatte. Der Rock lag an den Seiten eng an und war kunstvoll mit abgestuften Zöpfen in verschiedenen Farbnuancen und Stilen verziert. Die Schulterstücke, die über den leichten Puffärmeln lagen, liefen spitz zu und waren im selben Stil geschnitten.

    Ein Kribbeln setzte hinter Tillies Augen ein. Die Übelkeit saß jetzt in ihrer Speiseröhre. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Oberlippe. Tu das nicht, Tillie. Tu es nicht.

    Sie konzentrierte sich stärker auf das Kleid. Würde dieses Kleid dann eines Tages ihr gehören, der Zofe, wenn ihre Herrin es aussortierte?

    Feuchtigkeit sammelte sich in ihrem Nacken, auf ihrem Rücken und unter ihren Armen. Sie öffnete den Mund und atmete leise tief ein und blies dann die Luft wieder aus. Denk an etwas anderes.

    Sie betrachtete ihre Herrin genauer. Diese besaß nicht die Sanduhrfigur, die gegenwärtig so beliebt war, sondern war gertenschlank. Tillies Figur lag irgendwo dazwischen. Aber wenn ihr Mieder weiter sein müsste, könnte sie ein paar Zentimeter von der Länge des Rocks nehmen.

    Die Kutsche fuhr in das nächste Schlagloch. Tillie schloss die Augen und presste die Finger, die in einem dünnen Damenhandschuh steckten, auf den Mund.

    „Geht es Ihnen gut, Tillie?"

    Bitte, Gott, mach, dass die Übelkeit verschwindet. Ich kann mich doch nicht bei meinem ersten Einsatz übergeben!

    Sie schluckte die Galle mühsam wieder hinunter. „Mir geht es gut, Ma’am. Danke."

    Mrs Vanderbilt steckte eine Schleife zwischen die Seiten ihres Buches und legte es beiseite. Dann klopfte sie an das Dach der Kutsche. Diese fuhr sogleich langsamer und blieb dann ganz stehen. Das Fahrzeug schaukelte, als der Fahrer von seinem Sitz sprang. Dann wurde die Tür geöffnet.

    „Stimmt etwas nicht, Ma’am?"

    „Ich denke, ich würde gern den Rest der Fahrt mit offenem Verdeck fahren, Earl. Würde Ihnen das etwas ausmachen?"

    Er hielt ihr die Hand hin. „Natürlich nicht, Ma’am."

    Sie legte ihre Hand in die seine und ließ sich von ihm aus dem Wagen helfen. „Kommen Sie, Tillie. Wir vertreten uns ein wenig die Beine, ja?"

    Der junge Kutscher hielt auch ihr eine Hand hin.

    Tillie presste den Mund zu. Tränen traten ihr in die Augen, und ihre Schultern zuckten bei ihrem Versuch, sich nicht übergeben zu müssen.

    Earl beugte sich zu ihr herein, um nachzusehen, was der Grund für die Verzögerung war, und riss die Augen auf. „Oh, zum Kuckuck."

    Er packte sie an der Taille, zog sie aus der Kutsche und trug sie buchstäblich zum nächsten Baum. Sie fühlte sich zu elend, um sich dagegen zu wehren, und wartete, bis er sie losgelassen hatte. Dann sank sie auf die Knie, da sie nicht länger gegen die Übelkeit ankommen konnte.

    * * *

    „Das macht doch nichts." Mrs Vanderbilt lächelte sie vom gegenüberliegenden Sitz der offenen Kutsche an. Sie hatte darauf bestanden, dass Tillie vorwärts fuhr, während sie mit dem Rücken zur Fahrtrichtung saß. Tillie hatte sich sehr dagegen gesträubt, ihr das aber nicht ausreden können.

    Und als ob das noch nicht schlimm genug wäre, war Tillie, nachdem sie sich vor Mrs Vanderbilt und Earl gedemütigt hatte, auch noch in Tränen ausgebrochen. Stumme Tränen, aber trotzdem Tränen. Tränen, die einfach nicht versiegen wollten. Aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Sie hatte ihre Chancen, Zofe zu werden, verspielt.

