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Vaterseelenallein: Warum Kinder einen Vater brauchen und wohin es führt, wenn er fehlt
Vaterseelenallein: Warum Kinder einen Vater brauchen und wohin es führt, wenn er fehlt
Vaterseelenallein: Warum Kinder einen Vater brauchen und wohin es führt, wenn er fehlt
eBook292 Seiten3 Stunden

Vaterseelenallein: Warum Kinder einen Vater brauchen und wohin es führt, wenn er fehlt

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Über dieses E-Book

Wie viele Menschen sehnen sich nach einem "richtigen" Vater? Mehr als die Hälfte der Kinder wächst mittlerweile in sogenannten "Patchworkfamilien" auf, weil sich die Eltern früh getrennt haben. In anderen Familien ist der Vater kaum ansprechbar, weil er beruflich über alle Maßen eingespannt und ständig unterwegs ist. Vielfach wird die Erziehung der Kinder deshalb den Müttern überlassen.

Jenseits jeglicher Elternromantik analysiert Peter Ballnik den Kern vieler gesellschaftlicher Probleme. Denn wem das väterliche Vorbild fehlt, der hat es schwer im Leben. Und es zeigt sich, dass viele, die ohne einen richtigen Vater aufgewachsen sind, oftmals in große Konflikte geraten - es fehlt ihnen einfach ein Korrektiv, ein Wertegerüst, an dem sie sich orientieren können.

Ein Buch mit hoher Relevanz. Thesenstark zeigt Peter Ballnik, auf welchem fatalen Weg wir uns befinden, weil wir dabei sind, die Vaterrolle mehr und mehr zu vernachlässigen.
SpracheDeutsch
Herausgeberadeo
Erscheinungsdatum24. März 2014
ISBN9783863347307
Vaterseelenallein: Warum Kinder einen Vater brauchen und wohin es führt, wenn er fehlt

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    Buchvorschau

    Vaterseelenallein - Peter Ballnik

    Teil 1: Scherbensystem

    Kapitel 1

    „Ich nehm mir, was ich kriegen kann."

    Warum Menschen kriminell werden

    Die Unterlagen von Paul liegen vor mir. Der Satz am Ende meiner Notizen von der letzten Sitzung mit dem Sechzehnjährigen lautet: „Paul zeigt immer noch keine Reue."

    Es läutet. Da ist er. Leicht außer Atem und wieder einmal ein wenig verspätet. Ich reiche ihm die Hand. Mittlerweile muss ich schon ziemlich aufschauen, um in sein Gesicht zu sehen.

    Paul ist guter Dinge, frohgemut und setzt sich auf die Couch. Er macht es sich gerne bequem. Bis er seine richtige Sitzposition gefunden hat, dauert es eine Weile. Wie oft in letzter Zeit kann er sich einen leichten Seitenhieb auf meine Kleidung nicht ersparen:

    „Hey, diese weiße Cordhose stammt ja wohl noch aus den Achtzigern …"

    „Stimmt, antworte ich, „wenn nicht sogar aus den Siebzigern. Aber du siehst heute gut aus.

    „Ja, alles neu, erzählt Paul stolz und schaut an sich herunter. „Die schwarze Jeans, die wie jede Hose an ihm weit unten hängt, „ist von Fishbone. Aber vor allem der Gürtel, dabei zeigt er auf das weiße Prachtstück mit einer überdimensionierten grauen Metallschnalle, die wie eine kleine Ziegelmauer aussieht, „die ist von Jeans only, der letzte Schrei.

    Ich stutze. Der letzte Schrei – das ist doch ein Ausdruck aus den Siebzigern. So redet doch heute kein Jugendlicher! Stellt sich dieser Junge etwa so gut auf mich ein? Will er auch mich so manipulieren, wie er es mit allen Menschen in seiner Umgebung macht? Einen Moment lang fühle ich mich düpiert, aber dann sage ich mir selbst: Warum sollte gerade ich eine Ausnahme sein?

