Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

nicht oben und nicht unten
nicht oben und nicht unten
nicht oben und nicht unten
eBook665 Seiten9 Stunden

nicht oben und nicht unten

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

"Wir haben, Gott sei gedankt, Friede und da ist Lachen angesagt. Nichts als Lachen und Freude, Genosse Kompaniechef. Einfach nur befreiendes Lachern nach dem alltäglichen, stinklangweiligen, absolut blöden Kompanieleben…."

Dieser Ausspruch eines Oberfeldwebels einer NVA-Nachrichteneinheit ist fast das Resümee des vorliegenden Buches. Autor Frank Martin erzählt persönliche Erinnerungen aus der Zeit in der Nationalen Volksarmee. Dieses Traktat ermöglicht einen aufschlussreichen Einblick in das Leben und die Gedankenwelt junger Menschen in der DDR in den siebziger Jahren. Diese Jungend stößt wiederholt im zivilen und militärischen Alltag auf Fehlentscheidungen und Widersprüche, ist Konflikten ausgesetzt, vom Schießbefehl bis hin zu Methoden der Stasi.
Die Hauptfigur des Buches, Unteroffizier Wolkenstein, beobachtet aus seiner Position - nicht oben und nicht unten - die Prozesse und versucht sie in seinem Sinne und dem "seiner" Soldaten zu beeinflussen. Dabei bleiben Überraschungen nicht aus. Der Schelm lässt "die oben" meist nicht gut aussehen, differenziert jedoch, wenn er auf Ausnahmen trifft. Manchmal wird es satirisch ähnlich wie in Hasaks "braven Soldaten Schwejk". Frank Martin lässt den Leser lachen auch wenn er die Erlebnisse in armeeeigener Sprache präsentiert.
Der Autor, gebürtiger Berliner, Jahrgang 1955, wählte Namen für die geschilderten Personen rein zufällig. Er betont, das sie nichts mit eventuell noch Lebenden zu tun haben.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum26. Aug. 2015
ISBN9783732357925
nicht oben und nicht unten

Ähnlich wie nicht oben und nicht unten

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für nicht oben und nicht unten

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    nicht oben und nicht unten - Frank Martin

    In den Diktaturen darf man nichts sagen,

    muss alles nur denken.

    In der Demokratie darf man alles sagen,

    aber keiner ist verpflichtet,

    sich dabei etwas zu denken.

    Willi Ritschard (1918-1983)

    DER FREMDE ANFANG

    „Name?"

    „Wolkenstein."

    „Vorname?"

    „Lars."

    „Ihr Alter?"

    „Na och Wolkenstein!"

    Der ältere Mann schaute nur kurz über seine Brille zu seinem Gegenüber, räusperte sich laut und fragte erneut: „Wann geboren", und betonte dass WANN lauter.

    „Wer? Mein Alter?"

    Der ältere Mann legte den Stift auf den Fragebogen, nahm die Brille ab, lehnte sich zurück, grinste. Die Haare, die seitlich der Mütze hervorschauten, waren angegraut. Er nahm sie ab und legte sie auf den Tisch. Die Mütze gab eine Glatze frei. Falten bildeten sich auf seiner Stirn. Mit strahlenden Augen, die zu seinem Grinsen passten, schaute er Wolkenstein an.

    „Einen Komiker haben wir hier, was? Na, das werden sie dir schon austreiben! Wir hatten hier schon ganz andere Komiker."

    Wolkenstein musterte den Uniformierten. Graue Schläfen, hohe Stirn, dunkle Augenringe. Steinalt, dachte Wolkenstein.

    Der Alte hatte sich inzwischen wieder in Schreibposition begeben und die Brille aufgesetzt, die Mütze lag noch auf dem Tisch: „Wie alt sind Sie denn nun?"

    „Neunzehn Jahre, Herr Hauptmann", antworte Wolkenstein so zackig er konnte, es sollte aber komisch klingen.

    „Das lernst du hier alles noch, keine Bange: das heißt Genosse Fähnrich! Verstanden, Genosse Soldat?"

    „Entschuldigung, aber ich bin nicht in der Partei, in gar keiner."

    „Wir sind hier alles Genossen, früher waren wir Kameraden und heute sind wir Genossen."

    Wolkenstein wollte etwas antworten, aber der Fähnrich ging stur die Fragen durch, ohne weitere Unterbrechungen zuzulassen.

    „Na also, ging doch, sagte der Ergraute, als er die Antwort zur letzten Frage notiert hatte, „und nun raus auf den Gang, rechts rum, nächstes Zimmer, 156. Der Nächste!

    Wolkenstein stand auf, nahm den ihm gereichten Zettel und verließ das Zimmer.

    Auf dem Gang war es finster, seine Uhr zeigte halb eins, nachts. Licht schien nur durch die offenen Türen auf den langen Flur. Ein Soldat kam mit langsamen Schritten näher. Seine Schritte knallten laut auf den Fließen, er hatte Eisenabsätze unter den Sohlen. Jeder Schritt hallte von den kahlen Wänden wieder. Der Kopf dröhnte noch leicht von gestern, von der Abschiedsfeier, sein Mund war trocken.

    „Wehrkreiskommando XV, Schillingstraße 49, 4.11., 09.00 Uhr" stand auf seinem Einberufungsbefehl. Die Nacht zuvor hatte er ausgiebig Abschied mit seinen Freunden und seiner Verlobten gefeiert, Kola-Wodka ohne Ende. Alle waren gut drauf und machten ihm Mut. Gestern war er auch noch mutig, hatte große Sprüche geklopft, ohne recht zu wissen, was ihn hier eigentlich erwarten würde. Es war doch bisher auch immer alles gut gegangen, weshalb sollte diesmal etwas nicht glatt gehen?

    Am letzten Arbeitstag hatte ihn der Meister mit den Worten verabschiedet: „Immer schön in der Mitte bleiben, nie vorneweg und nie hinterher, verstehst? So bin ich auch vom Russenfeldzug heimgekommen. Na, wirst es schon schaffen, bist doch ein kluges Kerlchen!"

    Die anderen Kollegen wünschten einfach nur alles Gute.

    „Wenn du erst EK bist, hast du das Gröbste hinter dir, dann sagst du, wo es langgeht." Peter war Mitte zwanzig und hatte sogar schon einmal Reservistendienst geleistet.

    EK? Wie fremd das klang. Entlassungskandidat war die genaue Bezeichnung für einen Titel, den jeder im dritten Diensthalbjahr bekam.

    Mutter hatte ihm die Tasche gepackt. Er wollte das selber machen, aber er konnte ihr die Freude nicht nehmen. Sie war aufgeregt und unterdrückte ihre Angst nicht. Mach dies, pass auf, zieh dich ja warm an, iss bloß genug. Vater hatte ihm seinen alten elektrischen Rasierapparat gegeben und Rasierwasser gekauft. „Hast ja schon einen Bart. Nun muss der Flaum aber runter. Und eine vernünftige Frisur werden sie dir auch verpassen!"

    Von wegen Flaum! Andere in seinem Alter hatten nicht mal den. Seine Koteletten trug er lang als Backenbart wie John Lennon. Das Bild Lennons hing über seinem Bett. Neben den anderen Bildern der Beatles. Vater hatte anfangs wegen der Bilder Theater gemacht. „Langhaarige Schreihälse hatte er sie genannt. Die Bilder blieben hängen, auch der selbstgemalte Schriftzug HELP! Daneben ein Ausspruch Lennons: „Ihre Majestät, ich gebe aus Protest gegen die britische Verwicklung im Nigeria/Bifra Konflikt meinen MBE Orden zurück, ebenso protestiere ich gegen die englische Unterstützung der Amerikaner in Vietnam und dagegen, dass mein Song Cold Turkey die Hitliste runterrutscht.

