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Der Hafen meiner Träume: Stralsund in den fünfziger Jahren
Der Hafen meiner Träume: Stralsund in den fünfziger Jahren
Der Hafen meiner Träume: Stralsund in den fünfziger Jahren
eBook244 Seiten3 Stunden

Der Hafen meiner Träume: Stralsund in den fünfziger Jahren

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Über dieses E-Book

In der alten Hansestadt Stralsund ist in den fünfziger Jahren auch die Zeit der "Halbstarken" angekommen, wenn auch in abgeschwächter Form und vom Staat argwöhnisch beobachtet, aber dennoch kaum übersehbar. Wir, die wir damals als Jugendliche Ernst genommen werden wollten, hatten andere Vorbilder als unsere Eltern, andere Vorstellungen vom Leben, von der Liebe und der Freiheit. Wir kippten alte, verstaubte Vorstellungen von Moral und Ethik einfach über Bord, damit die Erwachsenen provozierend. Wir gingen in Gruppen durch die Straßen, trafen uns auf dem Rummelplatz oder in der Milchbar, tanzten die neuen wilden Tänze, den Rock `Roll und den Twist, rauchten nicht mehr heimlich im Dunkeln, sondern an der nächsten Straßenecke, knutschten auf dem Bürgersteig ein Mädchen, trugen Röhrenjeans und schwarze Lederoljacken, Igelschnitt oder Schmalzlocke, hörten den aufpeitschenden Gesang von Bil Haley aus dem Kofferradio, gingen gesittet zur Schule und verwandelten uns in der Freizeit in Kopien der westlichen Idole. Wir waren eben noch jung, unerfahren, doch voller Hoffnung, dass es irgendwann mal wieder anders kommt. Wir, die Halbstarken vom Strelasund.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum6. Okt. 2014
ISBN9783847615163
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    Buchvorschau

