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Das Märchen von Eden: Ein Forschungsbericht über das Bewältigen von Krisen
Das Märchen von Eden: Ein Forschungsbericht über das Bewältigen von Krisen
Das Märchen von Eden: Ein Forschungsbericht über das Bewältigen von Krisen
eBook375 Seiten10 Stunden

Das Märchen von Eden: Ein Forschungsbericht über das Bewältigen von Krisen

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Über dieses E-Book

Frühjahr 1994 auf einer kleinen Kanareninsel: Der Berliner Arzt und Wörterbuchautor Christoph Zink hat in seiner zweiten Heimat die Theologin Hildegunde Wöller zu Besuch, die langjährige Lektorin seines Vaters, des Pfarrers und Publizisten Jörg Zink. Seit einigen Jahren ist er gesundheitlich angeschlagen und schreibt nur noch für sich selbst, um eine Krise verstehen und bewältigen zu lernen, von der er festgestellt hat, dass sie der Krise seiner Insel und der globalen Krise der Erde sehr ähnlich ist. In einem Gespräch mit dem Vater war er zufällig auf den uralten Eden-Mythos aufmerksam geworden und hat seine überraschenden Funde nun in einem kurzen Text erklärt. Seine Besucherin liest das Manuskript, findet es interessant, aber zu allgemein, und schickt ihn zurück an den Schreibtisch: "Zeigen Sie auch die Bilder, aus denen Sie lernen!"

Der in den Folgejahren entstandene Forschungsbericht ist ein Bericht im doppelten Sinn: Zum einen schildert er – wie ein Tagebuch – diesen Besuch und die in acht Tagen geführten Gespräche. Zum anderen dokumentiert er – wie ein Zettelkasten – die Ergebnisse der Beobachtung eigener und zahlreicher fremder Krisen in den 1980er- und 1990er-Jahren.

Der Autor hat in der alten Erzählung über die Anfänge der Menschen auf ihrer Erde bildhafte Festlegungen gefunden für Denkgewohnheiten, die bis heute allgemein gelten und die nach seiner Erfahrung das Bewältigen von Krisen erschweren. Sein Ergebnis stellt viele als "logisch" und "richtig" betrachtete Denkweisen infrage und empfiehlt, in Krisen den alten Vorgaben nicht mehr zu folgen. Das Buch zeigt dies in persönlichen Beispielen und macht Mut, die Krisen des heutigen Lebens durch ein bewussteres Denken zu wenden. Es begründet die Erwartung, dass sich in den westlich geprägten Gesellschaften unserer Zeit das Bewusstsein umfassend verändern wird.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum11. Nov. 2008
ISBN9783864740718
Das Märchen von Eden: Ein Forschungsbericht über das Bewältigen von Krisen

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    Buchvorschau

    Das Märchen von Eden - Christoph Zink

    1320–1388

    VIELFACHEN DANK

    Dank an Andreas, der mich begleitet, denn ohne ihn hätte ich dieses Buch wohl kaum zu Ende schreiben können.

    Dank an Jörg, Hans-Joachim und Theo, denn sie haben mir geholfen, die hier erzählten Geschichten zu finden.

    Dank an Martin, Hubert, Andrew, Martin, Hans-Jürgen, Helmut, Andreas, Lutz-Olaf, Hans-Peter, Jürgen, Alfons, Ramón, Lutz, Lutz, Rolf, Tanausú, Daniel und Daniel, denn sie alle sind für mich „Er" gewesen.

    Dank an Heidi und Hildegunde, denn sie sind „Sie" in meinem Bericht.

    ZU DIESEM BUCH

    Der vorliegende Forschungsbericht ist ein Bericht im doppelten Sinn: Zum einen dokumentiert er – wie ein Tagebuch – fast ohne literarische Ergänzung den Verlauf von acht Tagen, die ich Mitte der 1990er Jahre erlebt habe. Und zum anderen fasst er – wie ein Zettelkasten – ganz ohne schmückendes Beiwerk Ergebnisse teilnehmender Beobachtungen während der 1980er und 1990er Jahre zusammen. Zugleich sind sämtliche Umstände, die ich beschreibe, nichts als Beispiele: zufällig gefundene Bilder aus einer überall ähnlichen Wirklichkeit.

    Eine erste Fassung des Berichts wurde schon 1995 abgeschlossen, es folgten mehrere weitere Versuche, ihn auch für andere lesbar zu machen. Erst eine allgemeine Zusammenfassung, die ich zum 90. Geburtstag meines Vaters Jörg Zink im Jahr 2012 schrieb (siehe www.joergzink90.de), ermutigte mich, den im Regal liegen gebliebenen Text noch einmal zu bearbeiten.