    Wolkenstein bewundert John für seinen Mut, der Königin von England so etwas zu sagen. Der Königin! Mehr ging nicht.

    Er verehrte John, weil er anders war. Nie im Leben hätte Wolkenstein sich getraut, einen älteren Menschen zu kritisieren. „Achte mir die Alten, sie haben ein schweres Leben hinter sich und es verdient, geachtet zu werden!" Seine Großmutter hatte für jeden und alles einen weisen Spruch.

    „Was stehen Sie da rum? Kommen Sie rein!"

    Wolkenstein wurde aus seinen Gedanken gerissen.

    Er stand vor der offenen Tür des Zimmers 156. Nachdem er eingetreten war, reichte er seinen Zettel.

    „Die Tasche auf den Stuhl abstellen. Schuhe ausziehen und auf dieses Brett, mit dem Rücken zur Messlatte stellen."

    Der Ton des neuen Fähnrichs war ungleich härter, als der des Schreibers von nebenan. Militärischer eben. Er war auch bedeutend jünger, sehr kurze Frisur, die Uniform saß wie angegossen.

    Wolkenstein stellte die Tasche neben den Stuhl, setzte sich auf selbigen und begann die Schnürsenkel zu öffnen.

    Scheinbar dauerte es dem neuen Fähnrich zu lange: „Ihnen kann man ja die Schuhe beim Laufen besohlen. Etwas mehr Bewegung, wir sind hier nicht im Altersheim Mann, bewegen Sie sich."

    „Jawohl, Genosse Fähnrich!" Wolkenstein wollte sein eben erst erworbenes Wissen gleich anwenden.

    Dem neuen Fähnrich huschte ein Lächeln übers sonst sehr ernste Gesicht, er richtete sich etwas auf. Die Brust vorgestreckt antwortete er mit unerwartet weichem Ton: „Ich bin noch Oberfeldwebel, Genosse Soldat, sein Lächeln verschwand jedoch sogleich wieder, „nun aber etwas zügiger, es warten noch mehr draußen.

    Wolkenstein stellte sich auf das Brett.

    „Die Hacken hinten an die Leiste Mann! Wie soll ich denn sonst Ihre Schuhgröße bestimmen? Und den Kopf auch. Gerade stehen. Muss man Ihnen denn alles sagen, Mensch?" Noch beim Sprechen knallte der Oberfeldwebel einen Stiefel gegen die Schienbeine und mit der flachen Hand schlug er gegen Wolkensteins Stirn, so dass der Kopf hinten an die Messlatte schlug. Bevor Wolkenstein alles begreifen konnte, stand der Oberfeldwebel gebeugt über dem Schreibtisch und notierte etwas auf dem Zettel. Dann drehte er sich um und reichte Wolkenstein das Blatt.

    „Mensch, Sie stehen ja immer noch da! Schuhe anziehen und weiter zur 158! Der Nächste!"

    Wolkenstein musste sich auf den Boden setzen, um die Schuhe anziehen zu können, der Nächste hatte bereits seinen Koffer auf den Stuhl gestellt.

    In der 158 waren mehrere Feldwebel und Soldaten. Der erste reichte ihm mit der einen Hand eine große Plane: „Zusammenknöpfen, wie das Muster da an der Wand, sodass ein Sack entsteht und weiter zum Nächsten", und wies mit der anderen auf die hinter ihm stehende Wand, wo eine Art Seesack zu erkennen war.

    Wolkenstein war überfordert. Die Plane war quadratisch, etwa 2 mal 2 Meter. Knöpfe aus Aluminium, Schlitze, Öffnungen. Wo anfangen? Welche Seite gehörte nach oben, wo sollte die Öffnung hin? Ein Feldwebel bemerkte seine Hilflosigkeit, trat näher und sagte: „Da werd ich Ihnen mal ein bisschen helfen, Genosse Soldat! Hatten wir denn das nicht in der GST gelernt? Er nahm Wolkenstein die Plane aus der Hand und knöpfte mit flinken Fingern zwei Seiten zusammen. „Und ab hier weiter bis oben hin, verstanden?!

    „Jawohl, verstanden!" Wolkenstein war froh, den Rest konnte er nun allein. Dankbar schaute er den hilfsbereiten Feldwebel ins Gesicht. Klare, ganz helle Augen, strahlend. Blonde Haare quollen seitlich der Mütze hervor. Er war jünger als die beiden vorher. Höchstens zwei Jahre älter als Wolkenstein.

    „Danke", murmelte Wolkenstein und knöpfte dabei weiter.

    Die Soldaten, die ihn weiter abfertigten, schauten kurz auf seinen Zettel, drehten sich um, gingen zu den hinter ihnen stehenden Regalen, nahmen etwas heraus, kamen zurück und warfen es in seinen neuen „Seesack".

    „Weiter!" Der nächste warf auch einen kurzen Blick auf das Blatt und legte einen Stapel weißer Wäsche in den Sack. Kurz darauf mehrere Hosen und Jacken, Stiefel, Stahlhelm. Es ging alles mächtig schnell.

    „Ich weiß ja gar nicht, ob mir das alles passt" rief Wolkenstein hilflos, bemüht, den Sack nicht fallen zu lassen.

    „Wir sind hier bei der Armee und nicht im Kaufhaus, Genosse Soldat!" Sagte eine sehr laute Stimme direkt hinter Wolkenstein. Er drehte sich um. Hinter ihm stand ein großer, sehr dünner Offizier. Wolkenstein erkannte die silbrige Kordel an der Mütze und die goldfarbenen Sterne auf den Schulterstücken, Kennzeichen eines Offiziers. Die anderen Soldaten und Feldwebel hatten ihre Arbeiten unterbrochen und sich stramm hingestellt.

    „Achtung! Vierter Zug beim Einkleiden. Genosse Hauptmann, keine besonderen Vorkommnisse!" Der freundliche Feldwebel sah nun ernst aus, kein Lächeln umspielte seinen Mund. Er sprach laut und zackig. Die Augen strahlten nicht mehr, leer schauten sie auf den Hauptmann.

    „Danke, weitermachen", antwortete der Hauptmann. Wolkenstein schaute zum Feldwebel, da er annahm, dass dieser irgendetwas antworten würde. Als nichts geschah, blickte er sich um, der Hauptmann war weg. Unauffällig wie er plötzlich hinter Lars gestanden hatte, war er auch wieder verschwunden.

    „Den sollten Sie sich merken, der Feldwebel hatte sein Lächeln wieder gefunden „dass ist unser KC! Er stockte kurz, als er Wolkensteins fragenden Blick sah. „Unser Kompaniechef", setze er hinzu. Wolkenstein nickte stumm.

    Alles Weitere ließ Wolkenstein stumm über sich ergehen. Er war müde und wollte nur noch schlafen. Das neue Leben war fremd und unwirklich, es passte nicht auf seine Haut.

    Nach dem Empfang aller möglichen Kleidungsstücke und Gerätschaften ging es auf die Zimmer. Ein Unteroffizier führte sie durch die Gänge bis zu ihrer Stube. Es war ein „Dreiender", die Jacke der Uniform war oben zugeknöpft, alle noch länger Dienenden trugen Hemden mit Krawatte. Seine Mütze saß sehr tief, so dass man kaum die Augen sehen konnte

    „Hier ist ihre Stube", sagte der Unteroffizier und verschwand.

    Na endlich, dachte Wolkenstein, endlich schlafen, es war halb zwei.

    Gleich rechts neben der Tür standen vier Doppelstockbetten, weiß blau karierte Bettwäsche, am Fußende jeweils eine dunkelgraue Decke. An den Stirnseiten des Raumes befanden sich je vier Schränke, ein schmaler Schrank stand links neben der Tür. Gegenüber den Betten waren zwei Fenster, davor zwei Tische mit je vier Hockern.