    Der Hafen meiner Träume - Eberhard Schiel

    1. Kapitel: Zwischenstation

    Ein wunderschöner Tag im September des Jahres 1954. Wir packen unsere Koffer und ziehen in die Stralsunder Lambert-Steinwich-Straße. Mutti strahlt über das ganze Gesicht. Hier wollte sie schon immer mal wohnen. Wenn sie früher mich früher an die Hand nahm und wir beide vom Hühnerberg über die Fährhofstraße in das Bürgermeister-Viertel einbogen, um dann gemeinsam weiter über den Weidendamm in die Stadt zu gehen, sagte sie, wie herrlich leben die Leute hier! Die haben sogar alle einen Vorgarten, und hinter dem Haus eine Terrasse und noch einen Gemüsegarten, und wir? Wir hausen seit Jahren in einem jämmerlichen Katen. Wann hört das endlich auf! Ab heute soll es nun alles anders werden. Wir steigen in eine höhere Liga auf, vergessen die Vergangenheit, und freuen uns auf die Zukunft, denn die Wohnung ist ausbaufähig. Mein Gedächtnis noch nicht. Es klammert sich an die Vergangenheit, hat das Schlechte auf dem Hühnerberg fast schon wieder vergessen, denkt nur an die tollen Spiele und die wilden Streiche, die man dort erlebt hat. Mutti fragt, Bübi, was ist los mit Dir? Sieh mal, jetzt brauchst Du nicht mehr im Winter über den kalten Hof aufs Plumpsklo. Wir haben jetzt Wasser-Spülung, Toilette auf dem Flur, das ist doch prima, oder? Ein besserer Trost fällt ihr nicht ein. Mir ist flau im Magen. Ich suche die neue Sanitär-Technik auf. Da sitzt man nun, bilanziert, rechnet mit Plus und Minus, Soll und Haben, Vorteilen und Nachteilen, so als ob man gerade den Kaufmannsladen öffnen würde. Man sieht wieder die Bilder vom Hühnerberg vor sich, die Freunde Dieter und Häse, Herbert und Volker und Peter, und die kleine Freundin Helga, und Lindi. Dieter stakt auf Stelzen wie ein Riese durch die Zwergen-Landschaft des holprigen Hühnerbergs. Wir machen Theater, veranstalten Roller-Rennen, lassen die Kugeln aus Ton, Glas und Stahl ins Loch an der Häuserwand rollen, klettern auf die Bäume des Friedhofs, bauen Zelte, kämpfen gegen imaginäre Feinde, spielen Fußball, streiten und lieben, weinen und lachen, und alles auf kindliche Art. Die Sehnsucht wächst in mir nach dem freien, ungezügelten Leben auf dem Hühnerberg. Was hat dagegen die Lambert-Steinwich-Straße zu bieten? Gleichförmig aneinander gereihte Häuser aus Backstein, auf beiden Seiten. Wie mit der Schnur gezogen. Ein langweiliges Gelände, dazu völlig baumlos. Wer wohnt überhaupt in dieser Straße? Was sind das für Leute? Das interessiert mich schon. Ein Blick in Vaters Einwohner-Jahrbuch für 1937 gibt Auskunft, wer zu damaligem Zeitpunkt hier zu Hause war. Da hieß sie noch Hans-Rose-Straße. Hier sind sie, die kleinen und mittleren Beamten, der Justizangestellte Strötges, der Herr Postinspektor Albrecht, der Lehrer Knebusch, der Revisor Jenz, der Bankbeamte Nagel und der Kontrolleur Demmin, und wie sie sonst noch alle hießen. Für sie wurde das Gelände Mitte der 20-er Jahre aufbereitet, erst als Füllenwiese, dann Mülldeponie und ab 1926 Bauland. Einige der Erstbewohner sind noch in ihren alten Wohnungen anzutreffen. Man lernt sie bei der einen oder anderen Gelegenheit kennen, andere Hausbesitzer haben das Erbe der Väter angetreten. Auf jeden Fall stellen die Beamten immer noch das Gros der Bewohner dieser Straße. Komisch. Früher gehörten wir selbst zu diesem Menschenschlag, auf dem Hühnerberg wurden wir proletarisiert, und nun gerät der Rest meiner Familie wieder unter die Kleinbürger. Mir ist das gar nicht recht, auch überhaupt nicht lustig, von so viel strengen Leuten, von berufsmäßigen Kontrolleuren und Inspektoren umgeben zu sein. Man bildet sich ein, sie säßen hinter dem Fenster im dicken Rentnersessel und beobachten jeden deiner Schritte. Die Pensionäre haben doch sicher Langeweile, schielen gar mit großen Radaraugen in unsere Stube, was wir da so anstellen, wer weiß? Ich bin auf jeden Bürger dieses sorgfältig erbauten Backstein-Viertels erst einmal mißtrauisch eingestellt. Doch ohne Freunde geht es nun mal nicht. Man muß, völlig ungewohnt, Kompromisse machen. Also, junge Burschen von 13 Jahren, wo seid ihr? Fehlanzeige. Keine zu entdecken. Da fängt es schon an. Die Suche wird auf Eis gelegt. Beginnen wir bei unseren Wirtsleuten. Herr Leewe ist 1. Verkäufer bei Sack-Lange gewesen. Jetzt genießt er den Ruhestand. Ein ruhiger, friedfertiger Mensch. Er erzählt gern von seinen Erlebnissen aus dem Ersten Weltkrieg, wenn seine Frau in der Küche zu tun hat. Sonst steht er gewöhnlich unter der Fuchtel seiner Frau, wie Mutter es ausdrückt, aber ist sie außer seiner Reichweite, dann fängt er an zu erzählen. Ich höre ihm gerne zu. Er kann so wunderbar erzählen. Heute steht die Geschichte mit der ersten Patrouille auf seinem Programm:

    Ich habe den Weltkrieg an der Westfront mitgemacht. Eigentlich hatte ich mir geschworen nie eine Waffe in die Hand zu nehmen, aber als unser Kaiser diesen Krieg für unvermeidlich hielt, die Geistlichen ihn segneten und die Freiwilligen Hurra! schrien, da bin auch gern ins Feld gezogen. Was galt denn in dieser bewegenden Zeit noch ein Zivilist. Man wäre als Feigling abgestempelt worden. Und das wollte ich auf keinen Fall sein. Nun, ich gehörte einer Spezialeinheit an, war in Koblenz als Abhörfunker ausgebildet worden. Später lagen wir an der Westfront, in der Nähe von St. Quentin. Bisher hatte mich der Tod nur einmal kurz gestreift, als ich in der Stadt aus einem Bücherladen kam und plötzlich Granatfeuer einsetzte. Der Tod grüßte mich und ich grüßte zurück. Das war es. Danach alles wie bisher. Ein Tag glich dem anderen. Eine gewisse Eintönigkeit machte sich breit. Wir vertrieben uns die Langeweile, so gut es eben im Stellungskrieg ging. Ich fertigte einen Kalender an, Bilderrahmen aus Pappe, Lichtschalter aus Draht. Sogar ein dreibeiniges Gestell für einen Topf zum Aufwärmen des Kaffees. Ja, selbst ein Kaffeesieb aus Konservendosen, und ein Dame-und Mühlespiel. Und dann schrieb ich fast jeden Tag einen oder mehrere Briefe, an zu Hause, und an die Freunde, die im Osten standen, an meinen Verein. So vergingen die Tage. Man glaubte schon, der Krieg hätte uns vergessen. Dann kam die Angst wie ein schleichendes Gespenst auf mich zu. Ich kehrte gerade von einem Gang durchs Dorf zur Kompagnie zurück. Es war Abenddämmerung. Alles schien wieder so hübsch ruhig zu werden. Ich freute mich schon auf einen flotten Skatabend mit meinen Kameraden. Da lief mir unser Kompanieführer Maier über den Weg. Er musterte mich mit einem geringschätzigen Blick, fragte mit arroganter Stimme: Leewe, trauen Sie sich zu, heute Nacht auf Patrouille zu gehen? Aber sicher ist das nichts für Sie. Sie sind doch Schneider von Beruf. Da haben Sie gleich die Hosen voll, waa? Er lachte über seinen billigen Witz. Ich hätte ihm am liebsten eine Ohrfeige verpaßt. Statt dessen salutierte ich vor meinem Vorgesetzten. Ich meldete: Soldat Leewe für Patrouille bereit, Herr Leutnant! Leutnant Maier machte ein verdutztes Gesicht. Er sagte: Leewe, Sie gehen auf Patrouille? Also, gut, nehmen Sie Müller und Schneider mit. Der Tommy macht uns Kummer. Er ballert mit seiner Artillerie wie verrückt. Soll auch in unserem Abschnitt irgendwo auf der Lauer liegen. Kundschaften Sie das aus! Ich fragte: Kann ich noch kurz eine Abschiedskarte an meine Mutter schreiben, falls..." Leutnant Maier genehmigte mir zehn Minuten. Ich setzte mich hin und schrieb sinngemäß:

    Liebes Mütterchen! Trotzdem ich sonst Gegner des Freiwillig melden gewesen bin, habe ich mich doch entschlossen heute eine Patrouille mitzumachen. Ich sage mir, wenn mir eine Kugel bestimmt ist, dann ist es ja ganz gleich, wann ich sie erhalte. Hat der Herrgott die Absicht, mich nach dem Kriege gesund heimzuführen, dann kann ich heute Abend auch ruhig mitgehen. Einer muß ja doch mit, und bisher habe ich immer gekniffen. Da ich ja nicht weiß, was mir bevorsteht, will ich noch einige Zeilen schreiben. Wenn ich fallen sollte, was Gott verhüten möge, klage nicht um mich. Du hast ja noch vier Kinder, denen Du Dich um so mehr widmen kannst. Ich gehe gefaßt nach vorn. Wenn ich fallen sollte, und dies ist möglich, laßt mich in die Heimat überführen. Es wird Euch selbst sehr lieb sein, wenn ihr mein Grab pflegen könnt. Mein Sparkassenbuch liegt noch auf der Kasse. Die 200 Mark habe ich mit Sammeln von Messing, Kupfer und Munition verdient. Dies Geld ist die Grundlage für die Kosten der Überführung. Wenn ich in Gefangenschaft gerate, danket Gott, daß er mich gnädig beschützt.