    Forschungsberichte sind naturgemäß eine spröde Lektüre und überfordern manchmal die Aufmerksamkeit, weil man beim ersten Lesen nicht weiß, wohin ein Gedankengang zielt. Orientierend können einzelne Kapitel gelesen werden:

    Der 1. Tag beschreibt Thema, Methode und Umstände des Berichts

    Der 4. Tag erklärt Vorgeschichte und Hintergrund

    Der 5. Tag erzählt Ausgangssituation und Zielvorstellung

    Der 8. Tag fasst Schlussfolgerungen und Perspektiven zusammen

    Christoph Zink, Berlin im Herbst 2012

    INHALT

    Der erste Tag – Ich bekomme Besuch

    Vom Benennen und Erklären der Wirklichkeit – von Sonderfällen und Beispielen: „digital und „analog

    1. Die Welt vor meinem Schreibtisch

    Wovon in diesem Buch die Rede sein wird

    2. Die Welt auf meinem Schreibtisch

    Wozu ich mir ein Bild meiner Welt beschreibe

    3. Die Welt in meinem Kopf

    Wie aus einzelnen Stücken ein Weltbild entsteht

    4. Welt der Zahlen, Welt der Bilder

    Wie im Denken Verstand und Gefühl zusammenwirken

    5. Ein anderer Mann

    Wer mit mir lernt

    6. Eine Frau

    Was ich für die kommenden Tage erhoffe

    Der zweite Tag – Täler und Berge

    Von den vielen Seiten der Wirklichkeit – von Angst und Hoffnung – vom Achten auf Gegenbilder: das „komplementäre" Denken

    1. Eine Insel der Gegensätze?

    Wie ein Überblick entsteht

    2. Ein gespaltener Lebensraum

    Was einseitiges Betrachten bewirkt

    3. „Nun ist der Mensch geworden wie Wir!"

    Wie ein Bild das Denken in Zahlen zur Regel erklärt

    4. Die Trennungen unter den Menschen

    Welche Folgen das Denken in Zahlen hat

    5. Keine Chance für AIDS?

    Wie ich meine Bilder selbst bestimmen lernte

    6. Die Wirkung des gegenteiligen Bilds

    Wie man in Krisen den Überblick behält

    Der dritte Tag – Im Garten

    Von Pflanzen und Menschen – von Körper und Seele – vom Wechseln des Standpunkts: das „identifizierende" Denken

    1. Pflanzen, Tiere, Menschen

    Wie ein neuer gemeinsamer Raum entsteht

    2. Vom klaren Standpunkt

    Was Verständnis schafft und Gärtner verdächtig macht

    3. „Eva war’s, die Schlange war’s!"

    Wie im Mythos erlaubt wird, Verantwortung weiterzugeben

    4. Von der Zuständigkeit

    Was aus beschränkter Verantwortung folgt

    5. Was Betroffenheit macht

    Wie ich einen eigenen Standpunkt brauchte

    6. Die Überraschung am anderen Ufer

    Wie man in Krisen den eigenen Platz erkennt

    Der vierte Tag – Nachmittag

    Von Problemen und wie man sie löst – von Hinweisen und wie sie wirken – vom Baum der Männer und deren Geschichten: die Spaltung des Denkens

    1. Ein Text wie ein einzelnes Beet

    Wie ich meine Fragen bisher bearbeitet habe

    2. Niemals zu Ende geschriebene Bücher

    Wie ich erst spät eine einfache Antwort fand

    3. Eine typische Männchengeschichte

    Wie die Männer ihre Frauen zum Schweigen brachten

    4. Das Denken im Dreitakt

    Wie das logische Denken sich stets beschleunigt

    Der fünfte Tag – Im Wald

    Von Bäumen, vom Feuer und von Büchern – vom Denken und seinen Fehlern – vom Baum der Frauen und den Geschichten des Großvaters: das Verdoppeln des Denkens

    1. Zwei ähnliche Bilder

    Warum das Handeln in Krisen sie oftmals verschärft

    2. Ein Gedankenprojekt

    Warum Wörterbücher immer schlimmere Stichwörter brauchen

    3. Weibergeschichten und Kindermärchen

    Warum Verstand und Gefühl zusammengehören

    4. Das Denken im Viertakt

    Warum sich das Denken verlangsamen wird

    Der sechste Tag – Neumond

    Von Frauen und Männern – von Leben und Tod – vom Verzicht auf den Sieg: das „zeitvermeidende" Denken

    1. Der Komposthaufen und die ewige Zeit

    Wie bei Pflanzen der Tod nur ein Neumond ist

    2. Die Angst vor dem Ende der eigenen Zeit

    Was für logisch denkende Menschen am Tod so schlimm ist

    3. „Der Chef hat’s gesagt!"