    Jeder suchte sich ein Bett und einen Schrank aus, geredet wurde kaum, jeder hatte mit sich zu tun.

    Bevor er sich jedoch auf sein Bett setzen konnte, kam der Unteroffizier in die Stube: „Raustreten zum Haarschneiden, Geld nicht vergessen."

    „Nimmt denn das hier gar kein Ende, morgen ist doch auch noch ein Tag."

    Irgendjemand hatte sich Luft gemacht und gesagt, was vermutlich alle in der Stube dachten.

    Der Unteroffizier drehte sich in die Richtung, wo er den Sprecher vermutete: „Wer von ihnen hat das gesagt?"

    Das Gesicht des Unteroffiziers nahm einen schadenfrohen Ausdruck an, als hätte er nur auf diese Äußerung gewartet. Obwohl die Augen im Schatten der Schirmmütze versteckt waren, glaubte Wolkenstein ein Blitzen gesehen zu haben.

    „Ich", sagte ein etwas dick wirkender Jüngling. Sein Gesicht ernst, die Anstrengungen der letzten Stunden waren darin zu erkennen. Er sah aus, als hätte er erst die Jugendweihe erhalten, aber nicht wie einer, der bald mit einer Maschinenpistole schießen müsste.

    „Ihr Name, Genosse Soldat?"

    „Lehmann."

    „Das heißt Genosse Lehmann!"

    „Nein, einfach nur Lehmann, ohne alles, einfach Lehmann."

    Wolkenstein musste innerlich grinsen. Dem geht’s genau wie mir, dachte er.

    „Hier sind wir alles Genossen, so wird man hier angeredet, Genosse und Dienstgrad, oder Dienstgrad und Namen, verstanden? Und nun etwas Beeilung, um sechs ist die Nacht vorbei. Nach dem Wecken morgen früh ziehen sie rot gelb an, darüber den grauen Trainingsanzug und die schwarzen Turnschuhe."

    Das allgemeine Murren hörte er schon nicht mehr, er war verschwunden.

    Beim Haarschneiden fiel Lehmann wieder auf.

    „Ich war gestern erst beim Friseur, das sehen Sie doch! Oder glauben Sie, ich wäre immer so kahl rumgelaufen."

    „Alle zum Friseur, so lautet der Befehl, Genosse. Hinsetzen!"

    Auf dem Weg zur Stube gab Lehmann noch einige Bemerkungen von sich, die aber keiner so richtig wahrnahm.

    Kurz nach zwei war Wolkenstein endlich im Bett, konnte aber nicht gleich einschlafen. Der Kopf war kalt, die schulterlangen Haare fehlten. Auch die Wangen fühlten sich kühl an, alles war weg. Er hatte im Spiegel mit ansehen müsse, wie er sich im Handumdrehen total veränderte. Entstellt und nackt kam er sich vor. Er war nicht mehr er. Alles Mögliche ging ihm durch den Kopf. Die letzten Wochen waren toll, Facharbeiter geworden, erstes eigenes Geld verdient. Verlobt. Die besten Kumpels der Welt. Fast alle wurden eingezogen, jeder in eine andere Ecke des Landes.

    Irgendwann schlief er ein, traumlos.

    „Kompanie aufstehen, Raustreten zum Frühsport! Raustreten in fünf Minuten", schallte es auf dem Flur.

    Kaum jemand hatte sich bewegt, als schon die Tür aufgerissen wurde.

    „Raus aus den Betten! Anziehen zum Frühsport! Man das stinkt ja hier wie in einem orientalischen Puff!"

    Es war der Unteroffizier von gestern, er hatte den grauen Trainingsanzug an, ging zum Fenster und öffnete beide Flügel bis zum Anschlag. Alle machten Anstalten sich anzuziehen, nur Lehmann lag noch. Der Unteroffizier ging zu Lehmanns Bett und zog mit einem Ruck die Decke völlig weg.

    Lehmann stöhnte: „Was ist denn nun schon wieder? Kann man hier nicht mal in Ruhe die Nacht verbringen? Es ist doch noch stockdunkel draußen." Man sah wie er fror und die Arme vor seinem Körper verschränkte.

    „Hoch Genosse Soldat! Rot gelb und den Trainingsanzug. Sie haben noch vier Minuten."

    Lehmann brabbelte noch irgendetwas Unverständliches und zog sich um.

    DER ÄLTESTE DER STUBE

    Es war noch dunkel, kalt. Der Regen musste erst vor kurzem aufgehört haben, alles glänzte im Schein der Laternen. Pfützen, wohin man schaute.

    Der Unteroffizier machte einige Übungen vor, alle machten mehr oder weniger mit. Zum Schluss rannten sie noch eine Runde um den Block. Der Unteroffizier zeigte mit der linken Hand zum Eingang: „Ich will Sie am ersten Tag nicht gleich überfordern. Waschen, umziehen Dienstuniform, Stubenreinigung, dann fertigmachen zum Frühstück."

    Lehmann rannte voraus: „Man muss ich pinkeln, mir platzt gleich die Blase."

    Alle folgten, genauso schnell.

    Die Toilette war überfüllt, Wolkenstein stand hinter einem großen Schwarzhaarigen, der scheinbar noch den Kasten Bier vom Vortage entsorgen musste. Er wurde einfach nicht fertig.

    „Gib Gas Alter, mir drückt es auch!"

    Der Schwarzhaarige drehte sich um und schaute auf Wolkenstein herab: „Halts Maul, du Zwerg!"

    Wolkenstein war getroffen, er wusste, dass er zu den Kleinsten gehörte. Der Schwarzhaarige ging nach draußen und rempelte ihn beim Vorbeigehen an. Wolkenstein schaute ihm nach, fast zwei Meter, aber sehr dünn.

    Als alle vom Waschen zurück waren, meldete sich Lehmann zu Wort: „Hört mal alle her! Der Unteroffizier möchte, dass wir noch vor dem Frühstück einen Stubenältesten wählen."

    Ruhe im Zimmer. Die acht jungen Männer hatten bisher nur wenige Worte getauscht, sich vorgestellt. Bei der Suche nach einem noch freien Bett, gefragt: „Liegst du hier?" Mehr nicht. Es herrschte sowieso eine gedrückte Stimmung. Jeder versuchte, mit der neuen Situation klarzukommen. Wolkenstein schaute sich um. Außer Lehmann und ihn waren noch sechs andere auf der Stube.

    „Ist mir egal, meldete sich der, der über Wolkenstein schlief, „Hauptsache nicht ich.

    „Mir auch, schlossen sich kurz hintereinander einige andere an. Wolkenstein wollte ebenfalls keinen Posten: „Ich schlage Lehmann vor. Es war auch der einzige Name, den er sich bisher gemerkt hatte. Kaum ausgesprochen, stimmten die anderen sechs zu.

    „Ich? Äh, na ja, äh, wenn ihr wollt. Ich heiße Bodo Lehmann. Und ihr?"

    Es schien, als wäre nun das Eis gebrochen. Jeder stellte sich vor und erzählte woher er kam.

    Unbemerkt trat der Unteroffizier in die Stube. Er hatte schon die Dienstuniform an. Keiner nahm weiter von ihm Notiz, alle waren damit beschäftigt, sich an die neue Kleidung zu gewöhnen.

    „Wer wurde als Stubenältester gewählt?" Er stellte die Frage an Lehmann.

    „Ich. Ich wurde gewählt."

