Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Kielwasser: Der zweite Fall für Kommissar Jung
Kielwasser: Der zweite Fall für Kommissar Jung
Kielwasser: Der zweite Fall für Kommissar Jung
eBook269 Seiten3 Stunden

Kielwasser: Der zweite Fall für Kommissar Jung

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Ein merkwürdiger Fall lässt Kriminalrat Tomas Jung, Leiter der Abteilung für unaufgeklärte Kapitalverbrechen in Flensburg, keine Ruhe: Ein deutscher Mariner ist spurlos im Arabischen Meer verschwunden. Die Ermittlungen sind eigentlich bereits abgeschlossen. Der Soldat sei über Bord gegangen und ertrunken - so das Ergebnis. Aber seine Vorgesetzten mögen daran nicht glauben. Ein Unfall passt nicht zu dem Menschen, den sie kennen gelernt haben.
Jung und sein pensionierter Kollege Boll schalten sich ein. Nicht offiziell, sondern under cover …
SpracheDeutsch
HerausgeberGmeiner-Verlag
Erscheinungsdatum12. Juli 2010
ISBN9783839235263
Kielwasser: Der zweite Fall für Kommissar Jung

Mehr von Reinhard Pelte lesen

Ähnlich wie Kielwasser

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Kielwasser

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Kielwasser - Reinhard Pelte

    cover-imageKielwasser.png

    Reinhard Pelte

    Kielwasser

    Der zweite Fall für Kommissar Jung

    Zum Buch

    AUF HOHER SEE Ein merkwürdiger Fall lässt Kriminalrat Tomas Jung, Leiter der Abteilung für unaufgeklärte Kapitalverbrechen in Flensburg, keine Ruhe: Ein deutscher Mariner ist spurlos im Arabischen Meer verschwunden. Die Ermittlungen sind eigentlich bereits abgeschlossen. Der Soldat sei über Bord gegangen und ertrunken – so das Ergebnis. Aber seine Vorgesetzten mögen daran nicht glauben. Ein Unfall passt nicht zu dem Menschen, den sie kennen gelernt haben.

    Jung und sein pensionierter Kollege Boll schalten sich ein. Jung wird under cover als Wehrübender auf Zeit bei der Marine untergebracht. Der vollkommen unerfahrene Zivilist beginnt, sich in die Welt der Mariner einzuleben, teilt ihre Lebensumstände an Bord eines Kriegsschiffes im Einsatz vor Afrika und macht schließlich eine erstaunliche Entdeckung …

    Reinhard Pelte ist Diplommeteorologe und war im öffentlichen Dienst tätig. Mehrere Jahre in Portugal lebend, hat er die Welt durch zahlreiche Fahrten zur See kennengelernt (Amerika, Afrika, Arabien, Mittelmeer, Karibik, u. a. auf dem Segelschulschiff Gorch Fock). Er ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder, ist Weinliebhaber und raucht hin und wieder eine gute Zigarre. Die meiste Zeit seines Lebens hat er in Schleswig-Holstein verbracht. Bis 2013 war er in Flensburg zu Hause, jetzt lebt er in Schleswig. Sein erfolgreiches Debüt hatte er mit »Inselkoller«, dem ersten Fall von Tomas Jung, ebenfalls erschienen im Gmeiner-Verlag.

    Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner Verlag:

    Inselgötter (2016)

    Inselroulette (2014)

    Mordsee (2013)

    Tiefflug (2012)

    Inselbeichte (2011)

    Kielwasser (2010)

    Inselkoller (2009)

    Impressum

    Personen und Handlung sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

    sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

    Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

    regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

    Gefällt mir!