    Wie aus schlechtem Gewissen ein ewiger Auftrag erwuchs

    4. Die Regeln der Männer

    Welche Folgen der Auftrag zum Kämpfen hat

    5. Die Bedeutung des Augenblicks

    Warum ich meine Absichten selbst bestimmen sollte

    6. Die Erleichterung über die Freiheit der Wahl

    Wie man in Krisen neue Ziele findet

    Der siebte Tag – Zum Wasser

    Von der Erde und den Menschen – von Diesseits und Jenseits – von der Gestaltbarkeit der Erwartung: das „zuversichtliche" Denken

    1. Zwei Arten, das Wasser zu sehen

    Wozu die Begrenztheit der Chancen führt

    2. Das Wesentliche am zweideutigen Bild

    Was eine erfundene Fee bewirkt

    3. „Lebenslange Todesstrafe!"

    Wie Spaß und Glück im Leben nicht eingeplant sind

    4. Die Stimmung im Westen

    Welche Folgen das unerfreuliche Vorzeichen hat

    5. Krankdenken und Gesundbeten

    Warum ich meine Aussichten selbst bestimmen sollte

    6. Das Glück bestätigter Hoffnung

    Wie in Krisen ein gutes Ende wahrscheinlicher wird

    Der achte Tag – Es geht weiter

    Vom Gießen und vom Regen – von Wachstum und Wechsel – vom Traum der Raupe, einmal fliegen zu können

    1. Wie man macht, dass es regnet

    Was die Krise der Erde bessern könnte

    2. Ein neuer Plan

    Was meine Beispiele zeigen

    3. Ein neues Denken

    Wie alte Regeln verschwinden

    4. Die neuen Bilder

    Welche Folgen das Ende des alten Mythos hat

    5. Neue Menschen?

    Wie viel Er und ich noch zu lernen haben

    6. Regen!

    Wie alles gut wird

    DER ERSTE TAG – ICH BEKOMME BESUCH

    Vom Benennen und Erklären der Wirklichkeit – von Sonderfällen und Beispielen: „digital und „analog

    Wenn ich aufschaue vom Schreibtisch, liegt vor meinen Augen die Weite des Meeres. Blau und ruhig breitet das Wasser sich aus zur endlosen Fläche mit einem Horizont, der zu den Seiten hin deutlich gebogen erscheint: Die Erde ist eine Kugel. Ich kann mir gut vorstellen, wie es weitergeht, wo mein Blick sich in der Ferne verliert, herum um den Globus und auf der anderen Seite wieder herauf, und ich ahne, wie groß die Kugel ist. Überall, auf jedem Punkt ihrer Fläche, hat eine Kugel die gleiche Form: Immer kann ich den eigenen Platz als die Mitte betrachten.

    In meiner Mitte der Erde ist friedlicher Nachmittag. Es weht fast kein Wind, und das Rauschen der Brandung dringt herauf in mein Zimmer. Zurückgelehnt in den Sessel lasse ich das Bild auf mich wirken und stelle mir vor, wie die riesige Kugel sich dreht, gerade dorthin, wo ich schaue. Ich stelle mir vor, dass sie wie ein Kreisel die Sonne umläuft, einen Stern wie viele Milliarden anderer in einem Sternsystem, das wir Milchstraße nennen. So wird in meinen Gedanken allmählich der Platz am Tisch über dem Meer zum winzigen Punkt auf dem Planeten eines Sterns in einem von zahllosen Sternsystemen des Universums.

    Ich mache mir gern solche Gedanken. Manche mögen sie überflüssig finden, aber mir helfen sie, meinen Platz im Verhältnis zu seiner Umgebung zu spüren. Zugleich stört sich niemand daran, wenn ich sie mir heute Nachmittag mache. Ich habe nichts zu befürchten, kein Mensch wird mir widersprechen, während dies noch vor kaum vierhundert Jahren ganz anders gewesen wäre. Damals hätte ich eine solche Idee wohl selbst kaum vernünftig gefunden, und öffentlich vorgetragen hätte sie lebensgefährlich sein können, wie es das tragische Schicksal des Giordano Bruno eindrucksvoll zeigt. Der große Gelehrte und Philosoph bezahlte im Jahr 1600 am 17. Februar mit seinem Leben für Gedanken, wie ich sie mir jetzt in aller Ruhe im Sessel mache, denn die Vertreter der damals noch mächtigen römischen Kirche ließen den standhaften Mann, nach fast acht Jahren im Kerker und schrecklichen Foltern, schlussendlich verbrennen. Sie waren entsetzt über seine Gedanken, denn für sie galt ein anderes Bild von der Welt als wahr und als richtig: mit einer ruhenden kugelförmigen Erde im Zentrum, umkreist von sämtlichen anderen Himmelskörpern. Sie empfanden die Vorstellung, auf einer sich drehenden, fliegenden Erde zu sitzen, als äußerst bedrohlich für ihr Weltbild und Selbstverständnis.