    „Hab ich mir gedacht, Soldat Lehmann. Sie sind nun verantwortlich für die Ordnung und Sauberkeit auf der Stube. Das heißt aber nicht, dass Sie das allein machen sollen. Im Gegenteil! Sie erstellen einen Plan, der alle einbezieht, einen Revierplan. Ich werde Ihnen dass nachher noch genauer darlegen." Er ging zum Fenster, fuhr mit dem Zeigefinger über das Fensterbrett und hielt ihn Lehmann hin.

    „Sehen Sie den Dreck? Darauf haben Sie zu achten."

    „Der Dreck ist aber nicht von uns, wir sind erst einige Stunden hier."

    Wolkenstein biss sich auf die Zunge, er konnte wieder einmal nicht die Klappe halten.

    Der Unteroffizier trat dicht vor Wolkenstein, keinen halben Meter.

    „Ihr Name, Genosse Soldat?"

    „Wolkenstein."

    „Das heißt: Soldat Wolkenstein, Genosse Unteroffizier!"

    Wolkenstein nickte.

    Der Unteroffizier kniff die Augen leicht zusammen und sah Wolkenstein tief in die Augen: „Das heißt: Jawohl Genosse Unteroffizier!"

    Wolkenstein wiederholte nun den Satz. Ohne die Augen von Wolkenstein zu lassen sagte er: „Soldat Lehmann, Sie wissen hoffentlich, wer zuerst mit dem Stubendienst dran ist!"

    „Jawohl, Genosse Unteroffizier!"

    „Noch eins. Für alle. Wenn ein Vorgesetzter die Stube betritt, hat der ACHTUNG zu rufen, der den Vorgesetzten zuerst beim Eintreten erblickt. Alle Tätigkeiten werden dann eingestellt, hinstellen mit Blick zum Vorgesetzten und der Dienstälteste hat dann Meldung zu erstatten. In ihrem Fall der Stubenälteste. Und wenn der Vorgesetzte das Zimmer verlässt, kommt ebenfalls ein ACHTUNG, dann vom Dienstältesten."

    „Jawohl, Genosse Unteroffizier, sagte Lehmann, „Meldung machen. Und ACHTUNG rufen.

    Er stand vor Wolkenstein und schaute ihm immer noch in die Augen: „Sehen Sie, Soldat Wolkenstein, Ihr Stubenältester lernt schnell", dann drehte er sich abrupt um und verließ das Zimmer.

    „Achtung!", rief Lehmann.

    Also werde ich immer drauf achten, dass ich mit dem Rücken zur Tür stehe oder sitze, dachte Wolkenstein.

    „Stubenreinigen ist nun dran und Wolkenstein fängt gleich damit an", meldete sich der frisch gebackene Stubenälteste zu Wort.

    Wolkenstein rührte sich nicht und knöpfte weiter seine Jacke zu. Lehmann und die anderen sechs schauten auf Wolkenstein.

    „Was ist? Habe ich mich verknöpft?" Er schaute auf seine Uniformjacke hinunter und betrachtete die Aluminiumknöpfe.

    „Wolkenstein, du bist dran! Ausfegen, siehst du den Sand nicht? Und vergiss das Fensterbrett nicht!"

    „Seit etwas fünf Minuten gibt es keinen Wolkenstein mehr, nur noch den Soldaten Wolkenstein, Genosse Stubenältester."

    Wolkenstein betonte das Wort „Genosse".

    „Na prima, dann eben Soldat Wolkenstein: ausfegen und das Fensterbrett reinigen." Lehmanns Stimme näherte sich dem Befehlston, der keinen Widerspruch duldete. Der Ton passte eigentlich nicht zu seinem kindlichen Gesicht.

    Eine gewisse Spannung baute sich auf. Wolkenstein ging zu seinem Schrank und suchte sein Besteck: „Mal sehen, wie viel Zeit nach dem Frühstück noch bleibt."

    Lehmann ging mit schnellen Schritten auf Wolkenstein zu und jeder ahnte, was nun folgen würde. Einer der sechs stoppte Lehmann und drängte ihn sacht zurück. Danach ging er zum Besenschrank, nahm einen Besen und einen Lappen heraus. Den Besen warf er wortlos Wolkenstein zu, der ihn erstaunt aber geschickt auffing. Dann ging er zum Fenster und begann dort zu wischen. Wolkenstein folgte ebenso wortlos und fegte den Boden. Die anderen kümmerten sich nun nicht mehr darum und hantierten in ihren Schränken.

    Ausfegen, ja das kannte Lars nur zu gut. Im ersten Ausbildungsjahr war er zum Feierabend immer mit dem Fegen dran. Sein Lehrmeister war von der ganz alten Schule und legte sehr viel wert auf Disziplin, Sauberkeit und Ordnung. Dabei war das Auffegen der Späne, die beim Fräsen, Bohren oder Drehen entstanden sind, gar nicht so einfach. Überall und in allem verhakten sich die Späne und Spiralen. Er hatte seine Ausbildung zum Mechaniker mit Auszeichnung bestanden. Daran hatte der alte Lehrausbilder keinen geringen Anteil. Immer wieder zeigte er ihm, wie die Einstellungen an den verschiedenen Maschinen vorzunehmen waren. Geduldig wartete er darauf, bis Wolkenstein ebenso fehlerfrei arbeitete. Er hatte ihm sogar beigebracht, eine Kugel zu drehen. Das war besonders schwierig. Seine Kugel war zwar nie so rund wie die des Meisters und sie eierte ein wenig auf der Richtplatte, aber mit bloßem Auge war es nicht sofort zu sehen.

    Ohne es zu merken, war er mit dem Fegen am Fenster angekommen. Der Andere war noch dabei, das Fensterbrett zu reinigen. Wolkenstein stellte sich daneben und schaute hinaus. Die Sonne war inzwischen aufgegangen. Die in rötlichem Licht getauchten Gebäude wirkten irgendwie gespenstisch, unwirklich. Wolkenstein hatte immer noch nicht begriffen, wo er eigentlich war. Dreistöckige Häuser mit je zwei Aufgängen reihten sich aneinander, Block an Block. Am gegenüberliegenden Haus stand auf einem großen Schild, das neben dem Eingang angebracht war, „Block 12".

    „Danke", sagte Wolkenstein, ohne den Blick von dem Schild zu lassen, er stierte.

    „Wir sitzen hier alle irgendwie in einem Boot, da macht es keinen Sinn, wenn wir uns untereinander aufreiben. Ich denke, es wird auch so noch schwer genug werden."

    „Ich heiße Lars, Lars Wolkenstein und Du", fragte Wolkenstein und streckte dem Anderen die Hand entgegen.

    Der warf den schmutzigen Lappen auf das Fensterbrett, wischte sich die Hand an der Uniformjacke ab, nahm die ihm gereichte Hand und sagte: „Andre Pelzer."

    Im selben Augenblick ertönte draußen auf den Flur eine Trillerpfeife und jemand rief laut: „Mann vor die Tür!"

    Alle schauten sich an, aber keiner machte Anstalten, vor die Tür zu gehen.

    „Damit ist bestimmt der Stubenälteste gemeint", sagte jemand. Lars konnte nicht deuten, wer das gesagt hatte, Andre war es nicht.

    Von draußen wieder die laute Stimme: „Stube 13, Mann vor die Tür!"

    „Das sind wir, los Lehmann raus!"

    Sichtbar unwillig und verärgert darüber, dass ihm jemand aus seiner Stube Befehle erteilte, warf er sein Essbesteck auf ein Bett und trat in den Flur.

    „Kompanie macht sich fertig zum Frühstück. Raustreten in drei Minuten. Wegtreten!" Die Stimme war etwas leiser, aber noch im Zimmer zu hören, weil die Tür offen stand.

    Lehmann kam wieder rein und ging zu seinem Schrank ohne ein Wort zu verlieren.

    „Was wollten die denn?"