    Ich hatte gerade den Schlußpunkt unter den theatralischen Brief gesetzt, da klopfte mir Wachtmeister Grünberg auf die Schulter. Er sagte: So, Leewe, los komm, es ist soweit. Ich kroch aus dem Unterstand. Draußen war die Luft frisch, und der Mond blinzelte mich durch eine dicke Wolke an. Ich besprach die Patrouille mit Grünberg und Kotte. Unterdessen ging der Mond unter. Einer unserer Posten machte: Psst! Da vorn hat sich was bewegt. Ich sah scharf in die Richtung und glaubte etwas Dunkles wahrzunehmen. Der Tommy etwa? Wir krochen, das Gewehr bereit, sehr vorsichtig aus dem Graben. Das Schwarze wurde deutlicher, aber auffallend dünn. So dünn können selbst die Tommys nicht sein, dachte ich. Es handelte sich um einen Holzpfahl. Wir mußten uns halblinks halten. Wir traten leise auf. Das Gras war feucht und raschelte nur ein wenig. Nur keine schlenkernden Bewegungen machen, flüsterte Kotte. Dann entdecken Sie uns. Wir gingen weiter. Den oberen Rand des Waldes sah ich schon deutlicher gegen den Himmel. Deshalb duckte ich mich langsam und kroch dann auf allen Vieren. Dort schien etwas zu sein. Das Ding vor mir war zu niedrig für einen Soldaten. Ich war auf zwei Schritt heran. Es war sehr dunkel. Ich griff zu. Hatte eine Schlafdecke mit einem Tornister darunter erwischt. Mitten in die Stille hinein ratterte plötzlich ein Maschinengewehr. Dann ein zweites, ein drittes. Wir gerieten unter Beschuß. Wachtmeister Grünberg und Unteroffizier Kotte krochen in ein Granatloch. Ich ging zurück, gelangte zu weit nach links, kam vor ein Stacheldraht-Verhau, rief unsere Parole, schrie in die Nacht hinein: Dünaburg! Die Antwort überraschte mich. Jemand fragte: Who are you? Ääh, der Tommy? Ich antwortete spontan: Oh, oh, und lief so schnell mich meine Beine tragen konnten. Die nachgesandten Kugeln verfehlten ihr Ziel, man hatte das Objekt zu hoch im Visier angesetzt. Schießen können die auch nicht, murmelte ich vor mich hin. Aber wo waren meine Kameraden abgeblieben? Ich irrte weiter durch den dunklen Wald, suchte hier, und suchte da, stolperte und fluchte, kam noch zweimal zwischen beide englischen Verhaue, wurde wieder befeuert, meine Brille ging verloren, die Hose war zerrissen, die Uniform über und über mit Lehm verschmiert, und zu guter Letzt hätten meine eigenen Landsleute um ein Haar noch zur Begrüßung eine Handgranate auf mich geworfen, doch dieses Mal stimmte die Parole: Dünaburg. Am nächsten Tag erhielt ich das E.K. I, wegen besonderer Tapferkeit vor dem Feind. Ich stand mit Stolz erfüllter Brust vor meinem Leutnant. Er heftete mir den Orden an die Uniform. Gut gemacht, knirschte er durch die Zähne. Auch mein Kamerad Müller klopfte mir auf die Schulter. Alle waren so nett zu mir. Ach ja, und das muß ich Euch auch noch erzählen, fuhr Her Leewe fort.