    Der Justizmord verschaffte dem alten Bild von der Welt nur kurzen Aufschub, denn kaum ein Jahrhundert danach hielten fast alle Gelehrten das Weltbild des Giordano Bruno für richtig, und das war schon sehr ähnlich dem Bild, das ich nun ganz entspannt mir vorstellen kann: mit der Erde als einem von mehreren Himmelskörpern, die um eine Sonne kreisen, einen leuchtenden Stern wie noch viele andere mehr. Damals versetzte der neue Gedanke den Menschen offenbar einen heftigen Schock, denn rückblickend ist in fast allen Fragen eine grundlegende Änderung ihres Denkens zu erkennen: Das neue Weltbild hatte einen Wechsel zur Folge, den man heute nach Nikolaus Kopernikus, der es als erster Astronom zu beweisen versuchte, als die „kopernikanische Wende" im europäischen Denken bezeichnet.

    Die neue Betrachtung der Welt ergab dabei nicht nur ein neues Verhältnis der Erde zu ihrer Umgebung im Weltall, sondern zugleich ein grundsätzlich neues Selbstverständnis der Menschen und damit ein neues Verhältnis zur Erde. Es scheint aus heutiger Sicht, als ob die Gelehrten von damals erst unter dem neuen Blickwinkel es hätten wagen können, Naturwissenschaft zu betreiben, wie wir sie heute kennen: Nun begannen sie ganz systematisch, ihr einmal verstandenes Bild der Welt zu ergänzen durch immer genaueres Wissen über die Erde und das Leben auf ihr.

    Vom Schreibtisch aus habe ich vieles davon sehr anschaulich vor mir. Immer kann ich zum Beispiel den Kreislauf des Wassers verfolgen: wie er als zarter Dunst in der Ferne über dem Meer beginnt, sich unter der Wirkung der Sonne nach oben zu Wolken verdichtet und schließlich als Regen zurückkehrt zum Land und zum Ozean. Im Wasser ist das Leben entstanden, erst von dort aus besiedelte es das Land und die Luft, und nur in Verbindung mit Wasser kann es gedeihen. Mein Platz ist umgeben von Leben: Ich sehe Möwen am Himmel, auf dem Meer Schwärme springender Fische und manchmal Delphine, ich höre die Singvögel draußen, einen Hund nebenan und einen Frosch im Wasserrohr auf dem Balkon.

    Meine Mitte der Erde ist ein Berg im Atlantischen Ozean, und geradeaus vor meinem Tisch, hinter dem Horizont, liegt die afrikanische Küste. Morgens, wenn die Sonne sich dort aus dem Wasser erhebt, scheint der Kontinent manchmal ganz nah: Von dort, sagt heute die Wissenschaft, kommen wir Menschen. Dort hat unsere seltsame Tierart, wohl schon vor Millionen von Jahren, sich auf ihre Beine gestellt und wurde zum Wanderer, verließ das heimische Buschland und zog in fast alle Teile der Erde, durch Wälder und Wüsten, über Gewässer und Meere, bis in eisige Zonen und öde Höhen. Mein Berg im Ozean ist nur wenig entfernt vom Ursprung der langen Reise der Menschen durch ihre Welt. Weil er aber klein ist und einsam liegt, draußen im Meer, hat es lange gedauert, bis sie ihn fanden.

    Den Europäern wurde die Insel erst bekannt, als ihre Schiffe erlaubten, das seit der Antike gültige alte Weltbild zu prüfen, mutig hinauszusegeln auf die nach ihrer Meinung noch ruhende Kugel, um sich ein genaueres Bild von ihr zu verschaffen. Sie waren bewaffnet bis an die Zähne, und ihnen war zunächst lediglich daran gelegen, den Einflussbereich ihrer Herrscher zu erweitern und deren Reichtum nach Kräften zu mehren. Erst unter dem Vorzeichen des späteren, neuen Weltbilds wurde auch die nun als beweglich erkannte Erde im Ganzen zum Gegenstand des Interesses: Nun machten sich die Naturwissenschaftler furchtlos daran, wie zuvor die Soldaten in die Ferne zu segeln und jede einzelne Lebensform, die sie entdeckten, zu sammeln und möglichst genau zu beschreiben.

    Während die Forscher ihr Bild von der Welt durch immer neue Einzelheiten ergänzten, verstanden sie allmählich besser, dass es zwischen den einzelnen Teilen wichtige Wechselbeziehungen gab. Sie erkannten, wie an jeder einzelnen Stelle der Erde die Lebensumstände aufs Engste verbunden sind mit den dort lebenden Arten und wie überall erst die verschiedenen Arten gemeinsam den Lebensraum bilden. Diese wichtige Erkenntnis der damals noch jungen europäischen Wissenschaft kann ich leicht nachvollziehen, wenn ich aufstehe von meinem Tisch und hinaustrete auf den Balkon. Dann fällt mein Blick auf eine benachbarte Insel, einen breiten, nach oben hin steilen Kegel, der hoch aus dem Wasser ragt. Scharf geschnittene Täler und Berge bilden auf ihm ein gefaltetes Muster mit weißem Uferstreifen, darüber hellgrünen Wiesen und Feldern, dann dunkelgrünen bewaldeten Zonen, durchsetzt von roten Felsen und kahlen Flächen, und schließlich dem Gipfel, der noch bedeckt ist vom Schnee des gerade vergangenen Winters. Häuser und Dörfer sind nur in der unteren Hälfte als helle Ketten und Flecken zu sehen, der Wald reicht ein wenig weiter hinauf, und in der Höhe des oberen Drittels wächst kaum noch ein Baum. Als das Leben das Wasser verließ, fand es zum Gedeihen an Land nur einen schmalen Bereich, der je nach Umgebung nur einzelnen Arten zu leben erlaubt.