    324721.png Instagram_Logo_sw.psd Twitter_Logo_sw.jpg

    Facebook: @Gmeiner.Verlag

    Instagram: @gmeinerverlag

    Twitter: @GmeinerVerlag

    Besuchen Sie uns im Internet:

    www.gmeiner-verlag.de

    © 2010 – Gmeiner-Verlag GmbH

    Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

    Telefon 0 75 75/20 95-0

    info@gmeiner-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    3. Auflage 2019

    Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

    Herstellung/Korrekturen: Julia Franze / Sven Lang, Katja Ernst

    E-Book: Mirjam Hecht

    Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

    unter Verwendung eines Fotos von Renate Dierks

    Druck: CPI books GmbH, Leck

    Printed in Germany

    ISBN 978-3-8392-3526-3

    Inhalt

    Zum Buch

    Impressum

    Widmung

    Zitat

    Prolog

    Der Besuch

    Der Anruf

    Der Einberufungsbescheid

    Der Leitende

    Die Einberufung

    Die Einschiffung

    Das Schiff I

    Das Schiff II

    Der Militärpfarrer

    Der Wachoffizier

    Der Kommandeur I

    Die Somali

    Die Sightseeingtour

    Tomi und Schumi

    Der Kommandeur II

    Der KaFü

    Der Ausflug nach Tadjoura

    Der Kommandeur III

    Der Abschied

    Wieder zu Hause

    Glossar

    Widmung

    Für Moritz und Jessi

    Zitat

    ›Gimme shelter‹

    Rolling Stones

    Prolog

    Der Hauptbootsmann schritt vor den angetretenen Männern auf und ab. Er sah auf die Uhr. Noch drei Minuten. Es fehlte keiner. Selbst den zweiten Koch musste er heute nicht aus der Koje holen.

    *

    Mein Gott, wie wichtig der sich vorkommt. Marschiert da vor der Truppe wie Napoleon vor der Schlacht bei Waterloo. Macht heute ein Gesicht, als hätte er schon lange keinen Stoff mehr gehabt. Seine Arbeit macht die Pappnase auch nur gut, wenn er unter Strom steht. Mal sehen, was heute anliegt.

    *

    »Achtung!«, rief der Hauptbootsmann laut, spannte seinen Körper und stellte sich gerade vor seine Truppe.

    »Hauptabschnitt vier stillgestanden! Richt euch!«

    Die Soldaten rückten zu geraden, geschlossenen Reihen zusammen.

    »Zur Meldung an den Hauptabschnittsleiter die Augen links!«

    Er wandte sich nach rechts und grüßte. Aus dem Schatten des Decksaufbaus trat ein Oberleutnant und baute sich in Armeslänge vor dem Bootsmann auf.

    »Melde Hauptabschnitt vier vollzählig angetreten. Keine besonderen Vorkommnisse, Herr Oberleutnant.«

    »Danke, Versorgungsmeister.« Der Offizier grüßte zurück. Dann machte er die paar Schritte vor die Front und stellte sich aufrecht und mit zusammengeschlagenen Hacken vor die angetretenen Soldaten. »Guten Morgen, Hauptabschnitt vier!«

    »Guten Morgen, Herr Oberleutnant«, röhrte es aus knapp zwei Dutzend Kehlen.

    »Augen gerade aus. Rührt euch.«

    Unruhe und Bewegung kamen jetzt in die Gruppe.

    *

    Der Oberdödel, welch heldenhafter Offizier. Liegt schon bei Windstärken vier in der Koje und jammert nach Mutti. Letztes Mal hat er die Kantine vollgereihert, die Sau. Auf Gummibärchen kann der nicht verzichten. Der müsste mal mit zu meinen Legionären und Marines. Da würde Mutti ihr Söhnchen schon bald wieder haben.

    *

    »Wir erwarten gleich den IO1. Er hat Erfreuliches mitzuteilen. Also benehmt euch und steckt die Hemden in die Hosen, Männer!«

    »Hemden kenn ich nich. Ich kenn nur Hemdchen und Höschen«, kam es irgendwoher aus der Truppe. Ein halbherzig unterdrücktes Lachen breitete sich unter den Männern aus.

    »Unser Witzbold vom Dienst. Ich hab schon drauf gewartet. Sawatzki, vortreten.«

    *

    Der schon wieder. Der nervt nur. Immer unter Strom. Kriegt die Nase nicht voll genug. Steht bei mir in der Kreide. Muss ich mir mal vorknöpfen, bevor der abnippelt oder sonst irgendwelchen Scheiß baut.

    *

    »Melde mich wie befohlen, Herr Oberleutnant.« Ein schmächtiger Junge baute sich vor dem Offizier auf. Ein Dauerlächeln verzerrte sein Gesicht.