    Diesmal hatte Lars den Sprecher erkannt. Er saß auf dem Bett, das letzte in der Reihe, welches direkt an der Wand stand. Er hatte sein Käppi weit in den Nacken geschoben und grinste. Mit Messer und Gabel trommelte er auf seinen Knien und schien dabei leise eine Melodie zu summen. Der Kragen der Uniformjacke stand offen und die weißgraue Kragenbinde hing heraus.

    „Blöde Frage. Hast doch alles gehört. Gibt gleich Frühstück."

    Lehmann antwortete mürrisch.

    „Frühstück ist prima, hab schon mächtigen Hunger", antwortete der Trommler, ohne auf die Anspielung von Lehmann einzugehen. Er benutzte das Besteck wie echte Schlagstöcke.

    Lars holte einen Handfeger und eine Müllschippe, kehrte den Sand zusammen und schüttete ihn in den Eimer, der ebenfalls im Besenschrank stand. Andre warf den Lappen in hohem Bogen über Lars direkt in den Schrank.

    Kaum hatte Lars die Tür vom Besenschrank geschlossen, ertönte wieder die Trillerpfeife und kurz darauf die laute Stimme: „Kompanie raustreten!"

    Nun entstand Hektik, alles lief durcheinander. Jemand rief, dass das keine drei Minuten gewesen seien, aber keiner antwortete. Außer Lehmann und dem Trommler hatte noch keiner sein Essbesteck aus den Schrank genommen. Keiner stand in der Nähe seines Schrankes und so liefen alle kreuz und quer. Der Trommler und Lehmann gingen als Erste raus, gefolgt von den anderen, Lars war der Letzte.

    Vor der Tür standen schon einige Unteroffiziere oder liefen langsam die Reihen ab, die sich vor den einzelnen Stuben gebildet hatten. Vor ihrer Reihe stand wieder der Unteroffizier, dessen Mütze sehr tief saß, knapp unter dem schwarzen Schirm waren die Augen zu erkennen.

    „Mal herhören! Wir sind die dritte Gruppe des 4. Zuges der 7. Kompanie. Als solche rücken wir als Letzte aus. Und zwar im leichten Laufschritt, die Arme etwas angewinkelt. Er machte eine kurze Pause und setze hinzu: „Ich bin ihnen als Gruppenführer zugeteilt worden und damit ihr erster direkter Vorgesetzter und Ausbilder. Ich bin Unteroffizier Stein.

    Plötzlich kam der Trommler aus der Toilette, Käppi im Nacken, Bestecktasche unter dem Arm, dabei knöpfte er sich noch die Hose zu.

    „Wo kommen Sie denn jetzt her?" fragte Stein.

    „Vorm Essen muss ick immer pinkeln", sagte er im Berliner Dialekt und stellte sich neben Wolkenstein.

    Stein musterte den Trommler aufmerksam.

    „Setzen Sie das Käppi vernünftig auf und schließen Sie den obersten Knopf Ihrer Uniformjacke.

    Der Trommler, eben noch sehr geschickt mit dem Besteck, knöpfte sehr umständlich den obersten Knopf zu und setzte das Käppi bewusst sehr tief in die Stirn, so wie der Unteroffizier etwa seine Mütze trug.

    „Isset so recht, Jenosse Untaoffißier?"

    „Wie heißen Sie, Genosse Soldat?"

    Stein verschränkte die Arme hinter seinem Rücken und stellte sich direkt vor dem Trommler. Seine Augen hatten jeden Glanz verloren und wirkten kalt.

    „Ick heiße Krüja und bin Berlina."

    Breites Grinsen zierte sein sonst sehr schmales Gesicht. Er war bedeutend größer als Lars, er überragte sogar Stein um einen halben Kopf, er war der Längste aus der Gruppe.

    „Genosse Stubenältester! Wie lautet die Antwort richtig?" fragte Stein sehr laut, ohne die Augen von Krüger zu lassen.

    „Ich bin Soldat Krüger und komme aus Berlin, Genosse Unteroffizier!"

    Stein öffnete gerade den Mund, um zu antworten da platzte Krüger dazwischen: „Watn, du heeßt och Krüja, ick denke du heeßt Lehmann, Mensch."

    Alle lachten und Lehmann wollte die Sache richtig stellen, als Stein mit einem sehr lautem „Ruhe!", alle erstarren ließ.

    Immer noch vor Krüger stehend sagte er sehr leise, so dass es nur Krüger hören konnte: „In wenigen Tagen werden Sie vereidigt sein, dann sehen wir uns wieder!"

    Krüger hob unschuldig die Schultern und machte dazu eine passende Miene.

    Ohne weitere Zwischenfälle ging es dann zum Frühstück.

    Vor einem großen, flachen Gebäude hielt die Kompanie an. In Reihe ging es weiter, erster Zug, erste Gruppe bis zum 4. Zug 3. Gruppe. Wolkenstein war der Letzte, der den Essensaal betrat.

    Es roch so eigenartig, dass eine Definition unmöglich war. Nach ausgekochtem Fleisch, angebrannten Kartoffeln oder sonst was, Lars war sich nicht sicher. Er wusste nur, dass er diesen Geruch bisher noch nicht kannte und vom ersten Atemzug an nicht mochte.

    Vor der Essenausgabe stand ein Soldat und verteilte Teller und blaue Plastebecher mit Henkel.

    Dabei sagte er etwa zu jedem Dritten: „Die dürft ihr bis zur Entlassung behalten, und dass dauert noch sehr, sehr lange."

    Dabei setzte er ein breites Grinsen auf. Seine Schulterstücke waren mittig geknickt, die Uniform hatte einige schmutzige Flecken. Lars klemmte sich seine Bestecktasche unter den Arm und nahm einen flachen und einen tiefen Teller, ein kleines Schüsselchen für Kompott und eine Tasse aus blauer Plaste entgegen.

    „Teller!" rief ein Soldat im weißen Kittel an der ersten Luke.

    Da Wolkenstein nicht wusste welchen, reichte er den flachen Teller. Der Soldat nahm eine Kelle, und mit Schwung ergoss sich ein dicker Brei auf den flachen Teller.

    „Teller!" rief schon der Nächste.

    Nun blieb nur noch der tiefe Teller übrig, den er reichen konnte. Der zweite Soldat legte zwei Scheiben Wurst, zwei Scheiben Brot und etwas Butter drauf, reichte den Teller zurück und sagte sofort: „Tasse!"

    Wolkenstein balancierte den flachen Teller mit der Suppe, die drohte über den Rand zu fließen. Er stellte den tiefen Teller mit der Wurst und dem Brot schnell auf die aluminiumbeschichtete Tischplatte der Essensausgabe und nahm die Tasse, die am kleinen Finger der Hand hing, welche die Suppe hielt. Der Soldat füllte eine schwarze Flüssigkeit in den Plastebecher und reichte ihn Lars zurück. Schnell stellte er den flachen Teller mit der heißen Milchsuppe auf den tiefen, um eine Hand für die Tasse frei zu bekommen. Die Tasse dampfte sehr und beinahe hätte er sich die Finger verbrannt.

    Der Soldat an der letzten Luke sah Lars zu und bemerkte seine Schwierigkeiten.

    „Klappt wohl noch nicht so recht? Du hast aber noch sehr viel Zeit zum Üben, keine Bange, sehr viel Zeit." Dann beugte er sich über den Aluminiumtisch, schaute rechts und links, ob noch jemand anstand und ließ dann ein Rollo runter, das mit einem dumpfen Knall auf die Aluminiumplatte landete.

    Wolkenstein nahm nun mit der einen Hand die beiden Teller und mit der anderen Hand den Becher und drehte sich um.