    Paul schaut mich kurz etwas irritiert an und fährt dann fort: „Mein Hemd, ebenfalls schwarz und im Militärlook, „ist auch von Fishbone, war nicht billig! Stolz zeigt Paudann noch sein schwarzes Superman-Leibchen. In diesem Moment sehe ich vor mir das Bild, wie Paul als Erwachsener, im Maßanzug und perfekt gestylt, gestandene Wirtschaftsmanager über den Tisch zieht.

    „Aber die Socken, dabei zeige ich schmunzelnd auf seine alten, leicht zerfledderten hellgrauen Frotteesocken, „das ist ja ein richtiger Stilbruch. Sind die von Aldi?

    „Ich hatte es eilig, antwortet Paul auffallend ruhig. Dann kontert er spielerisch aufgebracht mit einem schelmischen Lächeln: „Du hast es nötig, du mit deiner weißen Hose! Lachend beschließen wir unser Eingangsritual.

    „Letzte Woche hatte ich riesiges Glück", sagt Paul.

    „Wie zeigte sich denn dein Glück?", frage ich nach.

    „Also, ich habe dir doch erzählt, dass ich ein Sparbuch gefunden habe. Das gehört einem alten Bauern im Altersheim. Der liegt im Koma und stirbt wahrscheinlich in den nächsten Tagen."

    „Ich dachte, du wolltest das Sparbuch zurückgeben", setze ich nach.

    „Wieso, der hat doch keine Erben und er selber kann damit nichts mehr anfangen."

    „Ja, aber ohne Passwort hast du keine Chance."

    „Mein Lehrer, der war mal Rechtspfleger und meint, dass in so einem Fall ein Totenschein ausreicht, damit die 12534 Euro mir gehören."

    Die Summe schockiert mich, die Höhe war mir neu. „Was du machst, ist nicht in Ordnung, das ist nicht legal", beziehe ich Stellung.

    „Ja, ja, meint Paul, „aber ich tue doch niemandem weh, ich schade niemandem.

    „Und den Erben? Du kannst nicht sicher sein, dass es keine gibt."

    „Um den Mann hat sich doch niemand gekümmert, also gehört das Geld mir. – Aber das ist nur ein Teil meines Glücks, fährt Paul fort. „Mein Opa war letztes Wochenende mit seinem Fahrrad am Kirchenflohmarkt und dort hat man ihm sein Rad gestohlen. Weil er so an seinem Rad hängt, ein Erbstück von seinem verstorbenen Bruder, hat er mir eine Belohnung von 150 Euro versprochen, wenn ich das Rad wieder auftreibe. Ich habe dann im Pfarramt angerufen. Sein Rad war gar nicht gestohlen worden. Ich habe es einfach abgeholt, aber das habe ich ihm natürlich nicht gesagt. Hundert Euro habe ich schon gekriegt, die restlichen 50 bekomme ich morgen, dann gibt es wieder neue Klamotten.

    Bevor ich ihn auf das moralische Dilemma aufmerksam machen kann, setzt Paul fort: „Ach ja, und sehr wahrscheinlich habe ich jetzt eine Lehrstelle."

    Das erstaunt mich jetzt wirklich. Paul, der laut Arbeitsmarktservice so gut wie keine Chancen auf eine Lehrstelle hatte, schon seines miserablen Schulabschlusszeugnisses wegen. Spontan stehe ich auf, reiche Paul die Hand und gratuliere. „Erzähl!", fordere ich ihn auf.

    „Ja, ich war im Baumarkt, da musste ich mit 25 anderen einen Test machen. Stell dir vor, ich habe den zweitbesten Test geschrieben. Von 102 Fragen habe ich 98 richtig. Die schulischen Noten sagen gar nichts aus, ich bin eben doch ein Genie. Die nehmen nur drei Lehrlinge. Mit dem Juniorchef habe ich auch gesprochen, der war richtig begeistert von mir, von meiner ‚Ausstrahlung‘ hat er gesagt. Die Lehrstelle habe ich."