    »Sawatzki, welches Schuhwerk ist für BGA2 befohlen?«

    »Bordschuhe, Herr Oberleutnant.«

    »Und warum tragen Sie dann Seestiefel?«

    »Meine Bordschuhe kann ich nicht finden, Herr Oberleutnant.«

    Sein Vorgesetzter ging um ihn herum und musterte seine Bekleidung. »Darf ich Sie anfassen, Herr Obergefreiter?«

    »Ich bitte darum, Herr Oberleutnant«, antwortete der Junge künstlich erfreut. In der Gruppe brandete Gekicher auf.

    Der Offizier richtete den Hemdkragen des Soldaten und steckte die Enden des Uniformhemdes unter den Gürtel seiner Hose. »Sawatzki, Sie sind ein hoffnungsloser Fall. Zurücktreten ins Glied, aber ganz nach hinten bitte.« Der Soldat trat unter beifälligem Gemurmel und Gekicher seiner Kameraden ab.

    »Achtung!«, rief der Hauptbootsmann aus dem Hintergrund.

    Das Anfangszeremoniell wiederholte sich. Nur meldete diesmal der Oberleutnant dem IO, der hinter dem Schornsteinaufbau vorgetreten war und jetzt das Kommando übernahm.

    »Männer, ich habe heute eine erfreuliche Pflicht zu erfüllen.«

    *

    Der IO, guter Mann! Kann ’nen Stiefel ab. Dem würde ich nicht gern im Dunkeln begegnen. In der Muckibude ist er auch öfter. Labert nicht blöd rum. Sagt, wo es langgeht. Hat aber keine Ahnung, welchen Schrotthaufen er befehligt. Ist noch neu. Der hat noch nie in der Kantine eingekauft. Besoffen hab ich ihn auch noch nicht erlebt. Kann gefährlich werden, der Mann. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.

    *

    »Obermaat Kannegießer, vortreten!«

    *

    Was, der? Das kann doch nicht wahr sein. Diese Flachpfeife wollen sie zum Bootsmann machen? Nee, nee Kinder, das könnt ihr gern machen, aber nicht mit mir. Mein Gott, was ist das nur für ein Sauhaufen. Das einzig Tolle an diesem Typen ist seine Braut. Versteh einer die Weiber. Meine Alte, diese Schlampe, hat sich einfach abgesetzt. Was hab ich ihr getan? Sie hat bei mir ein schönes Leben gehabt und hätte ein noch besseres haben können. Wäre ja nicht ewig gewesen mit der Seefahrt. Hatte schon meine Pläne. Aber wenn sie mal ein paar Tage aufs Bumsen verzichten müssen, machen sie gleich die Biege. Keine Disziplin. Keine Treue. Nur Scheiß in der Birne. Scheiß was drauf. Scheiß auf die Weiber. Da lob ich mir die Professionellen. Da weiß man, was man hat. Lilly, die ist ’n echter Kracher. Und nicht teuer.

    *

    »Für den Bundesminister der Verteidigung, der Leiter der Stammdienststelle … Die Unterschrift kann ich nicht entziffern«, schloss der IO.

    »Ich würde mal zu Fielmann gehen.« Der Spruch kam wieder aus der Truppe und löste erneut allgemeine Heiterkeit aus. Der IO überreichte dem vorgetretenen Obermaaten ungerührt die Ernennungsurkunde, gratulierte ihm zum neuen Dienstgrad und befahl ihn zurück ins Glied. Dann stellte er sich betont aufrecht vor die Front und fixierte schweigend die Männer, einen nach dem anderen. Je länger sein Schweigen anhielt, desto mehr wuchs die Spannung. Es wurde mucksmäuschenstill.

    Schließlich sagte er laut: »Im Stillgestanden rede nur ich, Soldaten!« Er machte eine längere Pause und sah noch einmal durch die Reihen. »Wer gerade gequatscht hat, vortreten«, befahl er.

    Keiner rührte sich.

    *

    Das war natürlich Hein Blöd, der nicht mal vernünftige Brötchen backen kann. Fehlt bloß noch Käpt’n Blaubär und die Chaostruppe ist vollzählig. Scheißt sich in die Hose, wie immer, wenn er nicht gerade ’ne Nase durchgezogen hat. Aber dann. Große Klappe, nichts dahinter. Wie blöd muss man eigentlich noch sein, um von der Marine abgelehnt zu werden? Der Scheißer ist ’ne echte Beleidigung.