    Die enge Beziehung zwischen dem Leben und seiner Umgebung kann ich draußen mit Händen greifen, im Garten, der mein Haus umgibt und den Lebensraum bildet für viele hundert verschiedene Arten von Pflanzen und Tieren, denn dort bleibt kaum eine Stelle ungenutzt: Schlanke Palmen recken die kreisrunden Kronen weit nach oben hinaus, breite Akazien und andere Bäume mit zarten Blättern bilden dazwischen ein lichtes Dach, das Schatten und Windschutz bietet für die Bereiche darunter. Den Boden bedecken kriechende Pflanzen und blühende Polster, Stauden und Büsche wachsen darüber, Farne und Moose wurzeln in Ritzen der Mauern, Kletterpflanzen erklimmen die älteren Bäume, Flechten hängen von ihren Ästen.

    Wenn ich mich zwischen die Pflanzen im Garten setze, kann ich sehr einfach spüren, wie erst aus der Wechselwirkung verschiedener Lebensformen ein Raum zum Leben erwacht. Jede einzelne Pflanze braucht andere, um gut zu wachsen, die kleinen brauchen die großen, um in ihrem Schutz kräftig zu werden, und sorgen zugleich für lockeren, nahrhaften Boden, in dem den Wurzeln der großen Bäume nichts fehlt. Ganz ähnlich die Tiere: Auch Käfer und Würmer, Mücken und Schmetterlinge, Mäuse, Eidechsen, Singvögel, Falken und Eulen im Garten sind alle, in der einen oder anderen Weise, abhängig voneinander und aufeinander angewiesen. Ihre Vielfalt bleibt nur in ausgewogener Mischung erhalten, und gibt es dann genug Wasser, gedeiht Leben im Überfluss. Im Garten und auf der Insel ist leicht zu verstehen, wie der stete Kreislauf des Wassers ein buntes, blühendes, duftendes Leben erlaubt, das die riesige fliegende Kugel im Weltall umhüllt als zarter Schleier aus zahllosen Gleichgewichten.

    Ich lebe gern auf der Insel. Sie ist etwa so groß wie das frühere West-Berlin, und doch leben hier hundertmal weniger Menschen. Steil und unwegsam ragt sie weit aus dem Wasser empor, oben bewachsen von einem dichten, uralten Wald, wie es ihn auf der Erde fast nirgends mehr gibt. Sie ist ein besonders geeignetes Beispiel, um mir das Bild der Erde und des Lebens auf ihr vor Augen zu führen, wie es seit den Zeiten des Giordano Bruno allmählich entstand: Ein stetes und doch veränderliches, sich immer weiter entwickelndes Miteinander verschiedenster Lebensformen, das immer erstaunlicher, schöner und wunderbarer erscheint, je genauer die Wissenschaft es versteht. Eigentlich kann ich mich glücklich schätzen, am Leben auf dieser Insel teilzuhaben.

    Ich sage „eigentlich", denn die Wissenschaft brachte im Lauf ihrer Suche nach einem möglichst genauen Bild von der Erde auch düstere Fakten ans Licht. Vor allem im letzten halben Jahrhundert – etwa seit der Zeit, die mein eigenes Leben umfasst – hat sie sehr genaues Wissen darüber erworben, dass es im Verlauf der Geschichte der Erde auch zu Katastrophen kam, die das Leben vollständig veränderten. Je besser sie die Voraussetzungen für das Leben verstand, umso deutlicher wurde, dass alle Lebensformen, um zu überleben, jeweils bestimmte Bedingungen sehr genau erfüllt sehen müssen und doch viele sie heute immer seltener finden: Früher verbreitete Arten schwinden in atemberaubendem Tempo, die physikalischen Kreisläufe zeigen sich schwer gestört, sämtliche Lebensräume füllen sich an mit neuen chemischen Stoffen, und die zuvor fast verschwundene Strahlungsaktivität von Wasser, Luft und Erdoberfläche nimmt stetig zu.

    Heute muss niemand mehr einen Scheiterhaufen fürchten, wenn er für bewiesen hält, dass all dies für die Erde und das Leben auf ihr nicht folgenlos bleibt. Aber auch die Feststellungen der heutigen Wissenschaft führen, wie damals vor vierhundert Jahren, zu einem veränderten Bild von der Erde. Die entscheidende neue Erkenntnis ist nun die Verletzlichkeit ihrer Lebensräume, und sie anzuerkennen scheint ähnlich schwierig zu sein wie damals die untergeordnete Stellung der Erde gegenüber der Sonne. Vielleicht ist es dieses Mal sogar noch schwerer, denn damals erwuchs aus der neuen Betrachtung auch Freiheit zu neuen Taten, während das heute erkannte Bild verlangt, das menschliche Handeln als große Gefahr für die Erde und für die Menschen anzuerkennen.