    Dieser Gedanke führte zu neuen Tränen. Sie gab nicht vor, sich mit dem Taschentuch damenhaft die Augen abzutupfen, sondern wischte sie ab. Dann schnäuzte sie sich, obwohl sie ganz genau wusste, dass auch das nicht kultiviert war. Aber geschwollene Augen, ein fleckiges Gesicht und eine rote Nase waren eben auch nicht damenhaft.

    Sie rieb sich den Kopf. Ihrer Mutter würde das Herz brechen. Es wäre besser gewesen, wenn Tillie nie als Kandidatin ausgewählt worden wäre, um dann von der Liste gestrichen zu werden, bevor der Wettbewerb überhaupt begonnen hatte.

    Und das nicht nur wegen ihrer Mutter, sondern auch wegen Tillies eigenen ehrgeizigen Plänen. Zofe zu werden war ihre einzige Möglichkeit, in der Welt voranzukommen und einen Blick über die Grenzen von Asheville, North Carolina, hinaus zu werfen. Aber jetzt war diese Chance vertan. Und das alles nur, weil sie nicht in einem Fahrzeug fahren konnte, ohne dass ihr übel wurde.

    Mrs Vanderbilt neigte den Kopf zur Seite. „Meine Schwester litt unter dem gleichen Problem wie Sie."

    Tillie schluchzte.

    „Sie hat immer gelitten, wenn sie mit dem Rücken zur Fahrtrichtung saß, wenn das Verdeck geschlossen war oder wenn sie beim Fahren stickte."

    Tillie nickte. „Das ist bei mir genauso. Es tut mir so leid, Ma’am."

    „Unsinn. Vergessen Sie es. Mrs Vanderbilt hielt ihr Buch hoch. „Diesen Band habe ich in der Bibliothek meines Mannes gefunden. Er stammt von einem gewissen Mark Twain und ist ausgesprochen gut.

    Tillie zerknüllte das feuchte Taschentuch in ihren Händen. „Ich habe noch nie etwas von ihm gelesen."

    „Sie lesen gern?"

    „Ich liebe es zu lesen! Ihr Blick wanderte in die Ferne, und sie betrachtete die Blue Ridge Mountains, die den Horizont säumten. „Als Mädchen erstellte ich mir meine eigene Bibliothek. Ich schrieb auf die erste Seite jedes Buches ‚Privatbibliothek‘ sowie eine Nummer und meinen Namen.

    Mrs Vanderbilt lehnte sich zurück. „Und welche Bücher hatten Sie in Ihrer Bibliothek?"

    „Lassen Sie mich nachdenken … ‚Die Drei Musketiere‘, ‚Ben Hur‘, ‚Macbeth‘, ‚Oliver Twist‘."

    „Eine ausgesprochen abenteuerlustige Liste."

    Die junge Frau senkte den Blick. „Ich hatte drei ältere Brüder und wollte unbedingt einer von ihnen sein. Sie zuckte die Achseln. „Also habe ich Bücher wie ‚Stolz und Vorurteil‘ nur heimlich nachts gelesen.

    Mrs Vanderbilt verzog belustigt den Mund. „Und haben Ihre Brüder Sie als eine von ihnen akzeptiert?"

    „Nein, Ma’am. Sie sahen in mir immer zuallererst ein Mädchen und dann eine lästige Plage."

    Ihr Gegenüber nickte. „Ich habe nur Schwestern, aber ich kann mir gut vorstellen, dass Sie dazugehören wollten. Manchmal ging es mir auch so."

    Die Kluft zwischen Tillies und Mrs Vanderbilts Welt war unüberwindlich, aber trotzdem war ihre Herrin so umgänglich, so normal, dass Tillie ganz überrascht war. In den Herrenhäusern, in denen sie früher gearbeitet hatte, waren ihre Arbeitgeber bestenfalls hochnäsig gewesen und schlimmstenfalls tyrannisch. Es war ihr verboten gewesen, mit der Dame des Hauses zu sprechen, es sei denn, um eine Nachricht zu überbringen, und selbst dann hatte sie dies mit so wenigen Worten wie möglich tun müssen.