    *

    »Der Mann hat bis morgen früh Zeit. Bis zur Frühmusterung meldet er sich beim SVO3. Dann werden wir weitersehen.«

    Der IO ließ rühren und verließ das Deck in Richtung Vorschiff. Unter den Männern setzte Gemurmel ein. Sie wussten, wer der Witzbold war, taten aber unwissend, solange ihr Oberleutnant vor ihnen stand.

    »Ihr habt gehört, was der IO gesagt hat. Spätestens morgen früh erwarte ich Meldung. Wegtreten auf Station.« Die Gruppe löste sich auf und der Offizier verließ das Versorgungsdeck.

    *

    Tolle Vorstellung. Scheiße. Was liegt jetzt an? Ich muss die präparierten Gummibärchen noch einpacken. Die neue Bestellung muss mit Deutschland klargemacht werden. Meinen Hiwi muss ich einnorden, damit er weiß, wo was liegt und wie viel wir in Reserve halten müssen. Kein Problem, der Kerl frisst mir aus der Hand, seitdem er die Wohltaten von Gummibären und Schokolade kennengelernt hat. Eine echt arme Sau. Aber Kamerad. Verlässlich. So einen brauch ich. Wo ist er überhaupt? Da steht er ja, beim Provi4. Den Einkauf für das nächste Spitzenessen wird das Arschloch von Provi natürlich wieder mir zuschieben und sich hinterher dafür feiern lassen. Mir soll’s recht sein. Kann mir nur nützen. Wenn der von meinen Beziehungen zu den Franzmännern und Amis wüsste, würde der grün anlaufen.

    Ich ertrag das ganz einfach nicht mehr: nur Weicheier, Kokser, Wichtigtuer und Absahner. Frauen? Alle nur Schlampen. Paul und Kalle, die sind okay. Prima Kerle. Die haben das gemacht. Einfach so. Respekt. Leben jetzt drüben bei den Franzmännern. Neue Papiere, neues Leben, guten Job, schöne Frauen. Solche wie Lilly.

    John und Charles, auch tolle Typen. Die machen was draus. Was die so erzählen. Alle Achtung! Wenn ich sehe, was sie an den Hanteln stemmen, glaub ich ihnen jedes Wort. Blöd sind die nicht. Groß im Dealen. Kann ich noch was lernen.

    John sagt, es wird schwieriger. Die Russen kommen. Er braucht einen an Land, der Russisch kann. Wäre was für mich, sagt er. Würde mich schon reizen. Steckt ’ne Masse Schotter drin. Englisch und Französisch wären auch gut, aber nicht unbedingt nötig, sagt er.

    Englisch geht so, lernt man ja irgendwie nebenbei. Französisch? Kann man lernen. Paul und Kalle haben das auch geschafft. Habe schließlich Abi. Na ja, DDR-Abi. Wenn schon. Ist auch nicht schlechter als von den Wessis. Und den ganzen Marinescheiß kann ich sowieso besser als alle anderen.