    Wir freuen uns eine Zeit lang gemeinsam. Dann frage ich ihn: „Wird dir deine Vorstrafe diese Lehrstelle nicht vermasseln?"

    „Das ist doch Quatsch, sagt Paul leicht aufgebracht, „es steht noch nicht fest, wann die Verhandlung ist. Jetzt kann ich noch ein positives Leumundszeugnis vorlegen und wenn ich dann die Lehrstelle habe, können die mich nicht mehr hinauswerfen. Im ersten Lehrjahr verdiene ich zwar wenig, aber mit dem zweiten wird das schon ganz gut, lenkt Paul das Gespräch wieder auf das Geld, auf das für ihn wesentliche Thema.

    „Eigentlich schön blöd von dir, wegen 200 Euro 35 Zeitungskassen aufzuknacken", stelle ich in den Raum.

    „Ja, ja, das habe ich bei den Bullen so gesagt. In Wirklichkeit waren es 800 Euro und so an die 70 Zeitungskassen." Dabei grinst er mich an und seine blauen Augen strahlen mit seinen Zähnen um die Wette. Nichts kann heute sein Glück trüben.

    Adel schützt vor Schande nicht

    Paul stiehlt und lügt schon sehr lange. Bereits in der Schule steckte er wahllos Buntstifte, Füllfederhalter, Radiergummis und Comichefte der Mitschüler ein. Nichts war vor ihm sicher. Nicht einmal die Geldtasche seiner freundlichen und schon etwas betagten Nachbarin, die ihn dann doch anzeigte. Für diesen Diebstahl musste Paul im Rahmen eines außergerichtlichen Tatausgleichs soziale Dienste in einem Kinderheim leisten. Dafür hat er der alten Frau das Blumenbeet verwüstet, was zu einer weiteren Strafanzeige führte.

    Paul kennt keine Reue. Vom Verstand her weiß er sehr wohl, was legal und was illegal ist, was Mein und Dein ist. Aber es schert ihn nicht die Bohne. Obwohl er in den Momenten, in denen er seinen reichlich vorhandenen Intellekt gebraucht, ganz klar einschätzen kann, welche Konsequenzen sein Verhalten für ihn selbst und für andere haben kann, gelingt es ihm nicht, auf der richtigen Seite des Gesetzes und des Anstands zu bleiben. Er priorisiert seinen eigenen kurzfristigen Vorteil gegenüber dem Wohlergehen aller anderen Menschen und auch gegenüber seinem eigenen langfristigen Wohlergehen. Ich mache mir keine Illusionen: Auch mich würde er betrügen, wenn er dazu die Gelegenheit bekäme. Und von seiner Seite aus würde so etwas unser Verhältnis nicht einmal trüben, geschweige denn zerstören, denn so etwas steht für ihn auf einem ganz anderen Blatt.

    Was geht in so einem Menschen vor? Es scheint, als würde in seiner Persönlichkeit eine Lücke klaffen, als würde ein komplettes Stück vom Ich fehlen. Ein Stück, das wir Menschen brauchen, um friedlich zusammenleben zu können, und das dafür sorgt, dass wir ehrlich bleiben. Warum hat Paul diese Instanz in seinem Innern nicht, die ihm sagt, wie er urteilen soll, die ihm zuflüstert, wie er handeln soll? Was hat ihn daran gehindert, den Unterschied zwischen Gut und Böse zu erlernen? Welche Faktoren gaben dafür den Ausschlag? Sein Elternhaus? Ist es ein Problem der sozialen Schicht? Wäre es anders geworden, wenn er in geordneten Verhältnissen und Wohlstand aufgewachsen wäre?