    So ist es zwar nicht mehr verboten, ein neues, vorwiegend düsteres Bild einer sehr verletzlichen Erde zu malen, aber es hat auch kaum eine Wirkung. Zwar werden ständig neue Lösungsvorschläge für zahllose Einzelprobleme erfunden und heiß diskutiert, in kleinen Bereichen werden zum Teil erfolgreiche Lösungen gefunden und ausprobiert, aber dass dies die Entwicklung merklich beeinflusst, ist kaum zu hoffen. Es wird gestritten und Zeit verloren, die Schäden wachsen, und es besteht wenig Aussicht, dass rettende Vorschläge sich einmal durchsetzen könnten: Unabweisbar befindet sich heute das Leben der Erde, befinden wir alle uns mit ihr in einer tiefen Krise.

    Lebendig, vielfältig und schön, in stetem Wachstum und von empfindlichen Gleichgewichten bestimmt – und doch schwer erkrankt, erschreckend und traurig, aus den Fugen geraten, von vielerlei Toden bedroht: Das ist mein Bild der Welt vor dem Schreibtisch. Es passt gut zu dem, was ich schreibe, denn auch dabei geht es um eine Krise, die ich gerade erlebe.

    An einem Tisch sitzend zu schreiben ist eine Tätigkeit, die mich schon fast mein ganzes Leben begleitet. Zuerst hatte ich vor mir auf dem Tisch eine quietschende Tafel, dann ein Schulheft und schließlich einen Block, später verschiedene Arten von Schreibmaschinen und zuletzt allerlei Tastaturen. Aber am liebsten schreibe ich, wie heute Nachmittag, mit der Hand auf kariertem Papier.

    So unterschiedlich die Werkzeuge waren, blieb doch das Ziel des Schreibens in all den Jahren das gleiche: Ich schreibe vor allem, um etwas zu lernen. In Schule und Ausbildung ist das bei den meisten Menschen so, aber bei mir wurde daraus auch der Beruf, denn ich begann, medizinische Wörterbücher zu schreiben. Dazu war nicht mein vorhandenes Wissen als Arzt besonders gefragt, denn kein Arzt ist belesen genug, um Wörterbuchtexte auswendig zu schreiben. Sondern wie vorher war weiterhin nötig, etwas zu lernen und dann zu beschreiben: mir aus Büchern oder von Fachleuten immer das nötige Wissen erst zu beschaffen, es zu verstehen und dann etwas darüber aufzuschreiben.

    Das Aufschreiben verfolgt dabei einen doppelten Zweck. Zwar soll natürlich vor allem ein Text entstehen, eine Erklärung, die späteren Lesern das eigene Lernen erleichtert. Aber das Aufschreiben hilft auch mir selbst, um zu prüfen, ob ich mich ausreichend informiert, schon genügend gelernt habe. Das weiß ich, seit mir mein Vater sagte, als ich noch zur Grundschule ging: „Was man wirklich verstanden hat, kann man ganz einfach erklären." Diesen Gedanken finde ich seither sehr nützlich: Er hat mich zunächst erheblich beruhigt, denn er ließ vermuten, dass viele Leute, deren Erklärungen ich nicht verstand, vielleicht selbst nicht recht wussten, wovon sie sprachen. Später empfand ich ihn dann als sinnvolle Regel, um gegenüber eigenen Texten misstrauisch zu sein, wenn sie kompliziert zu sein schienen, und immer nach möglichst einfachen Sätzen zu suchen. Und heute ermutigt er mich, wenn ich beim Schreiben am Tisch über dem Meer immer einfachere Sätze finde: Vielleicht wächst ja, während ich schreibe, auch mein Verständnis, und ich lerne wieder einmal Neues dazu.

    Das wäre nötiger als je zuvor, denn heute verfasse ich keine Wörterbuchtexte, keinen Aufsatz, kein Buch, sondern ich arbeite an einem Forschungsprojekt zu einer sehr allgemeinen Frage: „Wie ist es möglich, in einer schwierigen Lage – in einer Krise – den Überblick zu behalten, sich weniger Sorgen zu machen und durch vernünftige Entscheidungen, vielleicht, die Krise zu bewältigen?"