    1 Erster Offizier

    2 Borddienst- und Gefechtsanzug

    3 Schiffsversorgungsoffizier

    4 Proviantmeister

    Der Besuch

    Boll atmete hörbar aus. Er drängelte: »Was wisst ihr denn nun genau, Tomi?«

    Tomas Jung, Kriminalrat und Leiter des Dezernats für unaufgeklärte Kapitalverbrechen bei der Polizeiinspektion Nord in Flensburg, saß im Garten seines pensionierten Kollegen auf der Halbinsel Holnis. In Oxbüll hatte er die Straße in Richtung Ulstrup/Bockholm verlassen, und nachdem er die sanfte Kuppe der letzten Moräne vor der Förde erklommen hatte, lag die Halbinsel Holnis vor ihm. Boll hatte dort in den 70er-Jahren ein altes Siedlungshaus erworben und es für sich und seine Frau hergerichtet. Die Halbinsel teilt die Innen- von der Außenförde und ist der letzte Flecken deutschen Bodens vor den dänischen Äckern, die jenseits der engen Fahrrinne zu erkennen sind. Holnis war vor einigen Jahren zum Landschaftsschutzgebiet erklärt worden. Leider einige Jahre zu spät, denn die Ufer waren schon von einer billigen Freizeit- und Ferienindustrie besetzt worden. In den letzten Jahren hatte sich die Gemeinde mit großem Aufwand um Verbesserungen bemüht, mit bescheidenem Erfolg. Zumindest durfte auf der Halbinsel zur Freude derjenigen, die dort wohnten, nicht mehr gebaut werden. So gewann Bolls Haus an Exklusivität und Wert und er selbst die Gewissheit, dass der Ausblick auf das vor seinem Haus per Durchstich von der Förde geflutete Noor nicht mehr verbaut werden konnte.

    Jung hatte während der Aufklärung des Gifttodes einer Immobilienmaklerin auf Sylt bei Boll Hilfe gesucht und gefunden. Jetzt besuchte er ihn, um von seinen Ermittlungsergebnissen zu berichten. »Wir wissen, dass zwei Frauen, deren Verschwinden ich seit Monaten aufzuklären versuchte, …« Jung erzählte ausführlich. Er war sehr genau in seiner Schilderung, auch um sich selbst noch einmal alle Fakten vor Augen zu führen. Bis heute, bis zu diesem Moment in Bolls Garten, ließ dieses Verbrechen jegliche kriminelle Logik vermissen. Die Motive für die Tat hatte Jung nicht aufdecken können. Er hatte Fakten gesammelt, die nicht anzuzweifeln waren. Sie machten ihn wissender, aber nicht schlauer.

    Jung war deswegen nicht überrascht, als Boll am Ende fragte: »Das verstehe ich nicht! Wo ist der Sinn?«

    »Gute Frage. Ich habe nur eine vage Idee.« Jung blickte sinnend an Holnis’ Kliff vorbei auf die weiter draußen liegende Innenförde. Das Wasser glitzerte schwach unter einem wolkenverhangenen Himmel. »Ich müsste den mutmaßlichen Täter befragen können. Aber der ist in Afrika. Der Chef hat den Fall nach Kiel abgegeben. Offiziell bin ich aus der Sache raus.«

    Sie schwiegen und starrten in die immer dichter werdenden Wolken. Boll war kürzlich von einem mehrwöchigen Urlaub in Spanien zurückgekehrt. Es war Frühherbst und noch sehr mild. In jedem Moment drohten die ersten, winzigen Sprühregentropfen niederzuschweben. Später würden die Tropfen sich vermehren, größer und schwerer werden und schließlich in einen warmen, lang andauernden Landregen übergehen.

    Sie wechselten von den Gartenstühlen auf die bequemen Sessel in Bolls Wohnzimmer.

    »Bevor ich weiterfrage, was willst du trinken?« Boll sah Jung auffordernd an. »Ich habe vor Kurzem zwei Flaschen 89er Rauenthaler Gehrn, Spätlese, von Jupp Schell im Keller gefunden. Wenn er noch nicht umgekippt ist, dann muss er schnellstens getrunken werden. Also, was meinst du?«

    Man merkte Boll an, dass er stolz auf seinen Fund war und von Jung eine begeisterte Reaktion erwartete.

    »Probieren wir es aus. Wenn er frisch geblieben ist, dann ist er ein Juwel.«

    »Ja, das dachte ich mir auch. Gerade gut genug für uns alte Genießer.« Boll nickte zufrieden.

    *

    Er und Jung waren Bewunderer der Rheingauer Rieslingweine. Sie hatten seinerzeit die Adressen ihrer bevorzugten Weinbauern ausgetauscht und sich die eine oder andere Kiste mitgebracht, wenn es sich gerade so ergeben hatte. Jung schnalzte mit der Zunge, wenn er an die Weine Jupp Schells dachte. Schell war Winzer aus Familientradition gewesen, mit eigenem kleinen Wingert und den Traditionen seines Handwerkes verpflichtet. Solange er dem wirtschaftlichen Druck des Weinmarktes standzuhalten vermochte, hatte er seine Weine selbst vermarktet. Ende der 80er-Jahre musste er aufgeben. Die neue Weingesetzgebung begrub seine letzten Chancen, als kleiner Winzer zu überleben. Von da an verkaufte er seine Ernten an Genossenschaften und Großunternehmer wie die Hessischen Staatsweingüter in Eltville. Dort gingen sie unter und waren nicht mehr zu schmecken.