    Dass Letzteres nicht ausreicht, ein ehrlicher Mensch zu werden, führte uns der deutsche Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor von und zu Guttenberg eindrucksvoll vor. Er kommt aus einer altehrwürdigen, einflussreichen Familie, ist wohlhabend, gebildet, hat studiert, legte eine Traumkarriere hin und ist mit einer bildhübschen und ebenfalls adeligen Frau und zwei nett aussehenden und gesunden Töchtern gesegnet. Karl-Theodor hat alles, wovon ein Mann nur träumen kann. Und doch: Seine Dissertation hat er schlicht und einfach geklaut. Wie die Universität Bayreuth in ihrem Gutachten vom 6. Mai 2011 schrieb, besteht die Doktorarbeit des Freiherrn von und zu Guttenberg zu circa 65 Prozent aus Plagiaten.

    Hat er je öffentlich aufrichtig Entschuldigung gesagt? Von wegen. Genau das sagte Karl-Theodor nicht! Und darin liegt für mich das eigentliche Armutszeugnis der Persönlichkeit dieses geistigen Diebes. Er, eigentlich ein gestandener Mann, hatte gelogen. Wie ein Schulkind, das eine schlechte Note verschweigt. Nachdem der Vorwurf im Raum stand, steckte er den Kopf in den Sand und frettete sich von Tag zu Tag. Obwohl ganz klar war, dass irgendwann alles in vollem Ausmaß ans Tageslicht kommen sollte. Wie eine Schlange wand sich der windige Freiherr. Obwohl er ganz genau wusste, was er getan hatte, sah er nicht ein, dass er damit Schuld auf sich geladen hatte. Diese merkwürdige Diskrepanz zwischen der Realität der Tat einerseits und dem fehlenden Eingeständnis der Schuld andererseits, diese unreife Uneinsichtigkeit, ist für mich das Bemerkenswerte an diesem Fall.

    Wider besseren Wissens und völlig gegen seinen gesellschaftlichen Status hielt er sich an das, was Kleinganoven ihren Kollegen raten, wenn sie erwischt werden, und an das, was untreue Ehemännern anderen untreuen Ehemännern raten, selbst wenn sie von ihrer Ehefrau in flagranti ertappt werden: leugnen, leugnen, leugnen. Und so gab Karl-Theodor zu Guttenberg immer nur so viel zu, wie er nicht mehr abstreiten konnte. Deswegen zog sich diese unheilvolle Affäre vom 16. Februar 2011, an dem die ersten Plagiatsvorwürfe auftauchten, über qualvolle zwei Wochen, bis er als Verteidigungsminister zurücktrat. Mit seinem Rücktritt stellte sich allerdings nicht etwa das Unrechtsbewusstsein einer reifen Persönlichkeit ein, vielmehr verabschiedete sich Karl-Theodor aus der Politik mit den Worten:

    „Der Grund liegt im Besonderen in der Frage, ob ich den höchsten Ansprüchen, die ich selbst an meine Verantwortung anlege, noch nachkommen kann."

    Junge, du hast geklaut! Das hat nichts mit Ansprüchen an sich selbst zu tun, es ist ein juristischer Tatbestand. In Nordrhein-Westfalen und in Baden-Württemberg wurden von den Staatsanwaltschaften in ähnlichen Fällen Strafbefehle verhängt, in Höhe von 9000 Euro oder 90 Tagessätzen. Mehr noch, es ist auch ein ethischer Tatbestand. Guttenberg hat nicht nur die Urheber, sondern uns alle betrogen. Er hat Deutschland in die Irre geführt, Europa und die ganze Welt. Und das als Verteidigungsminister. Was für eine Schande, was für ein Schmierentheater!

    So wie es Paul völlig kaltlässt, wenn er eine alte, wehrlose Frau beraubt, so lassen die moralisch-ethischen Ansprüche der Öffentlichkeit Karl-Theodor kalt, der sich nur leidend fragt, ob er den Ansprüchen an sich selbst noch gerecht wird. Hier paart sich also kriminelle Energie mit Narzissmus.