    Es gibt einen sehr persönlichen Anlass für dieses Projekt: Vor einigen Jahren war klar geworden, dass mein Immunsystem sich in einem sehr schlechten Zustand befand und meine vermutlich kurze Zukunft vor allem durch die Viren namens HIV und eine bedrohliche Krankheit namens AIDS bestimmt sein würde. Damals probierte die Medizin erst ein einziges Medikament, um die Viren zu hemmen, Viele waren an AIDS schon gestorben, und ich musste mich fühlen, als hätte mir jemand gesagt: „Das war’s!" Es gab triftige Gründe, besorgt zu sein und wenig zu hoffen, und die meisten anderen stimmten mir zu: Eine Katastrophe schien eingetreten, mein früheres Leben mit einem Mal unwiederbringlich vorbei.

    Über die damals noch ziemlich neuen Viren und ihre Krankheit wusste ich ebenso wenig wie die anderen Ärzte, aber mein voraussichtlich kurzes restliches Leben bestand nun aus viel freier Zeit. Sie wollte ich nutzen, um zu überlegen, ob ich meine Lage auch anders als mit dem Wort „aussichtslos" würde beschreiben können. Dabei war klar, dass meine gewohnte Methode nicht helfen würde: Kein Buch war verfügbar, kein Experte erfahren genug, um mir eine Antwort zu geben, sondern das meiste, das ich las oder hörte, war eher geeignet, die Sorgen noch zu vergrößern. Ich musste eine eigene Antwort erdenken, hörte auf, in Büchern zu stöbern und zu diskutieren, und halte es seither mit Kurt Tucholsky, der im Spaß einmal meinte, das bisschen, das er lese, schreibe er sich am liebsten selbst. So sitze ich nun und schreibe mir selber etwas zum Lesen: zumindest, um den Überblick zu behalten; hoffentlich, um mir weniger Sorgen zu machen und mich richtiger zu entscheiden; und vielleicht, um so meine Krise besser zu bewältigen.

    Ich folge bei meinem Projekt keinem vorher erdachten Plan, sondern jeder Tag bringt etwas Neues, das ich mir beschreibe und überlege. In der Soziologie nennt man diese Methode eine „teilnehmende Beobachtung". Sie gilt als besonders geeignet, um Situationen zu erforschen, über die es in Büchern und bei Experten nur wenig gesichertes Wissen gibt. Der Forscher verhält sich wie ein Ethnologe, der fern aller Bücher und auf sich allein gestellt eine ihm zunächst unbekannte Kultur untersucht: Er nimmt teil am täglichen Leben, beobachtet seine Umgebung genau, fragt nach, um mehr zu begreifen, und verwendet dann all sein Wissen und sämtliche Sinne, um ein immer genaueres Bild der zu untersuchenden Situation zu erhalten.

    In teilnehmenden Beobachtungen besteht die wichtigste, tägliche Aufgabe des Forschers im Beschreiben, und seine Werkzeuge sind, wie bei mir, ein Stift und Papier: Zum einen protokolliert er möglichst genau, was er jeweils erlebt hat, und schaut also nach „außen; und zum anderen führt er ein Tagebuch und schreibt auf, wie es ihm selbst dabei ging, was er empfunden oder verstanden hat, er schaut also nach „innen. Dann verbindet er beide Blickrichtungen, um aus allem, was er erlebt und empfunden hat, allmählich genauer zu begreifen, was er untersucht. Früher haben nicht wenige Forscher diese Methode als unwissenschaftlich belächelt, aber inzwischen ist sie ziemlich verbreitet: Es hat sich gezeigt, dass der doppelte Blick auf schwierige Fragen – nach „außen und „innen zugleich – mitunter zu überraschend nützlichen Antworten führt.

    Die Stücke, die an meinem Schreibtisch entstehen, sind von Tag zu Tag ganz verschieden, und ich entscheide niemals sofort, wie „richtig und „wichtig sein könnte, was ich jeweils geschrieben habe. Natürlich merke ich manchmal, dass ich über Dinge schreibe, die andere viel besser wüssten, und manchmal frage ich mich, ob es nötig ist, auch vielleicht selbstverständliche Dinge noch einmal zu Papier zu bringen. Aber mir ist das einerlei, denn ich habe keine andere Wahl: Nur ich selbst kann mir den erhofften Überblick verschaffen, und erst wenn ich schreibe, komme ich damit voran. Erst wenn ein Gedanke notiert ist, entsteht Platz im Kopf für den nächsten, und erst auf dem Papier, als Wörter und Sätze geschrieben, kann ich entscheiden, ob ein Gedanke wohl stimmt und wie wichtig er ist für meine Fragestellung.

    Im Lauf der Jahre sind auf diese Weise viele Notizen entstanden: über meine Erlebnisse und meine Sorgen, über die Schwierigkeiten und die Erfolge im Umgehen mit meiner Situation. Kaum etwas davon war geeignet, gedruckt oder vorgelesen zu werden, aber mir hat das Schreiben geholfen: Nicht nur bekam ich allmählich einen besseren Überblick, sondern ich stellte auch fest, dass ich vieles, das mir über die eigene Lage bis dahin als gesichert erschien, auch ganz anders betrachten konnte. Ich fand heraus, dass gründliches Nachdenken meine Bewertung der Krise, und damit meine Sorgen, erheblich verändern konnte. Wenn ich meine Wirklichkeit – also alles, das auf mich einwirkt, sei es aus meiner Umgebung, aus meinem Körper oder meinem Gedächtnis – selbst neu beschrieb, begann sie sich zu verändern: Im Lauf der Zeit empfand ich sie als längst nicht mehr so aussichtslos und begann sie mir weniger Angst zu bereiten.