    Der Raum war unendlich lang, Tischreihe an Tischreihe. Wie viele Soldaten mögen hier mit einem Mal essen können? Die anderen saßen schon und aßen. Neben Andre war noch ein Platz frei. Der nickte nur kurz, als er seinen fragenden Blick sah. Wolkenstein lief zu ihm hinüber. Alle saßen auf einem Hocker, nur an seinem Platz stand keiner. Er stellte seine Teller ab. Natürlich hatte die heiße Suppe die Butter zum Schmelzen gebracht, die sich nun zwischen Brot und Wurst hindurchschlängelte.

    Wolkenstein schaute sich um, ob irgendwo noch ein Hocker stand, den er sich hätte holen können.

    „Was ist los? Setzt dich und fang endlich an zu essen." Andre aß dabei weiter, ohne aufzublicken.

    „Ich hab keinen Hocker", antwortete der Angesprochene und schaute weiter in die Runde. Andre aß mit der rechten Hand weiter, während die linke unter dem Tisch einen Hocker hervorzog. Die Hocker steckten in Schienen direkt unter der Tischplatte.

    Erleichtert setzte sich Lars, packte sein Besteck aus und kostete zuerst aus der blauen Tasse. Malzkaffee, der nach Plaste roch und auch danach schmeckte. Als er die Tasse wieder abgestellt hatte, rief jemand: „Aufstehen und rausrücken. Nach der Abwäsche draußen antreten."

    Lars tauchte gerade seinen Löffel in die Suppe, während die anderen aufstanden und die Hocker wieder unter die Tische einschoben.

    „Essen beenden, aufstehen und rausrücken, Genosse Soldat."

    Wolkenstein im Zweifel ob er gemeint war, schaute sich um. Hinter ihm stand Stein.

    „Meinen Sie mich?" Wolkenstein schaute ganz entsetzt.

    „Ja, Sie, Soldat Wolkenstein."

    „Entschuldigen Sie, aber dass kann nicht sein. Ich habe mich eben erst hingesetzt und noch nichts gegessen."

    „Dann wissen Sie beim nächsten Mal wenigstens, wie Sie ihre Zeit einzuteilen haben, um etwas essen zu können. Und nun, aufstehen und rausrücken."

    Stein beachtete ihn nicht weiter und ging zum Ausgang, am anderen Ende des Saales.

    Lars schaute auf sein Frühstück, sah, wie die anderen schon in der Abwäsche, ein relativ kleiner Raum am anderen Ende des Saales, verschwanden. Schnell legte er die zwei Scheiben Wurst auf eine Scheibe trockenes Brot, klappte die andere darüber, stellte den flachen Teller auf den tiefen, schob den Hocker unter den Tisch in die Schienen, steckte sich die Stulle in den Mund, nahm die Tasse in die nun noch freie Hand und folgte den anderen.

    In der Abwäsche lief heißes Wasser aus dutzenden Hähnen, Wasserdampf erfüllter den Raum. Beim Abwaschen versuchte Lars die Stulle zu essen. Um dabei seine Teller und die Tasse abwaschen zu können, musste er sie zwischendurch auf den Rand des Troges legen, in dem sich das dampfende Wasser ergoss. Er konnte sich eines gewissen Ekelreizes nicht entziehen. Der stickige Geruch in der langen Essenhalle, die überhitzte, feuchte und stinkende Luft in der Abwäsche, der mit Essensresten verschmutzte Trog, alles sehr unappetitlich. Sein Magen war von der Abschiedsfeier sowieso noch etwas angegriffen.

    Mit dem letzten Bissen trat er ins Freie und atmete tief durch, so tief er nur konnte und ließ die kalte Luft lange in der Lunge.

    VEREIDIGUNG

    Es folgten Tage, wo einer dem anderen glich: Dienstvorschriften, Exerzierausbildung, Dienstvorschriften, Körperertüchtigung, Dienstvorschriften, Exerzierausbildung….

    Es wurden die Grundlagen vermittelt.

    Sie mussten Päckchen packen, mit ihren Zivilsachen und beim Spieß abgeben. Damit verschwand das letzte bisschen Private, mal abgesehen vom Waschzeug und den Bildern der Freundin. Lars stellte langsam den Karton beim Hauptfeldwebel auf den Tisch, als wären rohe Eier drin.

    Beim Verlassen des Raumes drehte er sich im Türrahmen noch mal um, wehmütig schaute er auf den Karton, das hatte irgendetwas Endgültiges.

    Beim Essen änderte sich nicht viel. Lars sparte Zeit, weil er wusste, welcher Teller wann dran war, die Sitzgelegeneheit musste er auch nicht mehr suchen. Die Suppe löffelte er schon beim Weiterrücken oder er schenkte sich die Suppe und übersprang eine Ausgabe und ging gleich zum Brot. Er hatte sich auch eine Cellophantüte besorgt, um belegte Brote mitnehmen zu können. So schmierte und belegte er nur schnell seine Schnitten und aß sie später in einer Pause. Am Wochenende war mehr Zeit zum Essen, kein Zeitzwang, um pünktlich zur nächsten Ausbildungsstunde zu erscheinen.

    Dann kamen zwei Tage, an denen nur noch exerziert wurde. Der Fahneneid war der Mittelpunkt der „Dienstvorschriftenstunde, die Vereidigung stand vor der Tür. Verwandte und Bekannte konnten eingeladen werden. Fahnen wurden auf dem großen Appellplatz hochgezogen, einige Fahrzeuge standen am Rand der Tribüne. Es war „Paradeuniform befohlen, was in Wirklichkeit nur die Ausgangsuniform war, aber mit Stahlhelm und Stiefel. Nach dem Frühstück, welches erstaunlicherweise in absoluter Ruhe verlief, war noch viel Zeit. Die Gruppenführer hielten sich bei ihren Gruppen auf und gaben Hinweise zur Kleiderordnung. Um neun war gemütliches Antreten, ohne Laufschritt ging es vor den Block. Im ganz normalen Gleichschritt durch das Objekt bis zum Appellplatz. Dort wurde ausgerichtet, bis alle Kompanien sich in einer geraden Linie befanden.

    Sie standen mit Blickrichtung zur Tribüne. Seitlich waren Fahnen an langen Masten hochgezogen, links die Truppenfahne. Auf der anderen Seite stand ein Schützenpanzerwagen, frisch aufpoliert. Seine grüne Farbe glänzte in der Morgensonne. Am Rande des Appellplatzes, der sonst als Exerzierplatz diente, stand ein Fahrzeug vom medizinischen Dienst, es war auch grün, hatte aber an allen Seiten ein rotes Kreuz auf weißem Grund. Na so schlimm wird es wohl nicht werden, dachte Lars.

    Geladene Gäste waren noch nicht zu sehen. Wolkenstein hatte seine Verlobte eingeladen, nicht seine Eltern. Wegen der Verlobung mit Marlies hatte es zu Hause mächtig Zoff gegeben. Nur kurz vor der Einberufung herrschte kurzzeitig Waffenstillstand, die Eltern wollten den Jungen nicht mit allzu schlechten Erinnerungen zur Armee schicken. Marlies war es auch, die ihn am Tag der Einberufung zum Wehrkreiskommando gebracht hatte, nicht die Eltern, wie er es bei einigen gesehen hat. Die meisten kamen allein, nur drei verabschiedeten sich von ihrer Freundin. Als der Lkw losfuhr, saßen etwa dreißig Mann nebeneinander auf den kalten Bänken. Wolkenstein war absichtlich als Letzter eingestiegen, um rausschauen zu können und hatte gehofft, Marlies noch einmal zu sehen. Außerdem war ihm schlecht und er befürchtete das Schlimmste. Als der LKW aus dem Tor fuhr und rechts abbog, stand sie da und winkte, daneben die beiden anderen Mädels. Sie hatte wirklich die ganze Zeit vor dem Tor mit den anderen gewartet.