    Jetzt hingegen saß sie hier und führte richtig eine Konversation mit Mrs Vanderbilt. Und obwohl ihre Herrin von einem Kindheitswunsch erzählte, würden nicht einmal ihre eigenen Schwestern es wagen, jetzt ihre Stellung infrage zu stellen.

    „Wo befindet sich Ihre Bibliothek?, fragte Mrs Vanderbilt. „Ich nehme an, sie befindet sich nicht in Ihrem Zimmer auf Biltmore.

    „Oh, nein, Ma’am. Sie befindet sich im Haus meiner Eltern. Aber sie leben auf dem Gelände. Mein Vater ist Maler. Er malt Mr Vanderbilts Insignien auf … nun ja, auf alles, worauf sie erwünscht sind. Die junge Frau deutete nach rechts und links. „Er hat sie zum Beispiel auf die Türen dieser Kutsche gemalt.

    Mrs Vanderbilts Augen leuchteten auf und sie zog die Brauen hoch. „Wirklich? Wenn wir stehen bleiben, muss ich sie mir unbedingt genauer ansehen. Dann nahm sie ihr Buch – „Der Prinz und der Bettelknabe – wieder zur Hand und fasste für Tillie kurz zusammen, was bisher geschehen war. „Ich würde Sie ja bitten, mir vorzulesen, aber unter den gegebenen Umständen wäre das keine so gute Idee."

    „Ich könnte es versuchen, Ma’am."

    Ihre Herrin schmunzelte. „Nein, nein. Ich bestehe darauf: Ich werde Ihnen vorlesen."

    Kapitel 3

    Es war ein Tag wie aus dem Märchenbuch. Mit Ausnahme des Debakels am Straßenrand natürlich. Aber sobald Earl das Verdeck geöffnet hatte und Mrs Vanderbilt anfing, laut vorzulesen, beruhigte sich Tillies Magen, und sie erreichten Asheville, als der Prinz und der Bettelknabe gerade beschlossen, die Rollen zu tauschen.

    Tillie hatte jedoch keine Zeit, weiter über das Buch nachzudenken. Das berauschende Gefühl, in der Stadt zu sein, mit Mrs Vanderbilt einkaufen zu gehen und ihre Einkäufe zu tragen, erforderte Tillies ganze Aufmerksamkeit. Die Vanderbilts wurden in der Gegend wie Könige behandelt, und obwohl jeder Mr Vanderbilt mochte, wurde seine junge Frau fast abgöttisch geliebt.

    Das hatte Tillie schon sehr oft gehört, aber da sie den größten Teil ihrer Arbeiten im Haus verrichtete, bevor die Familie am Morgen aufstand, hatte sie bisher keine Gelegenheit gehabt, es mit eigenen Augen zu sehen. Den ganzen Tag über versuchten die Stadtbewohner, Mrs Vanderbilt jeden Wunsch zu erfüllen, und genauso bemühten sie sich auch um Tillie, und das einfach nur deshalb, weil sie die Herrin des Schlosses begleitete.

    Ladenbesitzer versuchten, ihre Wünsche zu erraten. Der Buchladen, den sie besuchten, füllte sich mit Kunden, die so taten, als blätterten sie in Büchern. Ein junger Mann auf dem Gehweg errötete sichtlich, als sie an ihm vorübergingen. Und Kinder liefen neben ihrer Kutsche her und warfen Blumen.

    Diese Erfahrung faszinierte und begeisterte Tillie. Während sie ihre Röcke auf dem Sitz der Kutsche zurechtrückte, genoss sie diese Augenblicke und bewahrte diese Erinnerungen tief in ihrem Herzen.

    Als Earl die Kutsche in Richtung Süden lenkte und sich den Außenbezirken der Stadt näherte, flüsterte Mrs Vanderbilt: „Sobald wir die Stadt hinter uns gelassen haben, tauschen wir die Plätze."

    Tillies Wangen glühten. „Mir geht es schon viel besser, Ma’am. Das ist nicht nötig."

    „Trotzdem. Und nächstes Mal fahren wir mit dem Kabriolett, damit wir beide in Fahrtrichtung sitzen können."