    *

    Boll kam mit der entkorkten Weinflasche in der Hand aus der Küche. Jung erkannte das schlichte Etikett: das Wappen der Schells auf blassgelbem Grund, darunter die Lagenbezeichnung, der Jahrgang, die Qualitätskennzeichnung nebst Kontrollnummer. Die Angaben waren von einer in rot und weiß geflochtenen Bordüre umrandet. Erinnerungen an Weinproben bei den Schells erwachten in Jung. Auf wackeligen Holzbohlen waren sie im Haus der Großmutter in den felsigen Untergrund hinabgestiegen. Die Sommerhitze draußen, die feuchte Kühle im Keller und der Geruch nach Hefepilzen und Wein waren in seinem Gedächtnis unauslöschlich eingegraben. An das Aroma grober, mit Majoran angemachter Leberwurst, an das selbst gebackene Brot und an die herbe Säure eines frischen Weins aus der Literflasche erinnerte er sich, als ob er sie eben erst auf der Zunge und in der Nase gehabt hätte.

    An andere Weinproben erinnerte er sich auch, aber mit gemischten Gefühlen. In Hallgarten war er aus einem kühlen Weinkeller in die gleißende Mittagshitze hinaufgestiegen. Ihm waren auf der Stelle die Sinne geschwunden, als hätte ihn ein schwerer Hammer am Kopf getroffen. Er hatte sich torkelnd auf einen nahe gelegenen Friedhof gerettet und sich heftig übergeben. Er hatte sich auf eine Friedhofsbank legen müssen und war für Stunden eingeschlafen. Später, wenn er ins Erzählen kam und von den Zeiten schwärmte, in denen er im Rheingau Weinproben besucht hatte, ließ er diese Episode lieber aus. Er schämte sich für seinen Kontrollverlust und für die Pietätlosigkeit auf einem Gottesacker.

    Boll schenkte den Wein in die Gläser ein. Sie nahmen einen ersten, vorsichtigen Schluck. An Jungs Gaumen entfaltete sich die strahlige, herbe Kühle eines gerade anbrechenden Sonnentages über dem Rheingau. Boll sagte nichts. Andächtig probierten sie einen zweiten, mutigeren Schluck. Sie stellten die Gläser zurück.

    »Gut. Er lebt«, ließ Boll sich vernehmen.

    »Und wie er lebt. Großartig. Wer hätte damals gedacht, dass wir heute hier sitzen und einen Wein trinken, den es niemals wieder geben wird? Mich beunruhigt das.« Jung schüttelte leicht mit dem Kopf und nippte erneut an seinem Glas. »Fast alles, was damals wichtig war, ist inzwischen für mich ziemlich belanglos geworden. Und was mir heute wichtig ist, daran habe ich damals keinen Gedanken verschwendet.«

    »Verschwendung, das ist es, was ich oft empfinde, wenn ich auf mein Leben zurückblicke.«

    Sie machten eine Pause und steckten die Nasen in die Gläser. Verlegenheit über die aufkommende Sentimentalität breitete sich aus. Sie wollten keine alten Leute sein, die über die vergangenen Zeiten redeten, als gäbe es nichts Besseres. Ihr Verstand sagte ihnen, dass das Gegenteil stimmte. Aber ihre Gefühle klebten an den Pilzen auf den felsigen Wänden in Oma Schells Weinkeller und dem Duft einer entkorkten Flasche Rauenthaler Spätlese.

    *

    »Unsere verabredete Strategie. Sie hat sich also bewährt, wenn auch nicht zu deiner vollen Zufriedenheit?«, brachte Boll das Gespräch auf seinen Ausgangspunkt zurück.

    »Sie hat die Resultate gebracht, die du nun kennst. Ich bin eigentlich komplett gescheitert.«

    »Das musst du mir erklären.« Boll sah Jung ungläubig an.

    »Mit der Freundin der Toten hatte ich zuletzt nur

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1