    Das könnte nach Selbstüberlistung klingen, ist aber ein Vorgang, den ich aus der Arbeit an Wörterbüchern gut kenne. Auch sie beschreiben einen Ausschnitt der Wirklichkeit, und bei ihnen bekommt jeder verzeichnete Sachverhalt eine Benennung – ein Stichwort im Alphabet – und dazu einen Text als Erklärung. Ein Vergleich verschiedener Wörterbücher zeigt aber rasch, dass sie manchmal den gleichen Sachverhalt ganz verschieden benennen und durchaus verschieden erklären, ohne dass einer der Texte falsch sein müsste. Und doch entsteht, je nach gewählter Beschreibung, im Kopf des Lesers ein ganz verschiedenes Bild der beschriebenen Wirklichkeit.

    Dieser Zusammenhang ist in der Welt der Märchen sehr schön beschrieben, denn die Geschichte vom Rumpelstilzchen erzählt von der Macht der korrekten Benennung: „Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß’!, singt da ein böser Zwerg abends im Wald, tanzt um sein Feuer und spottet über die Angst der Menschen. Er fühlt sich mächtig, solange ihn niemand bei seinem lachhaften Namen zu nennen vermag, und ist also dreist genug, den größten Schatz des Landes für sich zu fordern: das Kind der Prinzessin, die Zukunft. Die junge Mutter freilich gibt sich nicht geschlagen, lässt forschen, entdeckt das Geheimnis des Zwergs und stellt ihm die richtige Frage: „Heißt du vielleicht ... Rumpelstilzchen? Nur ein einziges Mal muss sie deutlich sprechen, schon ist es vorbei mit der Macht und der Angst, zornig zerreißt sich der Zwerg in zwei Stücke und wird von der Erde verschluckt: Der treffende Name bricht den Bann.

    Ein anderes Märchen erzählt von der Macht einer neuen Erklärung am Beispiel der angeblich „neuen Kleider der Kaisers: Zwei gerissene Gauner versprechen, dem Kaiser prächtige Kleider zu nähen, doch nur wer seines Amtes am Kaiserhof würdig sei, könne sie auch erkennen. Als der Kaiser dann ganz ungeniert wie ein haariger Säugling in seinen neuen „Gewändern vor den Ministern stolziert, traut keiner der wichtigen Männer den eigenen Augen: Jeder fürchtet, sich zu blamieren, schluckt lieber die falsche Erklärung und lobt die prächtigen Roben. Tagelang soll es gegangen sein, bis endlich ein Kind, als unbefangener Dritter, das peinliche Schauspiel richtig beschreibt: „Der Kaiser ist nackt!" Nun ist bestätigt, was jeder sich insgeheim dachte: Die nachvollziehbare neue Erklärung erledigt, einmal gegeben, die vorher für richtig gehaltenen Lügen.

    Für mich hat die Aussage beider Märchen sich klar bestätigt, denn während ich schrieb, lernte ich immer besser, durch neues Benennen von Rumpelstilzen und neues Erklären von nackten Kaisern zu einer veränderten Sicht meiner Krise zu kommen. Zugleich hatte ich großes Glück, denn mein Immunsystem wurde gesünder, und die später verfügbaren, wirksameren Medikamente brachten die Krankheit zum Stehen. Ich bekam neue Zeit, mein Projekt zu erweitern und viel allgemeiner zu fassen, und so geht es inzwischen, während ich schreibe, nur am Rande noch um die eigene Krankheit. Heute geht es zumeist um die in vielerlei Hinsicht ähnliche Krise der Erde, bei der man – nach allem, was heute die Wissenschaft weiß – längst ebenfalls sagen könnte: „Das war’s!"

    Wie ich aus Anlass der eigenen Krise begann, die Betrachtungen und die Bewertungen zu korrigieren, indem ich den ersten Eindruck, die erste Benennung und erste Erklärung nicht ungeprüft glaubte, so prüfe ich heute, viel allgemeiner, sämtliche Stücke des Bilds der Welt in meinem Kopf. Ich gehe vor, wie es Bertolt Brecht im Theater Galileo Galilei erklären lässt, den Astronomen und jüngeren Zeitgenossen des Giordano Bruno:

    „Ja, wir werden alles, alles noch einmal in Frage stellen. Und wir werden nicht mit Siebenmeilenstiefeln vorwärts gehen, sondern im Schneckentempo. Und was wir heute finden, werden wir morgen von der Tafel streichen und erst wieder anschreiben, wenn wir es noch einmal gefunden

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