    Wenn sich also unabhängig von der sozialen Schicht, unabhängig davon, ob die Verhältnisse in der Herkunftsfamilie nun geordnet sind oder nicht, die Neigung zu Diebstahl und Lügen ausbilden kann, so wie bei Paul und bei Guttenberg, bleibt die Frage offen, was bei uns Menschen dafür sorgt, dass wir ein Gefühl für Mein und Dein und ein aufrechtes Unrechtsbewusstsein ausbilden.

    Kurzfristdenke ohne Morgen

    3. Juli 1999 – laute Wagnermusik erklingt aus den Lautsprechern, sie ergießt sich über die knapp 500 anwesenden Gäste. Der Himmel über dem Turmberg im Karlsruher Stadtteil Durlach explodiert, das Feuerwerk ist einer der Höhepunkte von Manfred Schmiders Feier anlässlich seines fünfzigsten Geburtstags. Eine Million Deutsche Mark soll dieser Abend gekostet haben. Von den höchsten Politikern und Wirtschaftskapitänen wurde der Flowtex-Eigentümer bejubelt und besungen. „Solche Männer braucht das Land", brachte es Lothar Späth, der frühere Ministerpräsident von Baden-Württemberg, in seiner Laudatio auf den Punkt.

    Nur ein halbes Jahr später bricht Manfred Schmiders luxuriöse Welt zusammen wie ein Kartenhaus. Am 4. Februar 2000 werden er und sein Kompagnon Klaus Kleiser verhaftet. Beide hatten seit gut zehn Jahren nicht existente Horizontalbohrgeräte an Leasinggesellschaften verkauft, die von den Geschäftsführern der Firma Flowtex selbst gegründet wurden. Von diesen Leasingunternehmen leaste Flowtex die Maschinen zurück. Banken finanzierten diese Geschäfte mit Krediten. Die Leasingraten mussten mit immer neuen Verkäufen bedient werden. Ein Schneeballsystem mit nur wenigen Begünstigten. Von den mehr als 3400 Bohrsystemen in den Bilanzen, die jeweils um die 1,2 Millionen Mark verkauft wurden, existierten 3187 nicht. Manfred Schmider hatte mit Flowtex eine gewaltige Luftnummer von 4138422766 Mark und 14 Pfennig hingelegt. Mit der Summe, die die Staatsanwaltschaft noch für den unvollendeten Börsengang von Flowtex hinzufügte, entstand ein Schaden von 4,9 Milliarden Mark. Mehr als doppelt so viel wie bei der Pleite von Jürgen Schneider, dem ehemaligen Frankfurter Baulöwen.

    Obwohl seit 1996 den Finanz- und Justizbehörden die ersten anonymen, aber detaillierten Betrugsanzeigen vorlagen, verhinderte die Blendkraft von „Big Manni", wie Manfred Schmider nicht nur wegen seiner Leibesfülle genannt wurde, dass diesen Anzeigen wirklich nachgegangen wurde. Denn in Schmiders mondäner Villa im Karlsruher Vorort Durlach gaben sich Wirtschaftsminister, Außenminister, Ministerpräsidenten, Staatssekretäre und Bürgermeister die Klinke in die Hand. Der Skandal hatte auch politische Folgen: Zwei FDP-Landesminister verloren ihr Amt, im Musterländle Baden-Württemberg brach kurzzeitig eine Regierungskrise aus, Finanzbeamte gerieten unter Betrugsverdacht und Staatsanwälte ermittelten plötzlich gegeneinander. Akten verschwanden im Nirgendwo und renommierte Wirtschaftsprüfer mussten astronomische Schadensersatzsummen bezahlen, weil sie sich hatten übertölpeln lassen. Und das Land Baden-Württemberg wurde mit einer Staatshaftungsklage über rund 1,1 Milliarden Euro konfrontiert.