    Lars winkte und rief ohne Ziel nach hinten: „Mensch, eure Frauen sind noch da! Er wusste nicht, wessen Frauen das waren, sie saßen weiter hinten und sprangen sofort auf, um noch kurz zu winken, dann bog der LKW links ab und fuhr Richtung Bahnhof. Einer von beiden legte seine Hand auf das Knie von Lars und sagte „Danke, danach wurde er nach rechts geschleudert, der LKW fuhr eine Linkskurve. Sich mühsam haltend versuchte er, an seinen alten Platz zu gelangen.

    Lars hatte zuerst einen Kloß im Hals, so etwas kannte er eigentlich nicht. Dann schaute er in die Runde. Er wollte sehen, wer das gleiche Los zu tragen hatte. Die meisten schauten stur auf die Holzplanken der Ladefläche, ohne irgendeine Regung im Gesicht. Dann blickte er plötzlich jemanden direkt in die Augen. Der nickte kurz und sagte laut, um den Motorenlärm zu übertönen und damit es alle hören konnte: „Wir haben die besten Frauen der Welt, die schaffen das!"

    „Na klar Alter, was denkst du denn", hatte Wolkenstein ebenso laut geantwortet. Sehr laut, um sich selbst Mut zu machen und um Stärke zu zeigen. Danach schwiegen alle, jeder hing seinen Gedanken nach. Am Bahnhof angekommen sprangen alle von der Ladefläche. Namen wurden verlesen und Zugabteile zugewiesen. Neue Gruppierungen bildeten sich.

    In seinem Waggon grölte schon eine kleine Truppe, die wahrscheinlich noch vom Vortag in Stimmung war. Laut krakelten acht Männer, zwei hatten sogar noch Bierflaschen in den Händen. Lars hob es fast den Magen an, als er die Flaschen sah. Er schloss die Augen, er war müde und wollte nichts als schlafen. Der Zug war noch nicht abgefahren, als zwei Uniformierte in den Waggon traten. Sie trugen Maschinenpistolen quer vor der Brust, weiße Gürtel und Riemen waren auffällig. Sie näherten sich der Gruppe laut Grölender. Alle wurden sofort still, nur die zwei mit den Flaschen johlten weiter. Beide wurden von den Uniformierten mitgenommen. Dann wurde es ruhig im Waggon. Lars schlief ein. Als er irgendwann aufwachte, fuhr der Zug bereits. Der Magen signalisierte Hunger. Ein gutes Zeichen der Besserung, dachte Lars und aß eine Stulle. Am Fenster huschten Bäume, Felder, Straßen, Fabriken und Gärten vorbei. Lars starrte ins Leere. Er sah seine Marlies immer kleiner werdend und winkend am Tor des Wehrkreiskommandos stehen. Plötzlich hatte er wieder den Kloß im Hals. Nun reiß dich mal ein bisschen zusammen, du Weichei, sagte er sich und nahm einen recht großen Bissen.

    Es war schon später Nachmittag. Lars hatte sich die Zugverbindungen von seinem Heimatort zum Dienstort schon angesehen. Keine zwei Stunden, das ging doch. Bloß wo fuhren sie denn jetzt lang, seit fast sieben Stunden. Lars schloss die Augen und schlief wieder ein. Wer weiß, dachte er, wann ich wieder mal solche Ruhe haben werde. In der Nacht gegen 22 Uhr hielt der Zug. Jemand forderte dazu auf, dass nun alle aussteigen sollten. Wieder wurden Namen verlesen und Nummern von LKWs zugeordnet. Es war kalt, die Sterne funkelten. Ein Nachtvogel glitt lautlos über die Wartenden hinweg. Gegen Mitternacht stand er dann vor dem Fähnrich mit den grauen Haaren.

    „Achtung! Richt euch!"

    Wolkenstein wurde aus seinen Gedanken gerissen.

    Alle warfen den Kopf nach rechts und versuchten eine gerade Linie zu bilden.

    „Rührt euch!"

    „Man, wie oft denn noch", flüsterte jemand von der linken Seite.

    „Wir stehen hier schon fast zwei Stunden. Weiß einer, wann es eigentlich losgehen soll", raunte ein anderer.

    „Mein Schädel drückt. Ich schmeiße gleich den Stahlhelm runter", machte ein anderer sich Luft.

    „Haltet durch Jungs, nachher gibt es Ausgang! Unser erster Ausgang!" Andre dachte wie immer positiv.

    „Wie spät ist es denn, ich hab meine Uhr vergessen", wollte ein anderer wissen.

    „Gleich elf", antwortete Lars. Er hatte gerade zur Uhr geschaut. Auch sein Helm drückte. Die Füße schmerzten vom Stehen.

    „Ick muß pissen, mein Hydrant fliecht gleich weg!" Krüger wankte von einem Bein auf das andere.

    „Mein Gott! Das hält doch kein Schwein aus! Wenn es um Zwölf losgeht, können wir wohl zufrieden sein." Lehmann war mittlerweile auch ungeduldig.

    „Oder um eins. Um zwölf essen doch die Offiziere immer Mittag", kam es wieder von der linken Seite.

    „Da, rief einer aus dem dritten Zug, „da hinten schleppen sie einen zum Sanni!

    Alle drehten sich um. Drei Soldaten mit weißem Koppel und Schulterriemen trugen einen in Richtung Sanitätswagen, der offensichtlich ohnmächtig war. Gemurmel wurde laut.

    „Achtung! Augen gerade aus. Rührt euch!" Der zackige Stabsfeldwebel, seines Zeichen stellvertretender Zugführer, stand vor dem vierten Zug.

    „Das ist hier kein Kindergarten, Schwächlinge kippen eben um. Das kommt immer mal vor." Dabei richtete er seine Koppel, schaute rechts und links auf seine Schulterstücke und zog dann seine Handschuhe straff.

    „Die längste Zeit haben Sie hinter sich, reißen Sie sich also zusammen. In meinem Zug gibt es keine Schlappschwänze, verstanden! Stellen Sie sich auf das linke Bein, entlasten Sie so das rechte, heben Sie es leicht an, ohne vom Boden abzuheben. Halten Sie das so lange Sie können, dann wechseln."

    Lehmann antworte leise mit „jawohl", ansonsten nahm keiner weiter davon Kenntnis.

    Innerhalb der nächsten halben Stunde wurden weitere drei Soldaten zum Sanni gebracht.

    Dann ein Raunen über dem Appellplatz. Zivilisten in bunten Sachen sammelten sich in der Absperrung neben der Tribüne. Die eingeladenen Besucher kamen herein. Jeder Soldat reckte den Hals, um seine Verwandtschaft zu erspähen. Die bunte Menge wirkte komisch, störend, fremd. Nach so kurzer Zeit hatten sich die Jungs unmerklich von zivilen Dingen entfernt. Erst der Anblick der bunt gekleideten Menschen ließ sie das bewusst werden. Hier eine Frau im blauen Mantel, da ein Kind im roten Anorak. Aber schnell war das fremde Gefühl weg und jeder lebte auf, da hinten stand auch meine Familie. Endlich jemand, mit dem man offen reden konnte, jemand, der zuhören würde. Der bunte Anblick vermittelte ein gutes Gefühl. Außer für die, die keinen Besuch erwarteten und somit auch keinen Ausgang bekommen haben. Um acht müssen wir eh alle wieder in der Kaserne sein, aber immerhin, dachte Wolkenstein.