    Nächstes Mal? Nächstes Mal? Wollte Mrs Vanderbilt damit andeuten, dass Tillie immer noch im Rennen war? Das war fast nicht möglich. Aber –

    „Earl? Mrs Vanderbilt richtete sich abrupt auf. „Was ist da vorne los?

    Tillie drehte sich auf ihrem Sitz herum. Am Ende der Black Bottom Street befand sich die alte baufällige Militärschule. Seit dem Bürgerkrieg hatte dieses Gebäude ein erfolgloses Unternehmen nach dem anderen beherbergt, bis es schließlich in ein Heim für mittellose Waisenkinder umgewandelt worden war. Falls sie die Stelle als Zofe bekäme, stünde dieses Waisenhaus ganz oben auf der Liste der Einrichtungen und Personen, die sie mit ihrem Geld unterstützen wollte. Natürlich würde sie zuerst ihre Familie unterstützen. Bislang war ihr beides unmöglich gewesen.

    Kahler Boden und alte, kaputte Ackergeräte umgaben das dreistöckige Ziegelgebäude, von dem der Putz abbröckelte, in dem Fensterscheiben fehlten und dessen Dach stellenweise eingebrochen war. Auf dem Lehmboden vor dem Haus stand eine Schar Kinder Schulter an Schulter und feuerte zwei erwachsene Männer an, die in eine Rauferei verwickelt waren. Einer der Kämpfenden trug einen Anzug, der andere nur Hose und Hemd.

    „Was ist hier los, Earl?", wiederholte Mrs Vanderbilt.

    Der Angesprochene verlangsamte die Kutsche. „Das weiß ich nicht genau, Ma’am. Ich sehe nur, dass mein Zwillingsbruder offenbar daran beteiligt ist."

    „Ihr Zwillingsbruder? Sie haben einen Zwillingsbruder?"

    „Ja, Ma’am."

    Tillies Aufmerksamkeit wanderte wieder zu den beiden raufenden Männern. Sie brauchte nicht lang, um herauszufinden, wer von diesen Earls Zwillingsbruder war. Die wichtigsten Kriterien für Kutscher und Lakaien waren eine stattliche Körpergröße und gutes Aussehen. Earl besaß beides und dazu eine gehörige Portion Muskeln. Das Gleiche galt für seinen Zwillingsbruder.

    „Halten Sie die Kutsche sofort an!, forderte Mrs Vanderbilt ihn auf. „Versuchen Sie, die beiden zu trennen, und bringen Sie ihn dann zu mir.

    „Ja, Ma’am."

    Earl hielt an, nahm seinen Hut ab und sprang dann von seinem Kutschsitz. Mehrere Kinder drehten sich um, aber die Streitenden nahmen keine Notiz von ihm.

    Earls Frack und seine Kniebundhose aus rostbraunem Samt bildeten einen deutlichen Gegensatz zu der einfachen, schmucklosen Kleidung der Waisenkinder. Und obwohl sein Erscheinen und das der eleganten Kutsche die Kinder ablenkten, ließen sie die Rauferei nicht aus den Augen.

    In diesem Moment holte Earls Bruder aus und traf seinen Gegner mit der Faust auf die Nase. Ein knackendes Geräusch drang bis zu ihnen herüber.

    Der Kopf des Mannes flog regelrecht nach hinten und er verdrehte die Augen. Sekunden später knallte er auf den Boden und landete flach auf dem Rücken. Eine Staubwolke stieg um ihn herum auf.

    Tillie konnte ihre Verzweiflung kaum verbergen. Der Mann, der soeben zu Boden geschlagen worden war, war der neue Waisenhausdirektor. Sie rang die Hände auf ihrem Schoß. Seit er im vergangenen Jahr die Leitung des Hauses übernommen hatte, hatte Mr Sloop bei den Kindern wahre Wunder gewirkt. Die staatlichen Mündel liefen nicht mehr in verwahrloster Kleidung schmutzig durch die Stadt und hatten nur Unsinn im Kopf. Sie badeten sich, kleideten sich anständig und liefen nicht außerhalb des Geländes herum, außer um sonntags die Gottesdienste zu besuchen.

    Mr Sloop hatte angefangen, das alte Gebäude zu renovieren,

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