    Es dürfte jedem klar sein: Was es nicht gibt, kann ich auch nicht verkaufen. Ich kann die gleiche Maschine nicht Hunderte Male veräußern, nur indem ich ein paar Nummernschilder austausche. Das klingt wie das Versprechen eines Schulkindes: „Die Schulaufgaben mache ich morgen." Aber spätestens nach dem zweiten misslungenen Versuch werden die Eltern darauf bestehen, dass es sie noch heute macht. Manfred Schmider und sein Kompagnon handelten, als gäbe es kein Morgen.

    Ein Gerät von einer Bank finanzieren zu lassen, das es gar nicht gibt, ist schlichtweg Betrug mit weitreichenden Folgen. Ich schade zunächst der Bank, selbst wenn sie zu blöde ist, wirklich zu kontrollieren, ob der Gegenstand der Finanzierung auch wirklich existiert. Doch die Spirale geht weiter: Wenn ich der Bank schade, dann auch folglich ihren Eigentümern und Angestellten. Und wenn dann noch ein ganzes Bundesland haftet, schade ich außerdem den Steuerzahlern. Alles in allem wurden unterm Strich Millionen von Menschen direkt und indirekt geschädigt; das Ausmaß des Schadens bei Wirtschaftskriminalität ist in diesen Milliardengrößenordnungen unvorstellbar groß.

    Manfred Schmider und Konsorten handelten in gewisser Hinsicht ähnlich wie Karl-Theodor zu Guttenberg. Während sich Guttenberg von Tag zu Tag frettete, wohl wissend, dass sein Betrug ans Tageslicht kommen würde, taten Manfred Schmider und seine Leute das Gleiche – nur nicht zwei Wochen, sondern zehn Jahre lang. Dabei prolongierten sie ihren Wechsel auf die Zukunft immer öfter und schoben auf diese Weise den Tag des Zusammenbruchs erstaunlich lange hinaus. Verhindern konnten sie ihn dennoch nicht. Zu der Missachtung fremden Eigentums und den Lügen aus der Position des Uneinsichtigen gesellt sich also auch das kurzfristige Denken und Handeln, als ob es kein Morgen gäbe.

    Von einem erwachsenen Menschen darf man erwarten, dass er sich für sein eigenes langfristiges Wohlergehen und das der Menschen um ihn herum verantwortlich fühlt. Das Erstaunliche daran ist, dass diese Menschen der Ausblick auf die eigene Zukunft hinter Gittern – also der nach menschlichem Ermessen früher oder später eintreffende schlechte Ausgang ihres Spiels – nicht davon abhält, sich selbst zu schädigen. Ganz abgesehen von dem Schaden, den sie auch für andere anrichten. Es scheint, als ob sie taub wären für die innere Stimme, die ihnen rät, besser für sich selbst zu sorgen. Oder haben sie diese Stimme gar nicht?

    Blasen platzen

    Schneeballsysteme gab es nicht nur in Deutschland. Manche konnten sich sogar länger als ein Jahrzehnt halten. Ende 2008 wurde Bernard Lawrence Madoff zu 150 Jahren Haft verurteilt, weil er jahrzehntelang einen Investmentfonds nach dem Schneeballsystem betrieben hatte. Madoff hatte die versprochenen Gewinne aus immer neuen Kundeneinlagen ausbezahlt. Als einer seiner Kunden mehrere Milliarden an Einlagen zurückforderte, brach das System zusammen. Der Gesamtschaden wurde zum Zeitpunkt des Prozesses gegen Madoff auf mindestens 65 Milliarden Dollar (rund 51 Milliarden Euro) veranschlagt. 4800 Menschen wurden durch Bernie Madoff direkt betrogen. Es handelte sich um den ersten wirklich globalen Betrugsfall.