    Doch dazu kam er nicht mehr. Es klopfte an unsere Wohnungstür. Frau Leewe stand im Türpfosten, stemmte die dicken Hände wie ein Korporal in die Hüften und zischte: Erzählst Du wieder Deine ollen Kamellen aus dem Ersten Weltkrieg. Hör auf damit. Das interessiert Frau Schiel doch gar nicht. Komm lieber mal mit in den Keller und repariere den Lichtschalter. Ich hocke da mit der Taschenlampe, und Du, Du spielst hier oben den Helden! Oh, mit Frau Leewe war kein gutes Kirschen essen. Ihr Mann wagte nicht zu sagen: Na, dann bis zum nächsten Mal! Mit allen hatte er seinen Frieden geschlossen, nur mit seiner eigenen Frau ging das nicht. Aber das waren nur so seine Gedanken im verborgenen Winkel der Gefühle. Wieder auf dem Boden der Tatsachen stehend, gibt er uns artig die Hand, geht folgsam in den Keller und werkelt dort ein wenig herum, um sich abzulenken. Dafür übernimmt nun Frau Leewe in unserer Stube das Kommando. Sie erteilt meiner Mutter die Order, wann sie bei ihr in der Küche kochen darf und wann nicht, wo die Wäsche aufzuhängen ist, wie lange Besuch empfangen werden kann, und dergleichen. Ein Wort reibt sich am anderen. Mutter ist auch nicht auf den Kopf gefallen, hat Haare auf den Zähnen, und so wird der Krieg, den Herr Leewe gerade abrupt beenden mußte, nun unter Frauen mit anderen Mitteln fortgesetzt. Und mein Bruder, in Gedanken ganz wo anders, greift in diesem Wortgefecht Mutter nicht unter die Arme, so daß Frau Leewe triumphierend sagen kann: Noch bestimme immer noch ich, was in meinem Haus geschieht! Mit diesen gewaltigen Worten knallt sie die Tür zu. Die dicke Luft droht nun über uns Brüder zu kommen. Mutti, in ihrer Rage, sagte eine Vokabel in falschem Englisch. Wölfi verbessert sie. Das ist zu viel. Ring frei zur ersten Runde! Meine Heimerzieherin tritt kampfentschlossen in den Ring. Warum sie ausgerechnet gegen einen gestandenen Boxer antreten will, ist mir schleierhaft. Jedenfalls rennt sie an unserem kantigen Tisch hinter Wölfi her, um ihn zu versohlen. Er geht mit 20 Jahren an den Start, Mutter zählt 52 Lenze. Ein ungleiches Duell. Beinahe hätte sie den jungen Boxer doch erwischt, aber ich werfe mich dazwischen. Die Ohrfeige, die mich nur streift, hat eher moralischen Wert als daß sie als körperliche Strafe verstanden werden kann. Frau Schiel sinkt stöhnend in ihren Lehnstuhl. Der Angriff hat sie völlig erschöpft. Ihr bleibt die Puste weg, sie ist in einem bemitleidenswerten Zustand. Trotzdem muß Muttis ungebührliches Verhalten gegenüber meinem leiblichen Bruder bestraft werden. Ich denke mir eine empfindliche Rache aus. Wie wäre es, wenn man sie durch eine künstlich erzeugte Erkältung in Unruhe versetzen würde. Ich lege mich trotzig zu Bett, mit dem Rücken zur kalten Außenwand, ziehe heimlich mein Nachthemd aus und wünsche mir eine Krankheit. Was darf`s denn sein? Etwa eine leichte Lungenentzündung oder eine schwere Grippe. Über die Erfüllung dieses Wunsches und deren Folgen noch ein wenig nachdenkend, schlafe ich ein. Am nächsten Morgen will ich unbedingt mit starken 40 Grad Fieber aufwachen. Es klappt nicht. Bei einer ersten Messung zeigt das Thermometer leider nur 37,2 Grad an. Ich bin ohne Befund. Die Bestrafung fällt aus, der Friede läßt nicht lange auf sich warten, wir amüsieren uns über unsere eigene Dummheit, die uns Frau Leewe eingebrockt hat. Mein Bruder scheint auch nicht nachtragend zu sein. Er ist nur sichtlich überrascht worden, als Mutti zu einem Mittel griff, welches sie nie zuvor angewandt hatte und auch in Zukunft nicht mehr anzuwenden gedenkt. Zum äußeren Zeichen eines befriedeten Familienlebens gehört bei uns immer ein Gesellschaftsspiel. Sonst spielten wir meist Mensch-Ärger-Dich-Nicht, aber zu meinem 12. Geburtstag hatte ich ein neues Würfelspiel erhalten, das erst seit kurzem in den Handel gekommen war. Es heißt:Gute Fahrt durch unser deutsches Vaterland! Jeder Teilnehmer nimmt sich einen Kleinwagen aus Plaste, ohne Motor, und setzt ihn an den Start, zur Fahrt von Berlin nach München. Dann wird gewürfelt, wie beim Menschi, und entsprechend der Zahl rückt der rote, gelbe, blaue oder rote Wagen einige Felder vor. Herrlich, wir haben zwar nur sehr entfernte Verwandte im Westen, die uns auch nie einladen, aber nun lernen wir, ohne Fernsehen, doch noch den anderen Teil Deutschlands kennen. Mutti führt das Rennen an, dicht gefolgt von Schwester Inge. Mein Bruder hat gleich Schwierigkeiten am Start. Zu allem Unglück