    Lars suchte vergeblich die bunte Menge nach Marlies ab. Hatte sie den Zug verpasst? War sie etwa krank geworden, schließlich ist seit fünf Tagen auch kein Brief mehr von ihr gekommen. Zweifel türmten sich zu einem Berg. Was konnte sie denn anhaben? Es waren gute hundert Meter Sichtweite und dort drüben wimmelte es nur so von Leuten. Man hörte Kinder lachen und schreien, was für fremde Töne? Ab und zu hob jemand die Hand, um zu winken, aber Marlies war es nicht.

    Nach und nach füllte sich die Absperrung, von Marlies keine Spur. Plötzlich war Musik zu hören, die Zugführer riefen Achtung, richteten nochmals ihre Züge und Kompanien aus. Auf der Tribüne fanden sich hohe Offiziere und Ehrengäste ein. Die Nationalhymne ertönte, der Fahneneid wurde vorgelesen, alle schworen, laut, im Chor. Als alles vorbei war, begann der Ausmarsch, vorbei an der Tribüne, vorbei an der Absperrung. Dort standen einige hundert Menschen. Wolkenstein lief links, die Tribüne und die Gäste standen rechts, er konnte nichts sehen. Gleich, dachte er, gleich werde ich es wissen, gleich, gleich gehe ich in den Ausgang. So hatte er sich nur als Kind am Heilig Abend gefreut, wenn er in der Küche mit der Oma wartete, bis der laut polternde Weihnachtsmann gegangen war und er endlich ins Wohnzimmer durfte, wo die Geschenke standen.

    Im Exerzierschritt ging es vorbei an den Offizieren und Ehrengästen, vorbei an den bunten Gästen.

    „Im Gleichschritt! Marsch!"

    Der Zugführer hatte den Exerzierschritt beendet, im normalen Gleichschritt ging es bis zum Block.

    Im Zimmer redeten alle durcheinander. Die Stahlhelme flogen auf die Betten. Jeder zerrte die Stiefel aus, wechselte die Hosen, zog die schwarzen Halbschuhe an und wartete.

    Der schrille Ton der sonst nervenden und gehassten Trillerpfeife wurde von allen sehnsüchtig erwartet. Stube dreizehn hatte komplett Ausgang. Lehmann ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt, er hatte wohl Angst, den Pfiff zu überhören. Krüger nickte ihm zu, vermutlich hatte er denselben Gedanken. Aber nichts rührte sich, obwohl sie schon mindestens fünf Minuten auf der Stube waren. Sonst muss doch immer alles so schnell gehen, dachte Lars, weshalb denn jetzt nicht.

    „Kick ma nach, watt da los is, Bodo. Dit kann doch wohl nich wahr sin. Krüger stand vor seinem Schrank und suchte seinen Kamm. Lehmann hatte sich als Stubenältester mit der Zeit daran gewöhnt, „Befehle von Krüger auszuführen, zumal sein Bett sowieso direkt neben der Tür stand.

    Lehmann drehte sich um und wollte gerade die Tür ganz öffnen, als plötzlich die Trillerpfeife ertönte. Nun riss er die Tür förmlich auf und war vermutlich der Erste, der draußen stand, noch bevor der Satz ertönte: „Mann vor die Tür!"

    Strahlend kehrt er zurück und verkündete: „Ausgänger raustreten in Ausgangsuniform in fünf Minuten", obwohl es sowieso jeder gehört hatte. Trotzdem wurden seine Worte von allen bejubelt, als würden sie die Nachricht zum ersten Mal vernehmen.

    Wolkenstein blickte auf seine Schulterstücke, ein kleiner gelber Balken war am unteren Ende zu sehen. Gelb für Nachrichten. Seit knapp einer Stunde waren sie nun Unteroffiziersschüler. Gestern Nachmittag in der Putz- und Flickstunde, beim Ändern der Schulterstücke kamen sie unweigerlich auf das Thema, weshalb sie sich für drei Jahre verpflichtet hatten.

    „Mir haben eijentlich alle abjeraten, sojar meen Alter. Krüger hielt kurz inne. „Aber bei de Musterung haben sie mir vasprochen, dass ick die fünf machen kann, wenn ick drei Jahre jehe. Denn kann ick den Bock selber fahren und muß nicht mehr wien Trottel danebensitzen. Krüger saß wie immer auf seinem Bett und trommelte dabei mit Bleistiften auf das Kissen. Lars blickte zu ihm hinüber, um zu sehen, ob er selber an das glaubt, was er da sagt. Er kannte nämlich einen aus seinem Betrieb, aus der Stanzerei, der innerhalb seiner drei Jahre nicht die zugesagte Fahrerlaubnis für LKW machen konnte. Für Krüger war das Thema abgeschlossen, es interessierte ihn scheinbar auch nicht, was die anderen zu sagen hatten, er trommelte weiter.

    „Ich habe das Abi mit eins gemacht und will Agrarwissenschaften studieren, es ist alles schon geregelt, sagte Lehmann und öffnete das Fenster. „In unserer Familie waren schon immer alle Bauern, schon seit Generationen. Stolz klang in seiner Stimme. „Mein Ururgroßvater hatte eine winzige Scholle und mein Vater Vorsitzender unserer LPG, da steh ich schon ein wenig in der Pflicht." Er atmete tief ein und schloss das Fenster wieder.

    Einen Augenblick lang war Ruhe im Zimmer, nur das leise Trommeln von Krüger war zu hören.

    „Und ihr?" Bodo blickte sich um..

    „In meinem Betrieb läuft alles irgendwie in fest eingefahrenen Bahnen. Immer derselbe Trott, keine Veränderung, bloß nichts Neues. Wenn man jemanden fragt, gibt es immer die gleiche Antwort: Das haben wir schon immer so gemacht und das bleibt so! Warum sollen wir was verändern, was sich bewährt hat?" Wolkenstein machte eine Pause, vor seinen Augen tauchte das lange Fließband in der Fertigungshalle auf.

    „Ich war dann beim Kaderfritzen und habe lange mit ihm gesprochen. Dabei stellte sich heraus, dass eigentlich eine neue Abteilung im Gespräch sei, eine Abteilung, die nach neuen Entwicklungsmöglichkeiten sucht, eine richtige Forschungsabteilung sozusagen. Noch nichts Spruchreifes eben, erst in Planung. Aber in fünf bis sechs Jahren würde es soweit sein und dann wären sicherlich Ingenieure gefragt. Das wäre genau mein Ding, sage ich ihm und er telefoniert, telefoniert und telefoniert. Komm nächste Woche wieder, sagt er dann. Ich natürlich hin. Die Forschungsabteilung sei wirklich in Planung. Drei Jahre Armeezeit wären ein erster Schritt zum Studienplatz, danach das Studium, alles zusammen würde es zeitlich gut mit der Planung hinkommen, meinte er und er werde mich an erster Stelle vormerken für ein Ingenieurstudium, Ingenieur für Versuchselektronik. Wolkenstein hielt inne. Er sah den dicken Kaderleiter hinter seinem Schreibtisch sitzen, Glatze, die Brille weit vorn auf der Nase, weil er sie nur zum Lesen brauchte. Er dachte an die langen Gespräche mit Marlies, an seine Zweifel, die aufkamen. Achtzehn Monate können lang sein, waren sechsunddreißig einfach nur doppelt so lang? Würde das einfache Vertrauen reichen oder wäre auch doppeltes Vertrauen nötig? Gab es überhaupt ein doppeltes Vertrauen? „Marlies und ich, wir, wir haben uns lange unterhalten und den Entschluss gemeinsam gefasst. Es klang nicht überzeugend aber ehrlich. Noch nie hatte er so darüber gesprochen. Vielleicht lag es daran, dass er hier unter Gleichgesinnten war.

    Alle außer Krüger und Lars hatten Abitur und wollten studieren. Der eine sogar Medizin. Nur Andre hatte sich nicht zu Wort gemeldet. Er stand regungslos am Fenster

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1