    Auch Madoff hätte wissen müssen, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Sache auffliegen musste. Er wusste es und machte doch immer weiter. Warum? In gewisser Hinsicht sicher aus Gier. Wirtschaftskriminalität entsteht aus Haben-Wollen, den Hals einfach nicht vollkriegen, ohne Rücksicht auf Verluste. Noch ein Maßanzug, noch ein Ferrari, noch ein Hubschrauber, noch ein Firmenjet – noch, noch, noch. Eine riesige innere Leere muss gefüllt werden, mit Dingen, die niemand braucht. Die Betrüger nehmen sehr wohl wahr, dass ihr Handeln auf Kosten anderer Menschen geschieht. Sie sind ja eigentlich nicht dumm. Doch sie verdrängen dieses Wissen und machen weiter und weiter und weiter. So entgleitet diesen Menschen mehr und mehr die Realität. Und was bleibt am Ende übrig? Ein riesiger Scherbenhaufen!

    Wie verhält sich das im Vorfeld von Wirtschaftskrisen? Nun, im großen Stil wird vorhandenes überschüssiges Kapital in riskante, meist neuartige Investments gesteckt. Durch die steigenden Kurse springen immer mehr Anleger auf diesen Zug auf. In der Massenpsychologie wird das Herdentrieb genannt. Immer weniger Menschen können sich dieser Euphorie entziehen. Ehe dann die Spekulationsphase zu Ende geht, erkennen viele, wie wenig durchdacht ihre Investments waren, und versuchen auszusteigen. Die Stimmung schlägt um und auch hier bedingt der Herdentrieb die nächste Aktion: Es kommt zur Panik. Die Blase platzt. Darunter leidet die gesamte Volkswirtschaft eines Landes, sogar die Weltwirtschaft kränkelt.

    Dieser Kreislauf ist immer der gleiche. Ob beim Tulpenwahn 1636–1637 in Holland, bei der Südseeblase 1720 in England, beim großen Crash 1929–1938, bei der Dot.com-Blase 1996–2001 und natürlich auch bei der Immobilienblase 2002–2007. Die letzten drei gingen von den USA aus und erfassten die ganze Weltwirtschaft.

    Wie bei einem Pyramidenspiel oder einem Kettenbrief werden bei einer Börsenblase auch immer nur die Letzten von den Hunden gebissen. Der berühmte Wirtschaftswissenschaftler Charles Kindleberger nannte das die „greater fool theory. Es gibt immer einen noch größeren Narren, dem man seine bereits überteuerten Aktien (oder Tulpenzwiebeln oder Häuser oder was auch immer die aktuellen Spekulationsobjekte sind) noch teurer verkaufen kann. Hier setzt für mich wieder die Frage ein: Was fehlt den Menschen, die solche Spekulationsobjekte verkaufen, obwohl sie sehr wohl wissen, dass sie in Kürze sehr viel weniger wert sein werden? Meiner Meinung nach stecken dahinter die exakt gleichen Mechanismen wie bei Wirtschaftskriminellen: fehlender Respekt vor dem Eigentum, uneinsichtige Unaufrichtigkeit, kurzfristiges Denken und Gier. Intelligente Menschen können sehr dumm sein: „Gier frisst Hirn.

    Natürlich kann man auch die Käuferseite bei Spekulationsblasen nicht freisprechen: Die gleichen Eigenschaften wie die der Täter kommen bei den Opfern vor, nur eben vergleichsweise in homöopathischen Dosen. Der einfache Satz unserer Väter oder Großväter: „Von nichts kommt nichts", reicht vollkommen aus, um zu erkennen, dass ein Unternehmen nicht eigentlich an Wert gewinnt, nur weil diese Aktien von mehr Menschen gekauft werden und sich damit die Aktienkurse erhöhen.

    Paul stiehlt und betrügt, er knackt Zeitungskassen, und er ist sich sicher, dass er nicht erwischt wird. Und wird es doch. Guttenberg hatte gelogen. Der Ex-Verteidigungsminister verfasste eine Doktorarbeit, die einfach geklaut war. Auch er ging davon aus, nicht erwischt zu werden, dafür ließ er uns sogar an seinem Schmierentheater teilnehmen. Zur Strecke gebracht

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