gerät er bald auf das Sonderfeld 49: Dresden, berühmte Stadt an der Elbe (Zwinger). Nimmt einen Tag freiwillig am Wiederaufbau der Stadt teil. Zweimal aussetzen! - Er schmunzelt. Ich weiß, warum. Vor etlichen Wochen hat er in Prerow als Betreuer des Pionierzeltlagers Kim Ir Sen eine fesches Mädel aus Dresden kennengelernt. Sie schreiben sich schon, machen Pläne für die Zukunft. Wahrscheinlich wird er nach dem Studium dort hinziehen, wie ich der Korrespondenz entnehme. Ein Foto von Christine habe ich auch entdeckt. Sie sieht aus wie Lieselotte Pulver in dem Film Ich denke oft an Pirotschka. Mutti darf anscheinend noch nichts von Wölfis erster Liebe erfahren. Sie ist nicht eingeweiht worden. Das ist auch gut so, sonst glaubt sie womöglich noch, die Dresdnerin will ihr den besten Kader in unserer Familie wegschnappen. Jedenfalls wird Mutter aus seinem geheimnisvollem Lächeln nicht schlau. Während mein Bruder also aus gutem Grund gerne aussetzt, um am Wiederaufbau seines zukünftigen Wohnsitzes teilzunehmen, fahre ich wie ein Ausweisfahrer im mittleren Abschnitt des Feldes mit. Dann ändert sich das Bild. Der Große wird schneller, Inge fällt zurück. Wir liegen jetzt Heck an Heck. Mutti sieht ihre Verfolger schon im Rückspiegel. Sie dreht noch einmal auf, volle Pulle, will unbedingt als Erste über die Zonengrenze, ist schon in Bayern, und da passiert es. Sie würfelt eine Sechs, muß ihr Auto auf das Sonderfeld 54 schieben, wo geschrieben steht: Hof, hat zu viel Kulmbacher Bier getrunken und darf nicht weiterfahren. (Alkoholverbot für Kraftfahrer) Mutti schimpft wie ein Rohrspatz. Sie sagt: So ein Quatsch, ich trinke überhaupt keinen Alkohol, schon gar kein Bier, höchstens mal ein Gläschen Wein, aber das ist auch schon alles. Und da kommen die Bayern mir mit solch einem Vorwurf. Oh, unsere Mutter ist in Harnisch. Wölfi versucht sie zu besänftigen, bloß nicht schon wieder einen Streit vom Zaune brechen. Er erklärt ihr die Verkehrsregeln, obwohl er passionierter Fußgänger ist und nie, auch nicht eine Sekunde lang, ein fremdes Fahrzeug in Gang gebracht hat. Er ist eben ein Theoretiker. Er meint: Muttchen, die Regeln haben nicht wir erfunden. Die sind hier so, das ist auch nur ein Spiel, wir können dich nicht weiter in der Spur lassen. Du mußt ausscheiden. Halb sieht Mutti das ein, wagt dennoch einen letzten Einwand. Sie sagt: Na, schön, wenn ihr nicht mehr mit mir spielen wollt, bitte schön, aber eines begreife, wer will. Warum werde ich ausgerechnet durch das Kulmbacher Bier rausgeworfen. Mir wäre ein Stralsunder Bier lieber gewesen. Da schalte ich mich ein: Ja, denkst Du im Ernst, Mutti, die Bayern trinken unsere Brühe. Da haben selbst unsere Leute arg mit zu tun. Das schmeckt doch wie Jauche. Inge, die bisher ganz ruhig auf das Brett schaute, möchte nun auch einen Beitrag zur Diskussion leisten. Sie wendet ein: Wenn ihr nicht gleich weiter macht, ziehe ich meinen Mantel an und gehe nach Hause. Schwesterchen hat das nicht so gemeint. Sie hält nämlich den Würfel in der Hand. Ihr Gesicht läuft puterrot an. Da ist noch was zu machen, denkt sie. Und tatsächlich, am Ende gewinnt erneut unsere Inge. Das nervt. Immer gewinnt die große Schwester. Sie braucht bei der Aufbau-Lotterie, in der Ossenreyer, nur zwei Lose aus der Glastrommel nehmen, und räumt glatt den Hauptgewinn ab. Hier eben auch. Boshaft sage ich vor mich hin: Glück im Spiel, Pech in der Liebe. Das ist ganz schön gemein, aber gemeine Gedanken kommen irgendwann über jeden Menschen, behaupte ich mal. So, das Spiel ist aus, der Sieger gekürt, nun schalten wir das Radio ein. Aus unserem alten Kasten ist nicht viel raus zu holen, aber die Konsum-Sender kriegen wir. Gemeinsam gehen wir auf Empfang. Da lacht der Bär, recht lustig. Eine Unterhaltungs-Sendung. Etwas Musik, ein paar Späße, und dann wieder Musik. Inge gefällt die Sendung. Sie sagt: Schade, doch es wird schon dunkel. Ich muß los. Immer, wenn es bei Euch gemütlich wird, dann ist die Zeit rum. Ja, sie hat kein eigenes Radio, und niemanden, mit dem sie sich ärgern kann beim Gesellschaftsspiel. Darum besucht sie uns häufig. Ist ja nur ein kurzer Weg bis zur Karl-Marx-Straße.

    2. Kapitel: Die neue Bleibe

    Ja, das Intermezzo in der Lambert-Steinwich-Straße Nr. 15 ist schnell zu Ende. Etwa nach einem dreiviertel Jahr ziehen wir in die gegenüberliegende Nr. 6. Im zweiten Stock gibt es zwei kleine

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